© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
Kolumne
Volkes Wille
von Heinrich Lummer

Die große Koalition war geplatzt. Am Eingang des Senders N-TV traf ich Jochen Vogel. Er meinte: "Nun haben wir die gleiche Situation wie vor 20 Jahren – nur umgekehrt". Genauso ist es. Vor 20 Jahren wurde erstmals das Instrument der Parlamentsauflösung durch Volksentscheid in die Wege geleitet. Da die Erfolgsaussichten gut waren, löste sich das Berliner Abgeordnetenhaus selbst auf. Richard von Weizsäcker wurde nach Neuwahlen Regierender Bürgermeister. Eine jahrzehntealte sozialdemokratische Herrschaft war beendet.

Nun wird zum zweiten Mal die Drohung mit dem Volksentscheid die Auflösung des Parlaments herbeiführen. In der alten Berliner Verfassung waren Plebeszite sowohl für die Gesetzgebung als auch die Auflösung des Parlaments vorgesehen. Es war die CDU-Fraktion, die 1971 einen Gesetzentwurf zur Auflösung des Abgeordnetenhauses durch Volksbegehren und Volksentscheid vorlegte. Es war damals nicht ganz einfach, die SPD auf diesen Trip zu bringen. So konnte 1974 ein entsprechendes Gesetz beschlossen werden. Die damalige Skepsis der SPD drückte ihr Vorsitzender Dr. Haus mit der Bemerkung aus, dem Bürger werde mit diesem Gesetz "nichts Griffiges" in die Hand gegeben.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Wenn der Bürger die Schnauze voll hat von einer amtierenden Regierung, dann hat er hier die Möglichkeit, die Herrschaft auf Zeit abzukürzen. So hat er nicht nur alle vier oder fünf Jahre eine echte Beteiligungschance bei Wahlen, sondern – im Notfall – auch früher. Damit ist eine plebiszitäre Komponente ins Leben gerufen, die nicht jene Gefahren und Nachteile in sich birgt, die bei der unmittelbaren Gesetzgebung durch Volksentscheide gegeben sind: Radikalisierung, Fehlentscheidungen durch Kompetenzmangel. Denn bei einer Neuwahl muß der Bürger alle Sachzusammenhänge bedenken und dann einer Partei die Stimme geben. Es steht nicht eine Sachfrage zur Entscheidung an, sondern alle. Sowohl 1981 als auch 2001 war das politische Szenario in Berlin von krisenhaften Entscheidungen gekennzeichnet, so daß der Gedanke an eine Neu-Entscheidung des Souveräns in der Luft lag. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, wenn die Erfinder des Instrumentariums einer Parlamentsauflösung 1981 die Nutznießer waren und 2001 die Opfer werden könnten. So ist das eben in der Demokratie. Das Instrument jedenfalls hat sich bewährt und sollte in jeden Bundesland eingeführt werden, gerade wenn man im Begriffe ist, die Legislaturperioden auf fünf Jahre auszudehnen.

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a.D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


 
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