© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
Ein schwieriger Aufholprozeß
von Fritz Schenk

Fast täglich werden die Wirtschaftsprognosen für dieses Jahr nach unten korrigiert. Von ursprünglich fast drei Prozent erwartetem Wachstum sind die Experten inzwischen bei gut einem Prozent angekommen, während die Bundesregierung Optimismus predigt und noch immer auf zwei Prozent setzt. Was am Ende für die westlichen Bundesländer herauskommt, bleibt abzuwarten – für die neuen Bundesländer verschweigt inzwischen niemand mehr, daß die dortige Entwicklung stagniert.

Zwei Standardbemerkungen aus der Wendezeit von 1989/90 sollen daher einleitend in Erinnerung gerufen werden. Die eine stammt von Helmut Kohl aus dem einzigen freien Wahlkampf zur Volkskammer der DDR im März 1990: Wenn sich die DDR frei und marktwirtschaftlich entfalten könne, würden aus ihr "in ‚wenigen Jahren‘ blühende Landschaften". Die andere machte Kurt Biedenkopf kurz nach seiner Wahl zum sächsischen Ministerpräsidenten 1990: Wenn man davon ausgehe, daß die alte Bundesrepublik ein durchschnittliches jährliches Wachstum von zwischen zwei und drei Prozent halte, dann würde es bei einem solchen von mindestens zehn bis fünfzehn Prozent in den neuen Ländern fünfzehn bis zwanzig Jahre dauern, bis die wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen Ost und West auf etwa gleichem Niveau wären.

Beides war und ist richtig. Trotz aller Häme, die gegen Helmut Kohl auch heute noch immer wieder vorgebracht wird, vermittelt das äußere Bild der ehemaligen DDR den Augenschein "blühender Landschaften". Die mehr als anderthalb Billionen Mark, die seit der Einheit inzwischen brutto in die neuen Länder transferiert worden sind, können sich im wahrsten Sinne des Wortes "sehen" lassen. Das bestreiten inzwischen nicht einmal mehr die Altkader der SED. Doch weil es nicht gelungen ist, in den neuen Ländern auf ein stetiges (und vor allem eigenständiges) Wachstum von mindestens zehn Prozent pro Jahr zu kommen (Biedenkopf), trügt das äußere Bild, denn die frühere DDR ist eine Krisenregion. Das beweisen die (pro Kopf) dreimal so hohe Arbeitslosigkeit gegenüber dem Westen: die (leider) noch immer anhaltende Abwanderung vor allem jüngerer (und inzwischen gut ausgebildeter) Fachkräfte von Ost nach West; die noch für längere Zeit unumgänglichen Milliarden-Transfers in den Osten und der hohe öffentliche Verwaltungsaufwand, der nach wie vor für die Organisation einer gedeihlichen, vor allem sich selbst tragenden, Wirtschafts- und Sozialordnung erforderlich ist.

Daraus erwachsen der vielfach zu hörende Unmut über die "drückenden Lasten" und die Floskeln, vom Ausmaß des wirtschaftlichen Desasters der DDR und dessen Folgen alles so nicht gewußt zu haben, oder daß man es so nicht habe wissen und voraussehen können. Dem ist zu widersprechen. Der wirkliche Grund für solche späten Erkenntnisse von maßgeblichen westlichen Kreisen aus Politik, Wirtschaft und Publizistik liegt im Desinteresse an der Geschichte des mitteldeutschen Wirtschaftsraumes vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, was bis in die Gegenwart anhält und deshalb den Einigungsprozeß schwerer, langwieriger und kostspieliger werden läßt, als er sein müßte.

Zur Ausgangssituation: Für die Potsdamer Konferenz der Siegermächte 1945 hatte ein Gremium internationaler Statistiker, unter Beteiligung politisch unbelasteter Ressortleiter des deutschen Statistischen Reichsamtes, die wirtschaftlichen Ist-Daten Deutschlands (ohne Österreich, Saarland und das Sudetenland) für das letzte Friedensjahr 1939 ermittelt und nach Besatzungszonen gegliedert. Sie wurden zu Ausgangsdaten der deutschen Nachkriegsstatistik. Danach betrug die Reichsindustrieproduktion pro Einwohner rund 600 Reichsmark. Diesen Wert repräsentierten fast genau die späteren drei Westzonen (609 Reichsmark). Das Wirtschaftsgebiet von Großberlin lag mit 855 Reichsmark deutlich über dem Reichsdurchschnitt, die Gebiete jenseits von Oder und Neiße mit 249 Reichsmark um mehr als die Hälfte darunter. Die Sowjetzone (SBZ) lag mit 725 Reichsmark sowohl darüber als auch deutlich über dem Durchschnitt der Westzonen.

