© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
Ein Universalist alter Prägung
Zwischen Goethe und Bismarck: Vor hundert Jahren starb der Gelehrte und Schriftsteller Herman Grimm
Wolfgang Saur

Vor hundert Jahren, am 16. Juni 1901, starb Herman Grimm in Berlin. Zu seiner Zeit berühmt und viel geehrt, heute fast vergessen, verdient der große deutsche Gelehrte, der geistvolle Literat und europäische Weltbürger ein aktuelles Blatt der Erinnerung. Wie kein anderer verkörperte Herman Grimm die Einheit der klassisch-romantischen Periode und deren Fortleben in der zweiten Jahrhunderthälfte mit seiner Biographie, Persönlichkeit und seinem Werk. Mit vollem Recht durfte er sich als "Statthalter Goethes" im Zeitalter Bismarcks fühlen, berufen, die "Weltmacht" goethescher Humanität und den Geist des deutschen Idealismus in die Moderne hineinzutragen. Mit diesem Engagement hat er eindrucksvoll dem "revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts" standgehalten und das Auseinanderdriftende noch einmal vereinigt. Nach Goethe und Hegel zerbricht – so Löwith – die Synthese des Weltbildes im Kampf der Entzweiungen in ein materialistisch-politisches "Außen" und eine subjektive "Innerlichkeit". Der Alteuropäer Grimm vermittelte dagegen noch einmal Tradition und Fortschritt, Einzelforschung und universale Idee, Kunst und Wissenschaft, bürgerlichen Geist und monarchische Staatsform, Weltbürgertum und Nationalstaat harmonisch in Lebenspraxis und Denken.

Sein Weg war zunächst in einzigartiger Weise durch sein Elternhaus und dessen kulturelles Umfeld angelegt. Herman Grimm wurde 1828 in Kassel als Sohn Wilhelm Grimms geboren. Dieser und sein Bruder Jacob, die genialen Begründer der Germanistik, waren seit ihrem Studium bei Savigny, dem Vertreter der historischen Rechtschule, mit den Romantikern eng befreundet, standen mit Goethe in Verbindung und korrespondierten mit den namhaften Gelehrten ihrer Zeit. Als ältestes der drei Kinder Wilhelms wuchs Herman im gemeinsamen Haushalt der Brüder auf, seit 1841 in Berlin, wo die Grimms nach ihrer Vertreibung aus Göttingen (1837: die "Göttinger Sieben"!) eine neue Wirkungsstätte gefunden hatten.

Trotz republikanischer Zivilcourage wurde alles Politische von der leidenschaftlichen Hingabe der Brüder an die wissenschaftliche Forschung dominiert, so etwa dem großen Deutschen Wörterbuch, an dem auch der Knabe schon früh mitarbeitete. Zum regen intellektuellen Umkreis der Familie gehörten die verbliebenen Romantiker, dann Alexander Humboldt, Ranke, Schelling, die Künstler Cornelius, Schadow, Rauch und Joseph Joachim. Ein zweites Heim wurde für Herman das Haus Bettina von Arnims, deren Tochter Gisela er 1859 heiraten sollte. Kurz: Er stand zu der geistigen Elite der Zeit in einem intimen Verhältnis.

Aus diesen Voraussetzungen formte sich der geistige Kosmos Herman Grimms und die besondere Art seiner Schriftstellerei. Von Kind auf hatte er es nur mit "Enormen" zu tun, die unentwegt lasen und schrieben, sich um ihre intellektuelle Bildung sorgten und an der Verwirklichung künstlerischer oder wissenschaftlicher Aufgaben arbeiteten. Dieser Maßstab sollte seine Anschauungen völlig durchdringen. "Aber was dem jungen Herman Grimm als lebendiges Erbe zufiel, das waren nicht nur einzelne Erinnerungen oder Anekdoten, sondern der Geist jener Epoche selbst." (Buchwald)

Seit 1847 Student der Rechte, dann Philologe, lernte er 1856 Marianne von Willemer kennen, Goethes "Suleika" im "West-östlichen Diwan", welcher er 1869 einen seiner schönsten Essays widmete.

Seine publizistische Tätigkeit hatte 1855 eingesetzt. Die literarische Begegnung mit Ralph Waldo Emerson (1803–1882) erwies sich als Schlüsselerlebnis: 1857 übersetzte er dessen Essays über Shakespeare und Goethe und führte den amerikanischen Transzendentalisten damit in Deutschland ein. Zugleich fand er in dieser sprachlichen Auseinandersetzung auch seine eigene Position: der Essay als geistige Methode und Kunstform wurde so sein eigentliches Metier. Nach zahlreichen Vorläufern kann Grimm als dessen wirklicher Begründer in Deutschland gelten.

Nach dem nur mäßigen Erfolg seiner Lyrik, Novellen und Dramen erschien 1859 eine erste Essaysammlung. Danach publizierte er eine Fülle solcher Abhandlungen, die sich durch Vielseitigkeit der Interessen und brillanten Stil auszeichneten. Diesen entfaltete er auch in seinen geistesgeschichtlichen Monographien, deren erste die monumentale Studie über Michelangelo wurde (1860–63).

Die Liebe zu Italien und zur Renaissance führten schließlich zur Berufung auf das erste Ordinariat für Neuere Kunstgeschichte in Berlin (1873). Von hier aus setzte Grimm das wissenschaftlich-ästhetische Engagement seiner Familie, das er ebenso stark auf die Literatur wie auf die bildende Kunst bezog, fort. Das zeigten die gutbesuchten Vorlesungen, mit welchen er seine akademische Tätigkeit eröffnete.

