© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/01 08. Juni 2001

 
Der erste Europäer der Musikgeschichte
Betrachtungungen zum 175. Todestag des Komponisten Carl Maria von Weber
Wiebke Dethlefs

Nie hat ein deutscherer Musiker gelebt als du ! Wohin dich auch dein Genius trug, in welches ferne bodenlose Reich der Phantasie, immer jedoch blieb es mit jenen tausend Fasern an dieses deutsche Volksherz gekettet, mit dem er weinte und lachte, wie ein gläubiges Kind, wenn es den Sagen und Märchen der Heimat lauscht. Sieh, nun läßt dir der Brite Gerechtigkeit widerfahren, es bewundert dich der Franzose, aber lieben kann dich nur der Deutsche ..."

Es scheint, als haben diese emphatischen Worte Richard Wagners 1844 in Dresden anläßlich der Heimführung der Weberschen Gebeine (er starb knapp vierzigjährig am 5. Juni 1826 in London, nachdem er dort seinen "Oberon" aufführen konnte) aus tiefer Bewunderung und Ehrerbietung die Rezeption von Weber und seinen Werken zutiefst vereitelt. Das wird gerade heute in einer Zeit, der alles Romantische oder auch "Nationale" zutiefst suspekt erscheint, besonders augenscheinlich. Denn einmal abgesehen von seinem größten Erfolg, dem "Freischütz", ist Webers Werk weitgehend tot, wie ein einfacher Blick auf die CD-Ständer großer Mediengeschäfte zeigt. Es war zwar schon Hans Pfitzner in den zwanziger Jahren der Meinung, daß der Komponist nur geboren wurde, "um den Freischütz zu schreiben".

Doch Weber ist ein Großmeister, in seinem musikalischen Schaffen in erster Linie Dramatiker und darin von solch ursprünglicher Gewalt und Originalität, daß ohne ihn das deutsche Opernschaffen des 19. Jahrhunderts und insbesondere auch der schöpferische Weg Wagners anders verlaufen wäre. Über den "Freischütz" sind Werk und Wirken eines Mannes denn auch zu Unrecht in den Hintergrund getreten, der bahnbrechend in der Musik wie nur wenige tätig sein konnte: Er war der erste Klaviervirtuose neuen Stils im 19. Jahrhundert, er war insbesondere direkter Anreger für Generationen nach ihm in der Kunst der Orchestrierung und Instrumentenbehandlung und gilt so als Vorläufer des Orchestervirtuosen Richard Strauss. Sein musikalisches Temperament, seine schillernde Bravour, seine berühmten jubelnden Violinpassagen wuchern und jauchzen bisweilen überreich, aber sie begünstigen zumindest in seinen Opern die strahlende Farbigkeit und die effektvolle Wirkung der zündenden Abschlüsse. Webers Kunst der Koloristik schuf innerhalb der musikalischen Romantik das Komplement zu den literarischen Phantasmen E.T.A. Hoffmanns, Tiecks aber auch Zacharias Werners. Er verfügte weiterhin die sinnvolle Plazierung der Orchestermusiker auf dem Podium, führte den Taktstock ein, begründete die Musiktheaterintendanz und war einer der ersten Musikpublizisten (er schrieb u.a. neben zahllosen Essays einen Roman "Tonkünstlers Leben") und vor allem der Begründer der deutschen Oper.

Beim Betrachten des Werkverzeichnisses, das trotz Webers kurzer Lebenszeit recht umfangreich ist, fällt auf, daß er wie Mozart in allen musikalischen Gattungen tätig war, wobei aber die Krone den Opern und Instrumentalkonzerten gilt. In den dramatischen Hauptwerken gelingt es Weber, die Hauptwelten romantischen Fühlens unvergänglich erstehen zu lassen. So ist im "Freischütz" (1821) der "deutsche Wald" (Pfitzner) zur Hauptgestalt geworden, in der "Euryanthe" (1823) wird mittelalterliches Rittertum zu künstlerischer Größe stilisiert, und endlich erscheint in seinem Schwanengesang "Oberon" (1826) die wohl "romantischste" aller Szenerien, nämlich das Elfenreich, in aller Pracht zu Musik gebracht.

