© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
Die Einwanderungsfalle
von Frank Dietrich

In diesen Monaten sehen wir auf der politischen Bühne ein Drama, das mit allerhand taktischen Finessen inszeniert ist.
Das Generalthema "Sanierung des Generationenvertrages" wird von der Frage überlagert, ob und inwieweit der Bevölkerungsrückgang durch Einwanderung kompensiert werden soll. Als schrille Begleitmusik produzieren die Medien Schlagzeilen wie "Die Deutschen sterben aus" oder Fernsehsendungen mit dem Titel "Leeres Land". Die Arbeitgeber malen trotz der vier Millionen Arbeitslosen und den zu erwartenden Arbeitsemigranten aus den östlichen EU-Beitrittsländern einen dramatischen Arbeitskräftemangel an die Wand, und die Uno attestiert Deutschland einen Einwanderungsbedarf von 188 Millionen (!) Menschen in den nächsten 50 Jahren, wenn der Altersdurchschnitt der Bevölkerung stabil gehalten werden soll.

Um das Einwanderungsthema ins Rampenlicht zu bringen, ist es unerläßlich, das Publikum über die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung ins Bild zu setzen. Da zeigt sich nun in den Kulissen, daß vor rund 30 Jahren eine verheimlichte Revolution die demographischen Voraussetzungen unserer umlagefinanzierten Sozialsysteme zerstört hat.

Über Jahrtausende zeigte die Bevölkerungsstruktur das gleichbleibende Muster eines fast gleichschenkligen Dreiecks. Dabei gab es zwar in Zeiten von Krieg oder Massenepidemien, wie zum Beispiel der Pest, Einschnitte, die den Tannenbaum in manchen Jahrhunderten arg zerfleddert aussehen ließen, aber nach den Katastrophen stellte sich das ursprüngliche Muster immer wieder ein. Denn über Jahrtausende war die Familie die elementare Grundlage der Existenzsicherung. Man brauchte eine ausreichende Zahl von überlebenden Kindern, um im Alter oder bei Krankheit versorgt zu sein. Dabei war die durchschnittliche Lebenserwartung in 95 Prozent unserer Kulturgeschichte nur etwa 35 Jahre. Also eine grundlegend andere Situation als heute, wo manch Siebzigjähriger beleidigt reagiert, wenn man ihn zu den Alten zählt.

Das Bismarcksche Sozialversicherungsprinzip ging noch von der sicheren Grundlage aus, daß die unteren Äste des Bevölkerungsbaums, die Kinder- und Jugendjahrgänge, sehr viel breiter waren als die sich mit zunehmendem Alter verschlankenden Jahrgänge der Erwerbspersonen, oberhalb derer es nur noch eine kleine Spitze von Alten, also nur wenige Rentner und Pensionäre gab. Und so zeigt auch der Bevölkerungsaufbau um 1900 die Form einer gleichmäßig gewachsenen Tanne, nur mit einem kleinen Einschnitt bei den 30-bis 31jährigen infolge des Krieges von 1870/71. Gleichwohl hat schon Bismarck die Axt angelegt, denn nun begann der Prozeß, die familiären Fürsorgepflichten zu sozialisieren und das Existenzrisiko vom eigenen Nachwuchs zu entkoppeln.

Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg die großen umlagefinanzierten Sozialsysteme installiert wurden, wurde die familiäre Fürsorge als Existenzsicherung weitgehend durch ein großkollektives Umlagesystem ersetzt. Dabei bürdet der fiktive Generationenvertrag der mittleren Generation im Erwerbsalter auf, sowohl die Kosten für den Nachwuchs als auch die für die Versorgung der Alten zu erwirtschaften. Trotz kontinuierlich steigender Lebenserwartung und damit steigenden Alterskosten konnte die "Sandwichgeneration" dies über Jahrzehnte problemlos leisten, weil die Mehrkosten der Altenversorgung durch eine geringere Zahl zu versorgender Kinder und eine höhere Produktivität im Erwerbsprozeß kompensiert wurden.