Den hohen Industrialisierungsgrad der SBZ gibt auch die Betriebsstättenstatistik in dem gleichen Dokument wieder. Danach wurden für die gewerbliche Wirtschaft der

– US-Zone (Bayern, Württemberg, Hessen) 433.000 Betriebe mit rund drei Millionen Beschäftigten;

– britischen Zone (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen) 453.000 Betriebe mit 4,2 Millionen Beschäftigten;

– französischen Zone (Baden, Süd-Württemberg, Rheinland-Pfalz, ohne Saarland) 164.000 Betriebe mit einer Million Beschäftigten;

– SBZ jedoch 488.000 Betriebe mit 3,6 Millionen Beschäftigten gezählt.

Diese hohe Betriebsstättenzahl der SBZ (vor allem gegenüber der britischen Zone, die ja wegen des Ruhr-Gebiets als das eigentliche industrielle Herz Deutschlands galt) bei niedrigerer Beschäftigtenquote drückte den für damalige Verhältnisse forrgeschrittenen Rationalisierungsgrad in Mitteldeutschland aus. Die Analyse hält zudem fest, daß sich dieses Grundverhältnis bis Kriegsende sogar noch zugunsten der SBZ verbessert hatte, weil dort erst gegen Kriegsende die schweren Bombardements einsetzten und folglich bis dahin kräftig investiert und modernisiert worden war.

Weit stärker als diese statistischen Daten schlug jedoch zu Buche, daß sich in der SBZ vor allem jene Zweige der gewerblichen Wirtschaft befanden, die für eine Friedenswirtschaft geradezu prädestiniert waren: mit der Autounion (DKW, Horch, Audi, Wanderer) in Sachsen, BMW in Eisenach und Opel in Brandenburg der jüngste und modernere Teil des deutschen Automobilbaus, einschließlich der entsprechenden Zulieferer; die (selbst gemessen am damaligen Weltmaßstab) modernsten Zweige der Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik, die graphische Industrie und (wiederum im Weltmaßstab gesehen) Verpackungstechnik mit einschlägigem Maschinenbau; der modernste Teil der Chemie, Pharmazie, Film- und Kunststoffproduktion, Textil und Bekleidung mit einschlägigem Maschinenbau; Glas, Keramik- und Möbelindustrie, vor allem Ausrüster für Einzelhandel, Gastronomie und Handwerk – die Liste der damals weltbekannten Produkte, Hersteller und Standorte würde sehr lang, und sie würde vor allem zeigen, daß es sich bei den Unternehmen hauptsächlich um gesunde und leistungsstarke Mittelstandsbetriebe mit weltweiten Kundenstämmen gehandelt hatte. Gewiß haben auch dort der Bombenkrieg und danach insbesondere die sowjetischen Demontagen verheerende Schäden angerichtet. Doch gesetzt den Fall, auch der mitteldeutsche Wirtschaftsraum wäre in seiner Grundstruktur erhalten geblieben und hätte am Marshall-Plan teilnehmen können – die Lücken wären im Osten schneller geschlossen worden und der Aufschwung rascher vorangegangen als in den Westzonen.

Daher der zweite geschichtliche Hintergrund: Den entscheidenden und noch länger fortwirkenden Schaden hat die sozialistische Politik angerichtet. Dazu gehörte die Enteignung der Hunderttausenden von Unternehmern, ihre systematische Vertreibung, die Eingliederung ihrer Betriebe in sozialistische Kombinate und die Einführung der zentralen Planwirtschaft sowjetischen Typs.

Insbesondere die sozialistische Kombinatsbildung rief nach den Kriegszerstörungen noch einmal Schäden hervor, die kaum beziffert werden können. Es war den Kommunisten darum gegangen, das private Eigentum nicht nur abzuschaffen, sondern auch zu verhindern, daß die früheren Unternehmen ihre Identität behielten und so überhaupt rekonstruiert und womöglich wiederhergestellt werden könnten. Das für die Industrie verantwortliche Mitglied der ersten sächsischen Landesregierung, Fritz Selbmann, formulierte das 1946 vor Wirtschaftsfunktionären so: "Wenn wir aber die Betriebe jetzt nicht mehr in ihrer bisherigen Form bestehen lassen, sondern sie zusammenfassen, neu aufbauen, Maschinen umsetzen und so weiter, so weiß in einem halben Jahr kein Mensch mehr, was für eine Firma es ürsprünglich war. Dann kann kommen, wer will, hier holt er nichts mehr weg...". Diese "Umsetzungen" waren ein technisches Desaster. Vor allem die modernsten Aggregate gaben an den neuen Standorten wegen statischer Unverträglichkeiten und dadurch auftretender Schäden an Lagern und Wellen oft sehr schnell ihren Geist auf, zumindest wurden die Havarien Legion, die Ausschußproduktion stieg, von früheren Qualitätsstandards konnte keine Rede mehr sein.

