© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
Gesellschaft und Wahn
Moses Mendelssohn Zentrum: Auf einer Tagung in Potsdam erkundeten Wissenschaftler das "Wilkomirski-Syndrom"
Wolfgang Saur

Vor sechs Jahren erschien das Buch "Bruchstücke" des Schweizer Autors Binjamin Wilkomirski im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp. Es handelte sich um den autobiographischen Erlebnisbericht eines jüdischen Auschwitz-Überlebenden in literarisch komponierter Form. Der Text fand international eine begeisterte Aufnahme bei Kritik und Publikum. Schnell in neun Sprachen übersetzt, kamen die "Bruchstücke" nur bei den renommiertesten Verlagen heraus. Viele Leser waren "aufgewühlt, empört, beschämt", und die Kritiker reihten den Verfasser ein zwischen Anne Frank, Primo Levi und Elie Wiesel. Auch prominente Zeitgeschichtsforscher, so Daniel Goldhagen oder Wolfgang Benz, lobten das Buch als "kleines Meisterwerk".

Das Bewußtsein vom moralischen Gewicht der Aufzeichnungen war so allgemein, daß Wilkomirski rasch eine bevorzugte Aufnahme in den Medien- und Kulturbetrieb der westlichen Welt fand. Er gab zahllose Interviews, es entstanden Filme über ihn, Einladungen zu akademischen Gastvorlesungen und die Aufforderung, auf Kongressen zu sprechen, erreichten ihn; schließlich wurden ihm prominente Literaturpreise verliehen. Seine rapide Karriere in der öffentlichen Aufmerksamkeit zeigt auf eindrucksvolle Art die Vernetzung und Internationalität der Massenmedien heute und der durch sie hergestellten sozialen Öffentlichkeit. In den Jahren zwischen 1995 und 1999 war Wilkomirski vielerorts präsent, traf sich mit Betroffenengruppen (child survivors) oder vertrat ein von ihm entwickeltes Therapiekonzept für Traumapatienten, etwa auf dem Weltkongreß für Psychotherapie 1996 in Wien; so wurde er zur Anlaufstelle für Überlebende mit traumatischen Erfahrungen.

In diese erstaunliche Publizität platzte im August 1998 der Artikel des in Zürich lebenden, ebenfalls jüdischen Journalisten und Romanciers Daniel Ganzfried in der Weltwoche. Er behauptete dort den fiktionalen Charakter der "Bruchstücke". Die Biographie des Autors sei reine Konstruktion. Dieser sei nicht in Riga, sondern als Bruno Grosjean 1941 unehelich in Biel geboren. Von seiner Mutter zur Adoption freigegeben und im Kleinkindalter in verschiedenen Heimen und Familien herumgereicht, sei er dann 1946 zu einer reichen Pflegefamilie nach Zürich gekommen, die ihn aufzog und später auch adoptierte. Daher sein bürgerlicher Name Dössekker. Die literarische Öffentlichkeit sei einem Lügner aufgesessen.

Ganzfried stellte auch gleich die Frage nach dem "phänomenalen Erfolg" des Buches und lieferte den Befund postwendend. Mitleidlos unterwarf er die "mitleidsüchtige Anteilnahme" an den "Bruchstücken" seiner Analyse und kam zu dem Urteil: "Gedankenlos mitleidend, finden wir im Opfer den Helden, mit dem wir uns auf der Seite der Moral verbrüdern können: Binjamin Wilkomirski."

Weitere Artikel folgten, es entstand eine Diskussion. Gleichzeitig recherchierte der Züricher Historiker Stefan Mächler im Auftrag von Wilkomirskis literarischer Agentur dessen Biographie umfassend. Sein Bericht, eine voluminöse Studie, erschien im Jahr darauf und brachte eine staunenswerte Fülle minutiös ermittelter Fakten zutage. Diese auch theoretisch reflektierte Untersuchung bestätigte die ursprünglichen Vorwürfe und stellte die kritische Debatte auf eine neue Grundlage. Damit entpuppte sich ein für "echt" gehaltenes Erinnerungsbuch "als das, was es ist: eine psychologische Rarität, die für die mythenbildende Ausstrahlung des Holocaust zeugen kann". Der Autor, so ein früher Zweifler, sei mit Hilfe seiner Therapeutin zu einer "Identität" gelangt. "So, wie es früher gut zu wissen war, daß man heimlicherweise von Königen abstammte, so hat er sich davon überzeugen können, daß er ein überlebendes Opfer von Auschwitz sei." (Helbling)