Dies konnte so lange funktionieren, wie die Elterngeneration mit etwas mehr als durchschnittlich zwei Kindern für ihren eigenen Ersatz sorgte. Denn das zahlenmäßige Verhältnis zwischen dem Erwerbspersonenpotential und den beiden zu versorgenden Generationen darf sich nur soweit verschlechtern, wie dies mit dem Produktivitätsfortschritt kompensiert werden kann. Allerdings sind zu den steigenden Kosten für die Versorgung der Alten nun auch noch höhere Kosten für die Ausbildung der Jugend einzukalkulieren, denn die nachwachsende Generation muß ja später ein immer höheres Produktivitätsniveau realisieren. So testet der "Generationenvertrag" die Leistungsfähigkeit der Sandwichgeneration gnadenlos aus. Der elementaren Notwendigkeit, mehr Junge als Alte und mehr Gesunde als Kranke zu haben, konnte letztlich aber auch unser umlagefinanzierter Generationenvertrag so nicht entkommen. Denn im großkollektiven Umlagesystem spiegeln sich die familiären Versorgungsprinzipien früherer Epochen nur auf einer höheren Ebene. Dies wäre prinzipiell anders, wenn zum Beispiel die Altersversorgung aus einem angesparten Kapitalstock finanziert würde.

Nun hat aber vor rund 30 Jahren ein epochaler Wandel eingesetzt. Einerseits wurde mit der "Pille" Empfängnisverhütung wesentlich einfacher, andererseits vollzog sich ein grandioser Mentalitätswandel. Die Frau, die sich durch berufliche Karriere selbst verwirklicht, wurde zum gesellschaftlichen Leitbild. Die Folge ist eine demographische Implosion, wie sie die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat. Ohne Krieg, Hungersnot oder Massenepidemien ist in einer friedlich prosperierenden Gesellschaft innerhalb weniger Jahre, und das ist demographisch blitzartig, die Reproduktionsrate um ein Drittel gefallen. Seitdem hat sich die durchschnittliche Kinderzahl pro Elternpaar in etwa bei 1,3 bis 1,4 eingependelt. Das heißt aber, daß der mittleren Generation eine um ein Drittel kleinere nachfolgt. Ähnlich wie eine mehrstufige Rakete hat auch die demographische Implosion mehrere Schübe. Ein Drittel weniger Geborene seit Mitte der Siebziger bedeutet 25 Jahre später nun auch ein Drittel weniger gebärfähige Frauen, so daß die nächste Stufe im Bevölkerungsrückgang bereits gezündet ist. Läßt man diese Entwicklung über mehrere Generationen ablaufen, nähert sich das Bild der Bevölkerungsstruktur einer auf die Spitze gestellten Stufenpyramide. Sind die nachfolgenden Generationen kleiner als die vorangegangenen, so steigt das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung. Das rasante demographische Altern wird außerdem noch von der steigenden Lebenserwartung hochgetrieben. Die verbleibende Lebenserwartung der heute 60jährigen ist bereits um 50 Prozent höher als im vorigen Jahrhundert. Immer weniger Kindern stehen im Bevölkerungsaufbau immer mehr dazu auch noch immer älter werdende Alte gegenüber. Das natürliche Generationenverhältnis – mehr Junge als Alte – wird schleichend, aber revolutionär auf den Kopf gestellt. Damit droht der sogenannte Generationenvertrag wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage zu platzen. So zeichnet sich in der Bevölkerungsprognose für das Jahr 2050 eine Pilzform ab, bei der auf einem relativ schmalen Jugendsockel und einer noch etwas breitere Generation im Erwerbstätigenalter ein stattlicher Kopf von Alten lastet.

Da sich diese Entwicklung – übrigens nicht nur bei uns, sondern auch in Spanien, Italien und einigen anderen Industrieländern – schon seit einer Generation vollzieht, fragt man sich, wie dies so lange verdrängt werden konnte. Hat nicht noch vor wenigen Jahren Norbert Blüm entgegen aller Plädoyers für ein kapitalgedecktes Versicherungssystem die umlagefinanzierte Pflegeversicherung installiert, wohl wissend, daß dies langfristig finanziell nicht tragfähig ist? Angesichts dieses Generationenbetruges wäre er für die Rolle des bösen Buben prädestiniert, würde ihm da nicht sein Nachfolger Walter Riester Konkurrenz machen. Seine Rentenreform war schon Makulatur, bevor die Druckerschwärze im Bundesanzeiger trocken war. Denn auch die jüngste Rentenreform, die ja den Blümschen demographischen Faktor kassiert hat, geht von (vorsätzlich?) falschen Annahmen aus. So legt die Annahme, die Steigerung der Lebenserwartung würde sich deutlich verlangsamen, den Verdacht der Schönrechnerei nahe.