Nicht weniger verheerend war die Abschaffung der klassischen Disziplinen der Ausbildung von Volks-, Betriebs-, Finanzwirten und Juristen und ihre Ersetzung durch die neuen sozialistischen Fächer im Dienst der Planwirtschaft. Am Ende des sozialistischen Experiments konnten zwei Generationen von Ökonomen "klassische" Bilanzen weder lesen noch beurteilen, geschweige denn aufstellen. Und das hat darüber hinaus zur Folge, daß noch immer weiten Kreisen der mitteldeutschen Bevölkerung nur schwer eingängig ist, daß in freien Wirtschaften mit uneingeschränkter Unternehmensautonomie Betriebe Gewinne machen müssen, um daraus ihre Investitionen selber zu erwirtschaften.

Diese Entwicklung wurde allen Satellitenstaaten der Sowjetunion von Stalin aufgezwungen. Den noch größeren Schaden allein für die DDR richtete jedoch die Politik Ulbrichts an. Der SED-Chef war sich zwar der geostrategischen Lage der DDR bewußt und ging davon aus, daß Moskau seine westlichste Bastion nie würde preisgeben können, wenn es nicht den gesamten Satellitengürtel verlieren sollte. Doch Ulbricht wollte doppelt stricken. Um von vornherein auszuschließen, daß der Kreml die DDR-Karte überhaupt in das weltpolitische Spiel einbrächte, sollte er neben dem geostrategischen auch noch ein handfestes ökonomisches Interesse am Verbleib der DDR im Sowjetbereich haben. Daher machte Ulbricht die DDR zum wichtigsten Zulieferer für die sowjetische Schwer- und Rüstungsindustrie. Das machte dem Rest der überkommenen mitteldeutschen Branchen den Garaus.

Bis in die Mitte der fünfziger Jahre nahm das SED-Regime nicht nur bewußt in Kauf, daß die enteigneten Unternehmer in den Westen flüchteten, in vielen Fällen wurden sie sogar aktiv zur Flucht getrieben. Erst als die Kommunisten erkannten, daß die meisten von ihnen in Westdeutschland auch als Unternehmer wieder Fuß faßten, daß sie ganz wesentlich zum westdeutschen Wirtschaftswunder beitrugen, ihnen mehr und mehr gute Kaufleute und Facharbeiter folgten, versuchten sie die Fluchtbewegung zunächst zu unterbinden und schließlich durch den Mauerbau 1961 ganz zu verhindern.

Das rein wirtschaftliche Ergebnis dieses unsäglichen sozialistischen Experiments hat ein Expertenbericht beschrieben, der nach der Absetzung von Honecker unter Vorsitz des letzten Planungschefs der DDR, Schürer, Ende Oktober 1989 für den neuen SED-Chef Krenz verfaßt wurde. Danach

- erbrachte die DDR nur noch ein Drittel der Produktivität des Westens, was einen "Arbeitskräfteüberhang" von etwa zwei Millionen Beschäftigten bedeutete;

- betrug der "Verschleißgrad" der industriellen Ausrüstungen mehr als 60 Prozent, mehr als 30 Prozent der Anlagen waren älter als 60 Jahre;

- lag das Gesamtvolumen des Investitionsplanes 1989 unter 60 Milliarden Ostmark, was nicht einmal mehr die dringendsten Reparaturen zuließ und Neuinvestitionen nahezu ausschloß;

- lag die innere Verschuldung der DDR bei rund 200 Milliarden Ostmark, was praktisch die Wertlosigkeit der Sparguthaben aller DDR-Bürger bedeutete;

- war die DDR außenwirtschaftlich mit rund 50 Milliarden "Valutamark" (SED-Bezeichnung für Westmark) überschuldet, hätte für 1990 den Schuldendienst nicht mehr erfüllen können und gegenüber dem Internationalen Währungesfonds (IWF) die Zahlungsunfähigkeit erklären müssen;

- bestand ein innerer "Kaufkraftüberhang" von sechs Milliarden Ostmark, was (um eine galloppierende Inflation zu vermeiden) zu einer entsprechenden Verringerung der Einkünfte aller DDR-Bürger und zu einer Sperrung ihrer Sparguthaben hätte führen müssen, die ohnehin (wie in allen übrigen Staaten des ehemaligen "sozialistischen Lagers") praktisch wertlos geworden waren.