Es ist das Verdienst des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, die paradigmatische Bedeutung des Vorgangs für die Gegenwartskultur erkannt zu haben. Um dem Phänomen in prinzipieller Absicht auf den Grund zu gehen, lud sie deshalb vom 23. bis 25. Mai ein zu einer Tagung über das "Wilkomirski-Syndrom", deren thematischen Rahmen der Untertitel entwarf: "Eingebildete Erinnerungen, oder: von der Sehnsucht, Opfer sein zu wollen." Den komplexen Sachverhalt diskutierten dort Historiker, Literaturwissenschaftler, Publizisten, Psychologen und Mediziner über Identität und Erinnerung, Fiktion und Wirklichkeit – stets in bezug auf Wilkomirski und sein Buch "mit dem Gewicht des Jahrhunderts" (NZZ). Standen zu Tagungsbeginn eine fundierte Einführung (Sander Gilman/Chicago) und am dritten Tag "Andere Verwandlungsfälle" auf dem Programm, so entfaltete der zweite Tag schwerpunktmäßig das Wilkomirski-Syndrom selbst.

Zum Auftakt rekonstruierte Stefan Mächler noch einmal Wilkomirskis Geschichte: "Individuelles Erinnern als soziale Interaktion und öffentliches Ereignis". Wie konnte aus dem Schweizer Proletarierkind ein von den Medien gefeierter Holocaust-Überlebender werden? Wilkomirskis Biographie ist zu verstehen als staunenswerter Vorgang einer langjährigen "Selbstschöpfung", durch die sich der Autor eine völlig neue Identität erfand. Dies ist ein vielschichtiger, zudem in hohem Grad sozial vermittelter Prozeß. Denn es bleibt die Frage, wieso ein Mensch mit nachhaltigen Verletzungen aus der Kindheit gerade darauf verfiel, sich eine jüdische Pseudo-Identität zuzulegen. Wohl auch deshalb, weil das Schicksal eines Holocaust-Überlebendem gesellschaftlich höher qualifiziert ist als das eines ungeliebten Adoptivkindes.

Diese Überlegungen zog Mächler in die prägnante Erkenntnis zusammen: "Erinnert und aufgeschrieben wird, was Chancen hat, gehört zu werden." Im Sinnvakuum der Postmoderne nach dem Ende des Kalten Krieges sei der Holocaust in der westlichen Welt zu der "Meistererzählung" schlechthin geworden, zum einzigen allgemein akzeptierten "Modell der Weltdeutung". Als moralisches Paradigma aber teilt es mit seinem Schwarz-Weiß-Klischee die Welt in Gut und Böse und befördert so deren "Tribunalisierung" (Odo Marquard). Eine wichtige Vermittlerrolle spielen dabei die Intellektuellen des Kulturbetriebs, und sie waren es auch, die sich vehement für Wilkomirski einsetzten, bereit, selbst die erwiesene Unwahrheit zu vertuschen.

