© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/01 08. Juni 2001

 
Vom Dinosaurier zum Sperling
Vor der ersten Sitzung des Ethikrates: Die Frage "Was ist Leben?" läßt sich nicht gültig beantworten
Günter Zehm

Am Freitag dieser Woche tritt der von Bundeskanzler Schröder (SPD) einberufene Nationale Ethikrat zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen, ein erlauchtes Gremium zweifellos, aber leider auch ein überfordertes Gremium, dessen Funktion letztlich die eines bloßen ethisch-wissenschaftlichen Feigenblattes für genuin politische Entscheidungen sein wird. Die Politiker möchten auf keinen Fall "menschliches Leben instrumentalisieren", und deshalb möchten sie von dem Rat erfahren, ab welchem Zeitpunkt in der biologischen Entwicklung menschliches Leben, ja Leben überhaupt beginnt. Aber genau diese Frage vermag kein Wissenschaftler und kein Ethiker definitiv zu beantworten.

"What is Life?" – Was ist Leben? –Erwin Schrödingers berühmtes Dubliner Vorlesungsbuch von 1943 ist heute aktueller denn je, nicht zuletzt wegen der Vorsicht und der Bescheidenheit, die in ihm walten. Obwohl Schrödinger, zehn Jahre vor der Entdeckung der Doppelhelix durch Watson und Crick, das Phänomen des sogenannten genetischen Codes bereits voll durchschaute und benannte, war er doch weit davon entfernt, zu behaupten, er habe damit "das Geheimnis des Lebens" gelüftet. Schrödinger war viel zu sehr Quantenphysiker, wußte viel zu genau über die Relativität und Vieldeutigkeit naturwissenschaftlicher Grundannahmen Bescheid, um forsche Lippe zu riskieren. "What is Life?" Die Frage blieb unbeantwortet – und ist es bis heute geblieben.

Die Gelehrten müssen sich damit begnügen, sie einzugrenzen, "Randbedingungen" für mögliche Antworten aufzuzeigen. "Ein Lebewesen wird charakterisiert durch folgende Eigenschaften", formulieren sie etwa, und zählen dann meistens auf: Erstens ein bestimmtes Mengenverhältnis chemischer Grundstoffe (Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff usw.), zweitens das Vorhandensein bestimmter organischer Verbindungen (Eiweißkörper, Aminosäuren, Nukleinsäuren); drittens Stoffwechsel; viertens Gestaltresistenz; fünftens Reizbarkeit; sechstens Fortpflanzung; siebtens Entwicklung, Evolution, Phylogenese ...

Der Austausch von genetischem Material fehlt gewöhnlich in solchen Aufzählungen, denn auch schlichte Großmoleküle, denen fast alle übrigen Charaktere abgehen, Viren, Phagen, betreiben Genaustausch. Überhaupt kommt es nur selten vor, daß bei einem Lebewesen, das unisono als solches bezeichnet und behandelt wird, sämtliche "Lebensmerkmale" unbezweifelbar vollzählig versammelt sind. Es gibt einfach keine scharfe Grenze zwischen Lebendigem und Unbelebtem, kein Lebensatom, keine kleinste lebendige Einheit wie die Zelle oder das Gen.

Außerdem fällt die durchgehende Unschärfe der üblicherweise genannten Merkmale auf. Die Gestaltresistenz zum Beispiel, also die über alle Wachstums-, Vermehrungs- und Fortpflanzungsbewegungen hinweg durchgehaltene, von der Wissenschaft beschreibbare Individualität und Identität eines Lebewesens, wird bereits durch die Eigenschaften einer so schlichten Erscheinung wie des Regenwurms dementiert. Schneidet man den Wurm in der Mitte des Körpers entzwei, so ergibt das nicht den Tod dieses Wurms, sondern zwei neue lebende Würmer, und man darf sich nun fragen: Wo hört das Leben des einen Regenwurms auf, wo fängt das Leben der beiden neu entstandenen Exemplare an?