Sie galten Goethe (1874/75) und erschienen im Jahr darauf in Buchform. Es war dies die erste umfassende Goethe-Monographie überhaupt; sie wurde im Lauf der Zeit durch eine Unzahl weiterer Essays zu Einzelfragen ergänzt, welche Grimm stets als überlegenen Kenner auswiesen. Diese Schriften studiert man heute noch mit Gewinn. Der Autor zeigt sich in ihnen als kongenialer Interpret des Weimarers, dessen Deutung Klassizität gewann, indem sie vor der Größe des Themas nirgends auswich in Sentimentalität oder Monumentalisierung. Goethe war und blieb für Grimm der archimedische Punkt zur Welt.

Es war dies die Zeit der großen Editionen und der Textkritik. In diesen Forschungsprozeß war auch Grimm involviert durch die Herausgabe des Familiennachlasses, der laufend neue Aufschlüsse über die "Kunstperiode" lieferte. Dies gibt auch seinen Essays über Bettina, Schleiermacher, die Humboldts, Gervinus, Uhland u. v. a. die Nähe der Anschauung, den persönlichen Ton, seine Verbindlichkeit. Geistesgeschichte war mithin für Grimm noch ganz wesentlich oral history.

Der vom Schicksal solchermaßen Verwöhnte, sogar dem Kaiserhaus freundschaftlich verbunden, urteilte optimistisch: "Ich teile die Besorgnis nicht, geistige Güter könnten verloren gehen; die Freiheit, die wir sicher haben und die immer noch anwächst, trägt jede Art von Selbstkorrektur in sich. Der Mangel an innerem Frieden, der Verlust an äußerer Ruhe werden betrauert und für unersetzlich gehalten; ich sehe überall nur Gewinn." Grimm zeigt sich hier als Vertreter eines liberalen juste milieu in der idealistisch-professoralen Variante, dem Fontane als Romancier entsprach. Das unterscheidet ihn vom weitblickenden Krisengefühl seines Basler Kollegen Jacob Burckhardt.

Als aufschlußreich erweist sich übrigens die parallele Lektüre der kunsthistorischen Schriften beider. Gegen Burckhardt, heute ein Klassiker der Disziplin, fällt der Eindruck von Grimms Arbeiten enttäuschend aus. Bleibt Grimm als Literaturkritiker immer intelligent, griffig, beziehungsreich, haben seine Ansichten zur bildenden Kunst Patina angesetzt. Schnell wird er dort wolkig, der Stil girlandenhaft, merkwürdig begriffsstutzig schreibt er an seinen Gegenständen vorbei. Konzeptionelle neue Ideen wie die Forderung einer "Kunstgeschichte nach Sachen" oder der Begriff des "Kunstwollens" blieben ihm fremd, seine Betrachtungen aber durchsetzt von normativen Gesichtspunkten, die ihn festlegten auf die Ideale des harmonischen Menschen und der klassischen Kunst. Das verwehrte einen freien Zugang zu den Spätstilen oder der zeitgenössischen Moderne, was Kritik provozieren mußte. So vom Fachkollegen Anton Springer, der – leidenschaftlich bestrebt, die Kunstgeschichte zu professionalisieren – gegen den Berliner Schöngeist wetterte. Statt "Geschwätz, mißglückten historischen Romanen, Kolportage" forderte er eine "wissenschaftliche" Kunstgeschichte, "die in Laboratorien Tatsachen ebenso einwandfrei registriere wie die Biologie und Chemie". Man sieht: Die Positivisten gingen nur den gegenteiligen Gefahren auf den Leim. Davor war nun Grimm gefeit, oft hat er vor Faktengläubigkeit und "kolossalem Katalog" zu Recht gewarnt. Denn Tatsachen, "in die nicht eine bestimmte Idee hineingelegt wird, sind gar keiner Darstellung fähig, weil sie außer aller Erkenntnis liegen".

Herman Grimm, der "Olympier", war eine internationale Berühmtheit geworden, der Briefe aus Übersee mit der lapidaren Adresse "Grimm/Europa" erhielt. Zurückgezogen lebte er am Matthäikirchplatz 5, heute Kulturforum, einem damals stillen Ort, an dem auch befreundete Gelehrte ihre Wohnung hatten, so Theodor Mommsen. Der genius loci führte alle zusammen im Salon der altehrwürdigen Hedwig von Olfers (1799–1891), die schließlich die einzige war, die noch Kleist, die Königin Luise und Goethe gekannt hatte. Hier trug Grimm auch Teile seines letzten Buches über Homers Ilias (1890–95) vor. Die universalhistorische und weltliterarische Auffassung seines Jahrhunderts war ihm noch ganz selbstverständlich lebendig. Rückblickend erinnerte sich der Mediävist Andreas Heusler: "In seinem Auftreten verschmolzen der Professor, der Künstler und der Weltmann."

Herman Grimm starb nach einem erfüllten Leben. Seine einzigartige Position in der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts konnte keine Schule bilden, doch wirkten Impulse fort. Seine "Gipfelkunde" von den welthistorischen Individuen als Repräsentanten ihrer Völker griff der George-Kreis auf.

Aktueller wirken seine kritischen Überlegungen zur Wissenschaftsentwicklung. Bedenkenswert bleibt seine Warnung vor dem "ungeheuren Schutthaufen" der Faktenhuberei und der Depravierung wissenschaftlicher Institutionen zum bloßen Fachbetrieb. "All unser Wissen ist Stückwerk. Was wir an großen Gelehrten bewundern, ist nicht der ungeheure Vorrat ihrer Kenntnisse", sondern wie diese in ihrem Geist zu Resultaten der Erkenntnis umgebildet wurden. Im "Gegensatz gegen die ungeheure Zersplitterung in einzelne Symptome" wohnt diesem schöpferischen Vermögen eine Ahnung des Ganzen der Welt inne.


 
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