Weber ist dreißig Jahre vor Wagner Wegbereiter von dessen "Gesamtkunstwerk", wenn er schreibt, die erstrebenswerte Oper sei "ein in sich geschlossenes Kunstwerk, wo alle Teile und Beiträge der verwandten und benutzten Künste ineinanderschmelzend verschwinden und auf gewisse Weise untergehen – und eine neue Welt bilden ..."

Dem Gesamtkunstwerk Wagners den Weg bereitet

"Oberon" bedeutet musikalisch zunächst einen Rückschritt, da er wieder im Stil der alten Nummernoper gehalten ist. Es war Webers Plan, diesen noch zur großen durchkomponierten Oper umzugestalten, was sein Tod aber verhinderte. Ein großer Verehrer dieser noch nie so richtig in ihrer wegweisenden Bedeutung gewürdigten Oper war Claude Debussy, der hier tief in Webers Wesen hineinhorchte, als er schrieb: "Vielleicht war Weber der erste, der sich über die notwendige Verbundenheit der Menschenseele mit der Allseele Gedanken machte, denn im ’Oberon‘ verfiel er nirgendwo in jene deutsche Mondscheinromantik, in der es die meisten seiner Zeitgenossen wohl sein ließen". Die vielleicht schönste Deutung des Oberon stammt von dem Weber-Biographen Hans Schnoor, wenn er die Oper beschreibt als "Werk höchster schöpferischer Weisheit, das von Mozarts magischer Dämonie zu den schmerzlichen Affekten der Tristan-Chromatik ätherische Brücken schlägt".

Von den Instrumentalwerken des Meisters mögen besonders die schon erwähnten Klarinettenkonzerte neben einem edlen Quintett für Klarinette und Streicher genannt sein, in denen sich melodische Innigkeit mit berauschender Virtuosität harmonisch zusammenfügt. Auch seine beiden Klavierkonzerte und das tiefromantisch empfundene Konzertstück f-moll für Klavier und Orchester sind hinreißende Beispiele für Webers Fähigkeit, atemberaubende Spielkunst und Tiefe symbiotisch zu vereinigen.

Warum Weber aber heute größtenteils (vom "Freischütz" abgesehen) ein Schattendasein im Konzert- und Opernleben fristet, bleibt jedoch rätselhaft. Die Klavierwerke stellen die Interpreten stets vor bravouröse Aufgaben, die berühmten Dezimengriffe und -parallelen (Weber hatte sehr große Hände) sind von Pianisten mittleren Ranges kaum zu bewältigen, der Schwung der Finalsätze seiner Sonaten und Variationenwerke ist schlichtweg beifallheischend. Die Qualität des Melos in seinen Opern sucht ihresgleichen – nicht nur gemessen an der Leierkastenmelodik eines Rossini oder des frühen Verdi, deren teils doch recht mäßige dramatische und auch musikalische Schöpfungen zum festen Repertoire jedes Opernhauses zählen. Sollte es einzig an der mangelnden Dramaturgie liegen, wie sie leider in "Euryanthe" und "Oberon" den Gesamteindruck in der Tat mehr als beeinträchtigt? Aber Verdis "Troubadour" ist trotz seiner ebenso schlecht nachvollziehbaren Handlungsfäden in der ganzen Welt ein Reißer. Oder glauben die internationalen Plattenkonzerne, daß sie außerhalb Deutschlands mit diesem als vordergründig national apostrophierten Meister keinen Umsatz erzielen, und spielen seine Werke deshalb von vornherein nicht ein? Zwar liegt Webers Opernschaffen seit kurzem fast vollständig auf CD vor, aber was bedeutet dies angesichts der Tatsache, daß die musikgeschichtlich unbedeutendsten Werke Bellinis, Donizettis, Rossinis und nicht zuletzt Meyerbeers seit Jahren auf Tonträger und Bühne fröhliche Urständ feiern?

Des Meisters größter Erfolg ist sein "Freischütz", der am 18. Juni 1821 im damals gerade neu errichteten Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt unter unbeschreiblichem Jubel das Licht der Welt erblickte. Allein die Ouvertüre – welch Geniestreich, wenn nach einer raunenden Einleitung über einem samtenen Streicherteppich die Hörner jene Weise erklingen lassen, in der der Stimmungszauber des deutschen Waldes so einzig, so unnachahmlich eingefangen wurde. Doch diese "Hauptperson" Wald tritt den Protagonisten der Handlung nicht nur in idyllischer Form gegenüber. Im Finale des zweiten Aktes, der Wolfsschluchtszene, jenem erhabenen Dom musikalischer Romantik, entfesselt Weber einen Höllenspuk und solche Visionen des Infernalischen, die in dieser Rigorosität und Plastizität auch nach ihm keinem Komponisten mehr gelungen ist.