Lebewesen sind mit sich identisch, aber auch wieder nicht identisch. Sie machen eine Entwicklung durch, aus der fetten Raupe wird ein eleganter, leuchtender Schmetterling, aus einem Dinosaurier wird – mittels Fortpflanzung in erdgeschichtlichem Zeittakt – der Urvogel Archaeopteryx und aus diesem der Sperling von nebenan. Das einzelne Lebewesen verfügt über ein staunenswertes Anpassungspotential. Es paßt sich an veränderte Stoffwechselbedingungen an, an neu entstandene Freund-Feind-Verhältnisse usw. Aber von einem bestimmten Zeitpunkt an ist Schluß, das Individuum stirbt und die Gattung, der es zugehört, "stirbt aus".

All das ist unendlich sonderbar und wunderbar, doch die Gelehrten versichern uns, alles gehe mit rechten Dingen zu, nämlich physikalisch-chemisch, und sie kündigen immer wieder an, daß sie selbst den Entstehungs- und Erhaltungsprozeß des Lebens im Labor werden nachbilden können. Bisher ist freilich nichts daraus geworden.

Sie rührten aus Wasser und Fettlösungen und Aminosäuren künstliche "Ursuppen" zusammen, um dort die "Urzeugung", die Entstehung des Lebens aus toter Materie, ins Werk zu setzen. Sie schufen eine künstliche "Uratmosphäre", aus der sie elektrische Entladungen und Ultraviolettstrahlen in die Ursuppe niedergehen ließen, woraufhin sich die Aminosäuren "polymerisierten", d. h. sich zu "eiweißähnlichen" Molekülketten zusammenschlossen; parallel dazu entstanden in der Suppe auch "Vorstufen" von Nukleinsäuren. Aber, ach, Leben entstand nicht, es entstanden nicht einmal Zellen, die Wachstum, Teilung und Wiederholung der Struktur des Muttersystems aufwiesen.

Vielleicht hatten die viel geschmähten "Vitalisten", die Driesch, Haldane, Portmann, doch recht, als sie lehrten, daß zum Leben mehr gehöre als die zufällig richtige chemische Mischung nebst Donner, Blitz und Hitzeentwicklung? Daß ein spirituelles Prinzip hinzutreten müsse, "Information"? Daß die Spiritualität also nicht erst auf dem "Höchststand" der Lebensentwicklung, im Menschen mit seinem Großhirn, zum Zuge komme, sondern bereits am Anfang zum Zuge gekommen sei und daß das ein notwendiger Zug war, der eigentliche Lebenszug?

Der Spott über derlei Theorien ist in den letzten Jahren hörbar leiser geworden. Immer mehr Biologen fragen: Was der Quantenphysiker Schrödinger einst in Hinblick auf unser Wissen insgesamt konstatierte, die "duale" Natur der Erkenntnis, Welle oder Korpuskel, je nachdem, wie beobachtet wird – könnte das nicht auch unser Wissen speziell über das Leben strukturieren? Gibt es möglicherweise zwei völlig gleichberechtigte, gleichwertige, einander komplementierende Erkenntnislinien?

Fest steht schon heute, daß die Antworten, die zu der Frage "What is Life?" geliefert werden, tatsächlich einen quantenmechanischen, dualen Charme abstrahlen. Das Leben, so erfahren wir, ist faktisch undefinierbar, und dennoch wissen wir stets recht genau, ob etwas lebt oder nicht lebt. Lebewesen sind mit sich identisch und doch auch wieder nicht. Lebewesen müssen sterben, aber just dadurch weisen sie ihre Lebendigkeit aus, der Tod ist die Voraussetzung des Lebens. Und so weiter und so weiter. Alles Konstellationen, vor denen jede Ethikkommission passen muß.

 

Prof. Dr. Günter Zehm lehrt Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.


 
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