Der Bericht enthielt sich konkreter politischer Empfehlungen, machte aber deutlich, daß die Überwindung dieser Schwierigkeiten aus eigener Kraft "die DDR unregierbar" machen würde. Daher empfahl er die umgehende Aufnahme von Verhandlungen mit der Bundesregierung "mit dem Ziel der Herstellung konföderativer Strukturen zwischen DDR und BRD".

Was der Bericht nicht enthielt und wegen der ideologischen Verblendung seiner Autoren auch nicht enthalten konnte, war die Tatsache, daß für eine auch nur in Ansätzen marktwirtschaftliche Entwicklung die gesamte Infrastruktur fehlte. Weder die Verkehrs- und Kommunikationssysteme noch die Personalsituation in allen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen (Juristen, Betriebs-, Finanz- und Volkswirte, Fachleute für Ein- und Verkauf, Service, Marktforschung, Controlling etc.) erfüllten auch nur die Mindestanforderungen modernen Wirtschaftens, ganz zu schweigen davon, daß kein Unternehmen im klassischen Sinne Kunden, Zulieferer und Abnehmer, Bankverbindungen, Kreditkenntnisse und -übersichten etc. hatte. Zudem waren alle Unternehmen in sich nicht "stimmig", was hieß, daß überall neben verbrauchten auch moderne Anlagen standen, diese aber in maroden Gebäuden, in welchen ihre wirtschaftliche Nutzung gleich Null war.

Völlig überbewertet wurden die weitreichenden Wirtschaftsbeziehungen der DDR zur Sowjetunion. Der Westen hatte einfach nicht glauben und wahrhaben wollen, daß keines der für den Sowjet-"Handel" tätigen DDR-Unternehmen wirkliche Geschäftsbeziehungen hatte. Die entsprechenden Produktionen waren "Planpositionen", wie alles im Sozialismus. Die Absprachen liefen über die Zentralinstanzen beider Staaten sowie über den "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe". Und selbst wenn Monteure aus der DDR in die Sowjetunion entsandt werden mußten, kamen sie dort kaum mit der dortigen Bevölkerung und auch nur kontrolliert mit dem russischen Unternehmenspersonal in Berührung. Es gehörte ja doch gerade zum wichtigsten Wesensmerkmal der Sowjetdiktatur, daß Verbrüderungen mit den Satellitenvölkern nicht stattfinden sollten. Und als dann die Sowjetunion selber zerbrach, waren praktisch fünfzig Prozent der industriellen DDR-Produktion obsolet geworden.

Dies alles war im Westen bekannt, ist auch von Experten des früheren Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung publiziert, vom Gesamtdeutschen Institut und der Bundeszentrale für politische Bildung, Parteien, Abgeordneten und der Presse zugänglich gemacht, aber größtenteils als uninteressant übergangen worden. Aus diesem Nicht-wissen-wollen resultieren die Defizite beim Vollzug der Einheit bis heute.

Die Erinnerung daran, was das mitteldeutsche Wirtschaftsgebiet einmal gewesen war, und der Versuch, an seine Vergangenheit wieder anzuknüpfen, hätte vor dem Bemühen stehen müssen, die maroden, unrentablen und ohne wirkliche Kunden, ohne wirkliche Marktbeziehungen produzierenden Großkombinate durch Subventionen über Wasser halten zu wollen. Offenkundig war selbst für wirtschaftliche Laien, daß die gesamte Wirtschaft der neuen Länder nichts so nötig brauchte wie Investitionen, Investitionen und noch einmal Investitionen. Jede Mark, die der Finanzminister über die Treuhandanstalt durch den Verkauf des Staatsbesitzes der DDR für seinen Haushalt glaubte einnehmen zu können und die folglich "Neuerwerber" für das Diebesgut der Kommunisten erst einmal ausgeben mußten, ging somit für die Investitionen verloren. Und für den langjährigen Beobachter des realen Sozialismus war es denn auch keine Überraschung, daß die Treuhandanstalt ihre Tätigkeit statt mit Milliardengewinnen mit ebensolchen Verlusten abschloß.