Der Wald als Hauptdarsteller, daneben die anderen Opernhandelnden, alltägliche Menschen auf der Bühne: Nach der zweihundertjährigen Herrschaft der italienischen Oper, die die Handlung in die Antike verlegte oder ihre Anleihen in den Hanswurstiaden der "Commedia dell’ Arte" suchte, und besonders in dieser Zeit neu erwachenden nationalen Selbstverständnisses, nach der Befreiung vom napoleonischen Joch, war es nur zu verständlich, daß Webers Oper mit jenem unbeschreiblichen Jubel aufgenommen wurde. Das vielleicht nicht zuletzt auch deshalb, da Weber dem kunstverständigen Publikum schon seit 1814 als "nationaler" Tonsetzer bekannt war, der sich besonders durch die Vertonung von Theodor Körners Gedichtzyklus "Leyer und Schwert" in anfeuernden Chorliedern einen Namen machen konnte und in der Kantate "Kampf und Sieg" die Schlacht von Belle-Alliance schilderte. Bereits die Zeitgenossen feierten den Komponisten als Schöpfer der so lange erwarteten deutschen Nationaloper, mit der, trotz Mozarts "Zauberflöte" und Beethovens "Fidelio", endlich die italienische Vormachtstellung gebrochen wurde. Doch konnte dies allein Richard Wagner berechtigen, den Komponisten als den "deutschesten" feiern zu dürfen?

Innerhalb des Kernstücks des Weberschen Œuvre, seinem Opernschaffen, ist von den Hauptwerken nur der "Freischütz" im deutschsprachigen Raum angesiedelt, "Abu Hassan" und "Oberon" spielen im Orient, das von Gustav Mahler (nicht ganz glücklich) ergänzte Fragment der "Drei Pintos" in Spanien und das Schmerzenskind "Euryanthe" im mittelalterlichen Frankreich.

Eine deutsche Nationaloper, die in Böhmen spielt

Verstärkt wird dieser Zug zu "internationalen" Sujets auf rein musikalischer Ebene durch ebenso auffallende Bevorzugung fremder Folklore, von Volksmelodien europäischer und außereuropäischer Länder. Der frühen Schauspielmusik zu Schillers "Turandot" (1804) liegt eine chinesische Originalmelodie zugrunde, in der Musik zu "Preciosa" (1821) atmet das spanisch-zigeunerische Kolorit eine Lebensunmittelbarkeit, die den Vergleich mit Bizets "Carmen" nicht zu scheuen braucht. Über einem federnden Bolerorhythmus entfaltet sich in der Ouvertüre ein schmeichelndes, rhythmisch pikantes Mollthema, bald gefolgt von einer neckischen Marschweise. Im "Oberon" setzt Weber arabische und türkische Weisen ein, in seiner Klavier- und Kammermusik greift er auf norwegische, russische, polnische, ungarische und französische Themen zurück, und in seiner vorletzten größeren Komposition überhaupt bearbeitet er 1825 zehn schottische Volkslieder für Singstimme, Cello und Klavier. Umgekehrt scheint es, als ob sich die Opernkomponisten in den zu verstärktem nationalen Selbstbewußtsein gelangenden osteuropäischen Ländern nach 1830 sich bei Weber dafür bedankten, denn sie orientierten sich wiederholt am "Freischütz", für sie das Vorbild nationaler Musik, wie Smetana mit seinen "Brandenburgern in Böhmen".

Doch selbst der "Freischütz" ist nur bedingt "deutsch" angelegt. Zum einen spielt die deutsche Nationaloper in Böhmen, greift im ersten Akt sogar auf einen originalen böhmischen Marsch zurück, zum anderen sind einzelne Nummern an außerdeutschen Vorbildern orientiert. Kaspars Rachearie entwuchs der Opera seria neapolitanischer Schule, Max’ große Szene läßt Webers verehrtes Vorbild Méhul durchscheinen, Agathes Szene und Arie ist in ihrer Form italienischen Ursprungs, Ännchens tänzelnde Polonaisenarie ist wieder typisch für Webers europäischen Folklorismus. Demgegenüber stehen allerdings Jägerchor, Wolfsschlucht und das Jungfernkranzlied auf unbestreitbar deutschem Boden.