In einer Zeit, in der die Gentherapie gerade in den Kinderschuhen steckt, ist mit einer Verlangsamung des medizinischen Fortschritts nicht zu rechnen. Das heißt im Klartext, das Langlebigkeitsrisiko steigt, das heißt immer mehr Menschen erreichen bei uns ein sehr hohes Alter. War noch zu Kaisers Zeiten eine hundertjährige Person eine echte Sensation, deren Geburtstag mit Blasmusik und großem Tamtam gefeiert wurde, so werden zukünftig Tausende dieses Alter erreichen, für die dann allenfalls noch eine Glückwunschkarte des Bundespräsidenten organisiert wird. Auch die Berechnungsgrundlage auf der Einnahmeseite, bei der unterstellt wird, daß ab dem Jahr 2010 in Deutschland wieder Vollbeschäftigung herrscht, scheint übertrieben optimistisch, selbst wenn die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Chefsache in der SPD ist. Gerhard Schröder will ja seine politische Leistung am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen, nur scheint es auch ihm nicht zu gelingen, deutsche Arbeitslose zum Spargelstechen zu veranlassen. Bedenkt man die Mehrkosten des neuen Betriebsverfassungsgesetzes, den verschärften Kündigungsschutz, Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit u.s.w., verstärken sich die Zweifel, ob tatsächlich die Vollbeschäftigung erreichbar ist. Im übrigen täuscht die verlogene Rentendebatte darüber hinweg, daß die Beiträge schon heute weit über 30 Prozent betragen würden, würde man nicht 136 Milliarden Mark aus dem allgemeinen Steueraufkommen, erwirtschaftet im wesentlichen von den Erwerbspersonen, zuschießen. Dabei ist der Obolus, den die Autofahrer jedes Mal beim Tanken zugunsten der Rentenversicherung entrichten, nur noch ein weiterer Tropfen in ein leckgeschlagenes Faß. Nachdem nun die Familien- und Sozialpolitiker den epochalen Wandel im generativen Verhalten mehr als zwei Jahrzehnte sträflich ignoriert haben, soll es nun der leistungsstarke, zahlungskräftige Einwanderer als Deus ex machina bewerkstelligen, den notleidenden Generationenvertrag zu retten.

Würden tatsächlich Hunderttausende von jungen, gesunden, hochqualifizierten Einwanderern unser Erwerbspersonenpotential verstärken, könnte dies in Kombination mit weiteren Produktivitätssteigerungen und etwas mehr eigenem Nachwuchs durchaus die Umlagesysteme stabilisieren. Hinzukommen müßte allerdings noch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, das heißt Verkürzung der Schulzeit und der Studiendauer sowie das Heraufsetzen des Renteneintrittsalters.

"Wir brauchen mehr Einwanderer, die uns nützen, und weniger, die uns ausnützen." Die Parole des bayerischen Innenministers Günther Beckstein kennzeichnet die Richtung der Union. Damit wird eingeräumt, daß wir in den vergangenen Jahrzehnten reichlich Einwanderung hatten, die allerdings nicht geeignet war, das demographische Dilemma zu beseitigen. Per Saldo, also Zuzüge minus Fortzüge, hatten wir in den neunziger Jahren immerhin durchschnittlich rund 200.000 Zuwanderer pro Jahr. Daher sollte Schilys Diktum "Das Boot ist voll" – verkündet, kurz nachdem er zum Bundesinnenminister avanciert war – vielleicht nicht nur als Baldrian für konservative Genossen wirken.

Klassische Einwanderungsländer lassen nur die Einwanderer ins Land, die dem Einwanderungsland nützen. So gibt es Länder, in die Einwanderer eine erkleckliche Geldsumme mitbringen müssen. Anderswo ist man in den ersten Jahren grundsätzlich vom Bezug von Sozialleistungen ausgeschlossen, undwieder andere reagieren strikt auf die Bedürfnisse ihres Arbeitsmarktes. Auch die Selektion nach Alter und Gesundheitsstatus ist nicht ungewöhnlich. Denn Einwanderer nützen dem Aufnahmeland nur dann, wenn sie unmittelbar das Erwerbspersonenpotential verstärken und dadurch die Sandwichgeneration entlasten. Oder wenn sie finanziell so gut ausgestattet sind, daß sie das Steueraufkommen erhöhen, ohne die Sozialsysteme zu belasten.