Die schnelle und großzügige Rückgabe des von der SED geraubten Eigentums an mehr als eine Million früherer Unternehmer, deren Wiedergewinnung für die Rückführung ihrer Branchen in die neuen Länder, die Nutzung ihrer Erfahrungen, ihrer Marktkenntnisse und ihres geschäftlichen wie internationalen Ansehens, hätten daher nachhaltiger gewirkt und die öffentlichen Hände weniger gekostet als alle Verkaufs- und Subventionsbemühungen der 3.000 (vorwiegend westlich-juristisch ausgebildeten) Beamten der Treuhandanstalt. Das aber wollte die Mehrheit der ersten frei gewählten Volkskammer nicht. Ihr schwebte eine "bessere DDR" in der freien und "reichen" Bundesrepublik vor. So kamen jene Passagen in den Einigungsvertrag, die die Rückgabe des allergrößten Teils des "Volkseigentums" ausschließen. Daß dies eine Bedingung der Sowjetunion für deren Zustimmung zur Wiedervereinigung gewesen sei, ist inzwischen von Gorbatschow und den übrigen Beteiligten des Zwei-Plus-Vier-Vertrages mehrfach dementiert und damit als politische Lüge und Irreführung des Bundesverfassungsgerichts entlarvt worden.

Den Einigungsvertrag in der ersten Legislaturperiode ab 1991 also nicht in dieser Richtung energisch nachgebessert zu haben, ist das große Versäumnis aller Parteien. Damit haben sie die sozialistischen Hypotheken konserviert, den demokralischen Rechtsstaat zum Hehler kommunistischen Raubgutes gemacht und ihn damit auf das schwerste beschädigt. Damit wurden (und werden) jedoch die wirtschaftlichen Altlasten des Sozialismus bis in die nächsten Generationen weitergereicht. Als das kommunistische System zusammengebrochen war, waren die ehemaligen DDR-Unternehmer zwischen Mitte fünfzig und sechzig Jahre alt. Sie hatten wache Erinnerungen an ihre Elternhäuser und wären (wie beim Neubeginn nach der Flucht im Westen) mit großer Opferbereitschaft daran gegangen, ihr Eigentum wieder in Ordnung zu bringen. Inzwischen sind sie um oder bereits über Siebzig. Ihre Erben haben kein Verhältnis mehr zum Osten. Und so wiederholt sich, was für die fünfziger Jahre typisch war: Sie bauen die hiesigen Betriebe aus und ziehen gute Kräfte aus dem Osten an. Die Abwanderung von Ost nach West wird daher nicht nur anhalten, sondern dürfte in den nächsten Jahren zunehmen. Stellt man zudem in Rechnung, daß ab der nächsten Legislaturperiode mit der Entschädigung der mitteldeutschen Alteigentümer begonnen werden muß (deren Höhe vom Europäischen Gerichtshof mit Sicherheit über die von der Bundesregierung veranschlagten Summen angehoben wird), kommen auf Berufstätige, Unternehmen und sonstige Steuerzahler ganz erhebliche neue Lasten zu, die durch großzügige Rückgabe vermieden worden wären und sich im Gegenteil in selbsttragender Prosperität niedergeschlagen hätten.

Das Einigungswerk seit 1991 ist in wirtschaftlicher Hinsicht trotz allem eine Erfolgsbilanz, auf die alle Deutschen stolz sein können. Das zeigen alle Vergleiche der früheren DDR mit den anderen Staaten und Gebieten des ehemaligen "sozialistischen Lagers". Die ökonomischen Probleme der Gegenwart sollten aber nicht mehr mit den Sonderlasten der deutschen Einheit entschuldigt werden. Sie erwachsen vorwiegend aus dem Reformstau, den Deutschland überwinden muß. Das ist um so dringender geboten, weil mit der EU-Erweiterung durch die Reformstaaten des früheren Ostblocks die bisherigen deutschen Probleme zu gesamteuropäischen würden, und das müßte zu schwerwiegenden politischen Verwerfungen führen.

 

Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 Co-Moderator, zuletzt Redaktionsleiter des ZDF-Magazins. Danach war er bis zu seiner Pensionierung 1993 Chef vom Dienst der Chefredaktion des ZDF. Seither ist er als freier Publizist tätig. Zuletzt schrieb er in der JF 14/01 über den Medienkanzler und die Opposition.


 
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