Wilhelm Heinrich Riehl sah in diesem Nebeneinander deutscher und fremder musikalischer Einflüsse einen Widerspruch: "Weber behauptete als Gegner Rossinis und der italienischen Oper das Recht der deutschen Kunst wider den letzten europäischen Sieg der italienischen und doch förderte er andererseits das Einbrechen fremden Geistes und fremder Form in die deutsche Kunst". Doch der Widerspruch ist nur scheinbar. Webers Neigung zum "Nichtdeutschen" ist ein typischer Zug der Romantik mit vielen Parallelen auch in der Dichtung bei Arnim, Hoffmann und selbst Eichendorff, deren "romantische" Prosa meist in Italien oder der Provençe angesiedelt ist. Doch Weber ist kein Romantiker vom Typ Schuberts, Schumanns,Eichendorffs oder gar des Trauermannes Lenau. Er hatte nicht deren Weltverlorenheit oder dunkle Gefühlstiefe bzw. Sentimentalität. Er war ein Pragmatiker, eine sehr weltbewußte Natur. Vielleicht konnte das seinem Musizieren eine eigene spielerische Kühle geben, die wohl spannungsgeladen ist, sich aber vom romantischem Pathos abhebt und gallischem Esprit bereits sehr nahe kommt. Berlioz und selbst noch Claude Debussy fühlten ihre Leben lang eine tiefe Liebe zu Weber.

Warum nun war für Wagner Weber der deutscheste aller Musiker? Wagner sagt es indirekt in seinen pathetischen Worten selbst. Denn es offenbart sich in der Steigerung des Neigungsgrades der Nationen vor Weber ein Defizit: Gerechtigkeit, Bewunderung, Liebe rundet sich mit dem zwischen den Buchstaben eine Zustandsminderung suggerierenden Komparativ "deutscherer" zur irrationalen Deckung einer Lücke. Weber konnte, so liebenswert und deutsch er Wagner erschien, niemals Teil einer fraglosen deutschen Nationalkultur werden. Allein angesichts der Tatsache nicht, daß Deutschland um 1830 in 41 Kleinstaaten zerstückelt war, in denen 23 Hofopern bemüht waren, den kosmopolitischen Kulturgeschmack der Fürsten durch die Unterwerfung unter das Stildiktat der italienischen Oper zu befriedigen. Das erklärt Wagners Betonung von Webers Deutschtum im Sinn einer Wunschprojektion, auf daß eine Stilkomponente im Werk des von ihm so verehrten Meisters Bestandteil einer Nationalkultur in der Musik werden möge. Darum zeigten nationalsozialistische Musikpolitiker, den Wagnerschen Elogen zum Trotz, kein Interesse daran, Weber ideologisch zu vereinnahmen.

Eine fehlende Wesensverwandtschaft, die es sogar Igor Strawinsky, der Weber im Geist doch so unähnlich war, von ihm aber zu seinem "Capriccio" angeregt wurde, erlaubte zu klagen: "Ich liebe Webers Fagottkonzert, seine Kammermusik, seine Klavierwerke, seine Opern. Welche Tragik, daß dieser Künstler in seiner Zeit zu Tode geärgert wurde. Weshalb hört man seine Musik so selten?" Diese Frage mag sich auch das heutige Musikleben und besonders die Tonträgerindustrie stellen, dabei bedenkend, daß Weber innerhalb seines künstlerischen Denkens der erste Europäer der Musikgeschichte ward. Dies sollte genug Grund sein, Webers Schaffen dauerhaft der Vergessenheit zu entreißen. Carl Maria von Weber – vielleicht der deutscheste Europäer!

 

Empfohlene Aufnahmen Weberscher Musik: Der Freischütz (Grümmer-Streich-Hopf-Proebstl) - Kölner RSO – Erich Kleiber (1955); Euryanthe (Norman-Gedda-Krause) -Staatskapelle Dresden – Marek Janowski (1975); Oberon (Seiffert-Nielsen-v.d.Walt) – DSO Berlin – Marek Janowski (1997); Ouvertüren - Neeme Järvi – The Philharmonia (1992); Klarinettenkonzerte Nr.1 und 2/Fagottkonzert u.a. – Dieter Klöcker, Klarinette – SO des Slowak. Rdfks. - Arturo Tamayo (1991)


 
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