In diesem Sinn ist Deutschland seit dem Gastarbeiter-Anwerbestopp von 1973 kein (klassisches) Einwanderungsland gewesen, eher das Gegenteil. Denn 70.000 Deutsche wandern jährlich aus. Die deutschen Auswanderer bestehen im wesentlichen aus zwei Gruppen: Finanziell gut situierte Rentner kaufen sich im Mittelmeerraum ein Haus und können dort bei günstigeren Lebenshaltungskosten mit ihrem aus Deutschland überwiesenen Altersruhegeld ihren Lebensabend bestreiten. Hochqualifizierte Jungakademiker wandern vorzugsweise in die USA aus, wo sie zu besseren Konditionen forschen und arbeiten können. Beide Gruppen nützen dem jeweiligen Aufnahmeland.

Dies kann man so von den Zuwanderern, die Deutschland im letzten Jahrzehnt aufgenommen hat, nicht behaupten. Denn die Quote der arbeitslos gemeldeten Ausländer ist doppelt so hoch wie die der angestammten Bevölkerung. Und bei der Sozialhilfe beziehen im proportionalen Vergleich zu den Deutschen dreimal so viele Personen ausländischer Herkunft Unterstützung. Von den 18- bis 24jährigen Sozialhilfe erhaltenden Männern sind gar 65 Prozent Ausländer, bei den 25- bis 50jährigen immerhin die Hälfte und auch bei den Sozialhilfe beziehenden Ehepaaren mit Kindern stellen die Ausländer die Mehrheit. Das bedeutet, daß die Zuwanderer zu einem erheblichen Teil nicht in den deutschen Arbeitsmarkt, sondern in unsere Sozialsysteme eingewandert sind.

Die Ursache liegt darin, daß die Einwanderung fast ausschließlich aus humanitären Erwägungen gestattet wurde, das heißt Familienzusammenführung und politisches Asyl. Die regierenden Gutmenschen handelten dabei zwar nach der Devise "Koste es, was es wolle", nur bekanntmachen wollte die Kosten denn doch keiner unserer sonst so mitteilungsbeflissenen Politiker. Aus der großen Koalition der Verschweiger scherte nur der SPD-Oberbürgermeister von Pforzheim, Joachim Becker, einmal aus, als er am 2. Juni 1996 in der Welt am Sonntag die Aufwendungen für Asylbewerber mit 35 Milliarden Mark pro Jahr bezifferte. Hier mag man einwenden: "Das macht doch nichts". Früher mußten die kleinen Leute den verschwenderischen Lebensstil ihrer Fürsten finanzieren, heute bezahlen wir eben viel Geld dafür, daß unsere politische Kaste ihr Gutmenschentum zelebriert. Nur sollte man dabei auch mögliche Weiterungen bedenken. Nach Angaben der Uno befinden sich 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Würde man die Aufnahme von Zuzüglern aus humanitären Gründen weiter liberalisieren, wie dies sowohl das Parteiprogramm von Bündnis 90/Die Grünen als auch der Richtlinienentwurf der EU-Kommission vorsieht, hätten wir mit ganz anderen Größenordnungen zu rechnen.

Rund 90 Prozent der Asylbewerber sind nicht politisch verfolgt und erhalten nach mehrjähriger Verfahrensdauer endgültig keinen Asylstatus. Es handelt sich in Wahrheit bei der großen Masse um Armutsflüchtlinge. Weltweit muß eine Milliarde Menschen mit weniger als 100 Mark monatlich ihr Leben fristen. Dies ist ein Bruchteil dessen, was die deutsche Sozialhilfe anzubieten hat. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Millionen von Bedürftigen einen Aufenthaltstatus in Deutschland anstreben. Es kann aber auch nicht verwundern, wenn sich in Deutschland Angst vor ungesteuerter Einwanderung breit- macht. Um hier zunächst mal den zweiten Halbsatz von Becksteins Parole ("weniger Einwanderer, die uns ausnützen") in die Tat umzusetzen, müßte das Asylverfahren rigoros gestrafft und konsequent auf die politisch Verfolgten beschränkt werden. Dies funktioniert aber nur, wenn das individuelle Grundrecht auf Asyl mit der uneingeschränkten Rechtswegegarantie in ein institutionelles Recht umgewandelt wird. Auch müßte der Grundsatz eingeführt werden, daß Familienzusammenführung vorzugsweise im Heimatland der Familie stattzufinden habe. Beides wird von der Union derzeit nicht verlangt, was ihr einerseits den Vorwurf eintragen kann, in ihrem Einwanderungskonzept zu kurz gesprungen zu sein. Andererseits ist schon die Richtung gefährlich, bedeutet doch weniger Einwanderung zu Lasten unserer Sozialsysteme weniger Einwanderung aus humanitären Gründen. Denn gegen eine Einschränkung der Zuwanderung aus "humanitären" Gründen läßt sich nämlich ein anständiger Aufstand der linksintellektuellen Medien inszenieren, was freilich noch kein Aufstand der Anständigen wäre, aber dennoch gefährlich für jeden "rechtsverdächtigen" Politiker. Analog zur Kampagne gegen Sozialabbau ist hier der massive Vorwurf, die Gebote der Humanität zu verraten und sich aus den historischen Verpflichtungen Deutschlands davonzustehlen, zu erwarten.