Zwei Momente von Wilkomirskis Buch beleuchten die charakteristische Interesseninvolvierung dieser Gruppe als Teil der komplexen sozialen Interaktion. In ästhetisch-formaler Hinsicht brachten die "Bruchstücke" zum einen eine Bestätigung für diejenigen, die an den Erkenntnis- und Produktionsmodellen der Avantgarde geschult sind und hier eine Kongruenz von Holocaust-Trauma und sprachlicher Ausdrucksform feststellten. Schon die Signalworte der ersten Seiten von "Bruchstücke" mußten so bei ihnen eine positive Aufnahme finden. Man las da: "Brocken des Erinnerns", "messerscharfe Konturen", "chaotisch Verstreutes", "chronologisch nur selten zu gliedern", das sich "beharrlich dem Ordnungswillen" widersetzt und "den Gesetzen der Logik" entgleitet usw. Zweitens spielten in der Rezeption die Episoden des Buchs eine große Rolle, die Alltagserlebnisse in der Schweiz aus der Optik des "totalitär traumatisierten" Kindes deuten. Eine Schulerinnerung erzählt beispielweise von der Lehrerin, die den Kindern ein Bild des Tell vorweist. Nun gilt es, den Schweizer Nationalhelden zu identifizieren. Während alle "Tell" schreien, fällt Wilkomirski in ein tranceartiges Entsetzen: "’Ich sehe ... ich sehe einen SS-Mann ...‘, sage ich zögernd. ’Und er schießt auf Kinder‘, füge ich schnell hinzu." Die Kinder brüllen vor Lachen, die Lehrerin ist rot vor Wut. Immerhin geht es um den Freiheitsmythos der Schweiz. Durch ihre Wut aber verändert sie sich plötzlich für das Kind in die brutale Aufseherin aus Majdanek. Nach der Schule verprügeln ihn die Kinder. Was Wunder, wenn Binjamin da bilanziert: "Das gute Leben ist nur eine Falle. Das Lager ist noch da!"

Das Deutungsschema der metaphorischen Verschiebung entspricht also haargenau der Unheilsperspektive unseres intellektuellen Establishments von der allgegenwärtigen Gefahr des Faschismus, der überall lauert und natürlich wachsamer Beobachter bedarf. Genau hier gründen ja linkes Selbstverständnis und die Legitimität des Wächteramts. Alles paßte um so besser zusammen, als gleichzeitig die Schweiz wie niemals zuvor ihre wirkliche oder angebliche Verstrickung in der NS-Periode öffentlich thematisieren mußte – ein Vorgang, der dann zur Einrichtung des Holocaust-Unterstützungsfond und schließlich zum Abkommen der Schweizer Banken führen sollte.

Nach den fulminanten Anmerkungen Daniel Ganzfrieds zu Wilkomirskis Lehrstück "aus dem Holocaust-Zirkus", äußerte sich Hans Stoffels (Berlin) zum "Trauma als Faszinosum" und der "Psycho(patho)logie von Pseudo-Erinnerungen und Pseudo-Identitäten". Er untersuchte als Psychiater das Problem der "Pseudologen", also das pathologische Phänomen eines Doppelbewußtseins von Lüge und Selbsttäuschung bei Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung. Im Vergleich zu älteren Fallbeispielen aus der Fachliteratur fällt jedoch bei heutigen Pseudologen die starke Tendenz zur Besetzung einer Opfer-Rolle auf. Dies fällt zusammen mit einer um sich greifenden "Viktimisierung", also der obsessiven Moralisierung der Welt in "Täter" und "Opfer". Attraktiv natürlich die Opfer-Rolle, deren Status Anspruchskapital generiert. Daher das Florieren einer inflationären Rechtsindustrie, gerade in den USA.

Das Opfer weist sich aus durch seine traumatischen Deformationen. Hier gibt es ein prekäres Zusammenwirken von interessierten Einzelnen und Gruppen mit den Massenmedien, die Stoffels als "traumageil" beschrieb. Worin aber liegt das seltsame "Suggestivpotential" von Trauma und Opferkult? Als kognitive und politische Strategie, aber auch mit seinen emotionalen Sekundäreffekten, erlaubt diese Schematisierung die Reduktion der komplexen Realität und betreibt emotionale Regression nach einem dichotomischen Muster. Die Polarisierung durch eine Universalursache entlastet und verspricht dem "Opfer" Gratifikationen für erlittenen Unbill (materielle Entschädigung, soziale Zuwendung), dem voyeuristischen Medienkonsumenten sentimentale Befriedigung.

