© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/01 22. Juni 2001

 
Pankraz,
Alfred Döblin und die Masse als Störenfried

In der sehr informativen kleinen Ausstellung über Alfred Döblin im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße findet Pankraz (in der Antwort auf eine Zeitungsumfrage von 1932) folgende Sätze des Schriftstellers: "Du mußt dich vor den Massen hüten. Sie sind das Übel von heute und die wirklichen Verhinderer eines menschlichen Daseins. Sie sind anmaßungsvoll und Störenfriede, und vor allem sind sie, in neuer Form und unausrottbar, Gewaltherrscher und Absolutisten."

Dies also von einem unbestreitbaren Menschenfreund und scharfen Kritiker herrschender Klassen, der jahrelang als Kleiner-Leute-Arzt in einem proletarischen Viertel praktizierte und die Menschen in ihrer Nacktheit genau kannte, die schlichten wie die anspruchsvollen, die kleinmütigen wie die großkopfeten. Man darf seinem Urteil trauen.

Besonders bemerkenswert der Hinweis auf die "neue Form", in der sich die Gewaltherrschaft und der Absolutismus der Massen "heute" kundgäben. Döblin meint ausdrücklich nicht den "Massenwahn von der Straße" (Ortega y Gasset), wie er gelegentlich bei politischen Großdemonstrationen oder Hexenkampagnen ausbricht, nicht momentane Hysterie und zerstörerische Raserei, sondern die gewissermaßen "alltägliche" Diktatur der Masse, die sich im Zeichen von Demokratie, Meinungsumfragen und neuen Medien etabliert, das, was die ehemalige britische Primierministerin Margaret Thatcher kürzlich als "gewählte Diktatur" bezeichnet hat.

Seit Döblin hat sich diese "gewählte Diktatur", sprich: der Absolutismus der Masse, explosionsartig ausgeweitet, ist zum alles beherrschenden Faktor des modernen Lebens geworden. Die Masse verfügt jetzt über ein Surplus-Einkommen, kann sich dieses und jenes leisten, und die Produktion wird folgerichtig in allen Sparten zur Massenproduktion, bedient in erster Linie und schließlich exklusiv den Geschmack der Massen. Alle sozialen Kräfte stellen sich darauf ein: die Geschäftsleute, die verdienen wollen, die Politiker, die gewählt werden wollen, die Künstler, die engagiert, geliebt und berühmt werden wollen.

Worin aber besteht der Geschmack der Masse? Hat sie überhaupt einen? Sie ist von sich aus unschöpferisch, kann nicht einmal richtig nachahmen, sondern das, was sie nachahmen kann, muß extra für sie zurechtgekaut und eingespeichelt werden wie die Kropfnahrung für Pinguin-Küken oder Mythenstoffe in Form von leicht eingängigen Märchen für Einschlafkinder. So entsteht im Zeichen der Massendiktatur eine Vorkau-, Einspeichel- und Verniedlichungs-Industrie, in der die Werke originaler Meister in eine Art Babynahrung für Erwachsene verwandelt werden.

Weil das Vorkauen ein Massengeschäft ist, bringt es auch Massengewinn, während die eigentlich Kreativen sich mit Brosamen begnügen müssen. Das ist vielen von denen natürlich nicht recht, sie versuchen, sich selber als Vorkauer zu betätigen, was selbstverständlich auf Kosten ihrer Kreativität geht. Ein allgemeiner Zug der Kultur nach unten setzt ein. Einem Minimum an schöpferischen Ideen steht ein riesiger Verwertungsbetrieb entgegen, der immer alberner und langweiliger wird.

Das ist es, was Döblin "Störung" und "Verhinderung eines menschlichen Daseins" nennt. "Menschliches Dasein" heißt ja gewißlich auch: Respekt vor großen Werken, liebende Genauigkeit in der Rezeption und Nachahmung, so wie sie etwa im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts die damals mächtig aufblühende Volksmusik gegenüber der Musik der Wiener Klassiker und der Romantik bewiesen hat.

Diese Musik (man denke an die Lieder Robert Schumanns) war zwar ihrerseits "vom Volk inspiriert", schöpfte bei den Motiven und Melodien aus nationalen Traditionen, war aber ein Kunstprodukt von höchster Signifikanz und Ausdifferenziertheit. Seine so glorios gelingende Pflege in den zahllosen populären "Liedertafeln" der Epoche war nur möglich, weil das Volk noch nicht zur Masse geworden war, weil es sich noch an aristokratischen Vorgaben orientierte und ihm die "Anmaßung" (Döblin) fremd war.

Heute ist die Anmaßung allgemein. Die Masse kann und will sich gar nicht mehr vorstellen, daß es wichtigste, für das Ganze entscheidende Geistesbezirke gibt, die über ihre eigenen Kükenbedürfnisse hinausreichen. Für die sogenannte "breite Masse" von heute ist Geist dasselbe wie Narrheit. Und immer mehr Geistesaristokraten finden sich mit der ihnen zugewiesenen Narrenrolle ab, spielen bewußt den Pausenclown und hoffen, daß man sie ordentlich dafür bezahlt.

Andere, die schon reich sind, versuchen, auf Inseln zu flüchten, sich mit teuren Accessoires der Erlesenheit und der Distinktion zu umgeben. Aber die Masse ist ziemlich gnadenlos. Sie räkelt sich in den Fernsehsesseln und möchte immer nur sich selber abgebildet sehen. Inseln der Exklusivität läßt sie nicht gelten. Bei der öffentlichen Kommentierung von Ereignissen, Entscheidungen, Gütern und Werten wird nur noch der quantitative Maßstab angelegt, wird nur noch danach gefragt, wieviel "Prozent" eine Zustimmung oder eine positive Bewertung hinter sich hat.

Das Döblinsche "Hüte dich!" wirkt angesichts dieser Lage geradezu gespenstisch. Es ist, wie wenn einer einem Ertrinkenden zuruft, er möge sich die Nase zuhalten und schön durch den Mund atmen. Mit bloßem Sich-Hüten ist nichts mehr getan. Es gilt, den Rückwärtsgang einzulegen (oder entschlossen durchzustarten, wenn einem das lieber ist). Aus der Masse muß wieder Volk, aus den geistig Anspruchsvollen und auf Distinktion Bedachten müssen wieder durchsetzungsfähige Aristokraten werden.

Ein Kollege von Dr. med. A. Döblin, der antike Arzt Galenus, hat dazu schon vor langer Zeit einen guten Spruch getan. Gesunde Menschen sind aristokratisch, lehrte er, denn wer sich gehen läßt, geht vor der Zeit zugrunde.


 
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