"Mehr Einwanderer, die uns nützen", der erste Teil von Becksteins Losung ist aber nicht weniger politisch riskant. Hat doch der Bundeskanzler Schröder mit seinem Green-Card-Coup bereits demonstriert, wie leicht er die Union ausmanövrieren kann. Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für dringend benötigte Ausländer werden nach der Anwerbestoppausnahmeverordnung seit Jahren in großer Zahl, nämlich mehr als 300.000 jährlich, erteilt. Davon gehen allerdings nur drei Prozent an Hoch- und Höchstqualifizierte, aber 180.000 (60 Prozent) an Saisonarbeitnehmer. Deshalb war die Green-Card-Initiative nur ein propagandistischer Versuchsballon. Nicht einmal die Hälfte der 20.000 Spezialisten konnte bis jetzt rekrutiert werden. Insbesondere für die vielbeschworenen hochqualifizierten Inder ist Deutschland nicht sonderlich attraktiv. Selbst bei einem Bruttojahreseinkommen von 100.000 Mark, abzüglich Versicherungskosten und der hohen direkten und indirekten Steuern, laufen Hochqualifizierte aus Entwicklungsländern Gefahr, ihren Lebensstandard in Deutschland zu verschlechtern. Die Unmöglichkeit, in Deutschland billiges Hauspersonal einzustellen, wie dies in ihren Heimatländern selbstverständlich ist, ist nur ein Aspekt der viel höheren Lebenshaltungskosten hierzulande. Die USA haben gerade den Spitzensteuersatz für Einkommen auf 35 Prozent gesenkt. Wenn wir wirklich global um die besten Köpfe konkurrieren wollten, müßte Deutschland für hochqualifizierte Einwanderer überhaupt erst attraktiv gemacht werden. Dies ist politisch noch weniger umzusetzen als die Eindämmung unerwünschter Zuwanderung. Es würde hier zu weit führen, alles aufzuzählen, was umgebaut werden müßte, um Deutschland für eine migrationsbereite Leistungselite anziehend zu machen. Klar ist aber, daß die Einwanderungsdebatte in beide Richtungen auf vermintes Gelände führt.

Nach dem Wahlsieg von Roland Koch in Hessen, bei dem die Kampagne gegen eine zu großzügige Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit wahrscheinlich den Ausschlag gegeben hat, suchte die Union ein Thema, mit dem sie die rot-grüne Koalition vor sich her treiben wollte. Schließlich dürften sich doch die Regierungsparteien an Modernität und Zukunftskompetenz nicht von der Union überbieten lassen, wenn ihnen denn das Einwanderungsthema aufzuzwingen wäre. Kann es gelingen, die Regierung soweit zu provozieren, daß sich SPD und Grüne zu weit aus dem humanitären Fenster lehnen und bei der nächsten Bundestagswahl abstürzen? Nun ist die SPD seit dem Machtverlust in Hessen äußerst vorsichtig beim Ausländerthema geworden und steuert auch bei der arbeitsmarktpolitisch sinnvollen Migration aus Rücksicht auf ihr konservatives Stammwählerpotential und den Gewerkschaftsflügel einen restriktiven Kurs. So kann es passieren, daß die Union, nachdem die Eindämmung belastender Einwanderung wenn überhaupt nur graduell gelingen wird, mit der Forderung nach mehr nützlicher Einwanderung in der politischen Arena Schiffbruch erleidet. Denn akute Engpässe auf dem Arbeitsmarkt wird Schröder pragmatisch in Green-Card-Manier lösen. Es bliebe dann fatalerweise nur an der Union der Ruf hängen, die Partei "für mehr Einwanderung" zu sein.

 

Frank Dietrich hat in Hamburg und München Philosophie, Theologie und Pädagogik studiert und unterrichtet Politik und Zeitgeschichte.


 
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