Es oblag der Diskussionsrunde am Abend im Audimax der Fachhochschule Potsdam, die Ergebnisse zusammenzufassen und vorläufig zu bilanzieren. Neben den Genannten trafen sich hier Michael Bodemann (Toronto), Gabriele Rosenthal (Berlin) und Henryk Broder (Berlin) mit Julius Schoeps (Potsdam), der im Beisein von vier Fernsehanstalten die Runde umsichtig moderierte. Noch einmal trat die Frage nach der Faszination des jüdischen Opfers in den Vordergrund. Schoeps selbst konstatierte den "Komfort", mit dem der Opferstatus in der heutigen Mediengesellschaft vielfach verbunden ist. Das Opfer ist unschuldig, es braucht für seine Handlungen keine Verantwortung zu übernehmen, ja ist per se schon Inhaber einer absoluten Gerechtigkeit. Daraus resultiert auch eine sehr funktionstüchtige Immunisierungsstrategie, die jeglichen Einwand abzuschmettern vermag. So mußten sich denn auch Kritiker von Wilkomirski tatsächlich sagen lassen, sie exekutierten eine "wirklich faschistische Technik der Argumentation".

Klar, wo es um das absolute Böse und sein ultimatives Opfer geht, kann man ja nur noch rotsehen. Natürlich werden da alle normalen Maßstäbe einer praktischen Vernunft außer Kraft gesetzt, und die Beteiligten verfallen in Hysterie. 50 Jahre nach dem Krieg hat eine solche Mentalität günstige Bedingungen, denn die Situation wird diffus, das Terrain nebelig, die Fakten verschwinden und die Zeit der Hochstapler kommt. Ihrer Karriere entspricht eine exzessive "Gedenkkultur" in der BRD und auch, wie Peter Novicks Buch "Nach dem Holocaust" (JUNGE FREIHEIT 16/01) zeigte, in den USA. Zu Recht machte Gabriele Rosenthal plausibel, daß für ein breites Publikum die emotionale Pseudo-Identifikation mit den jüdischen Opfern große Attraktivität besitzt, gehöre man damit doch automatisch zu den "guten Menschen", was allemal bequemer sei, als sich mit der Verstrickung und Täterschaft der eigenen Familie auseinanderzusetzen.

Diese Befunde veranlaßten schließlich Julius Schoeps zu dem düsteren Kommentar, das alles höre sich an wie eine "kollektive Krankheit", was Henryk Broder nur lakonisch bestätigen konnte: Die heutige Allgegenwart der NS-Untaten, speziell aber des Holocaust, regt an, sich einmal die Anfänge des Bewältigungs-Diskurses vor vierzig Jahren in Erinnerung zu rufen. Hier stand nicht zuletzt ein prominenter tiefenpsychologischer Gedanke Pate, nach dem eine traumatische Vergangenheit und auch Schuld erst abgelegt sei und die Zukunft dann gestaltbar werde, wenn man sich zuvor dem Schrecklichen stelle, es verarbeite, integriere und dadurch frei werde. Diese Annahmen bildeten jahrzehntelang den semantischen Horizont öffentlicher Aussprachen und motivierten die aggressive Kritik der Linken an der angeblichen deutschen "Unfähigkeit zu trauern". Gerade der individualpsychologische Befund jedoch macht das Gegenteil plausibel. Die therapeutische Ermutigung hat bei Psychotikern wie Wilkomirski oder Laura Grabowski geradezu die Produktion von Schreckensphantasien angeregt und ihre Leidenssymptome nicht beseitigt, sondern erst recht geschaffen. Ihre bizarre Selbstinszenierung, unterstützt durch Solidarität und weltweites "Mitleid", ließ sie "immer weiter in eine Phantasiewelt abdriften". (Mächler) Wie aber konnte eine breite Öffentlichkeit auf solch "pseudologische" Maskeraden und "Holocaust-Travestien" (Ganzfried) hereinfallen?

Es muß deshalb gefragt werden, ob eine Gesellschaft unter dem Vorwand der Selbstläuterung und der moralischen Perfektionierung sich nicht immer tiefer in ein Schreckenssyndrom hineinschraubt, dessen historischer Grund nicht erfunden und freilich authentisch ist, dessen mediale Dauerinszenierung indes das Böse in seiner vergiftenden Macht über die Herzen und Hirne erst vollendet.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen