© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
"Die Unabhängigkeit Kosovos kommt"
Interview: Der albanische Ex-Außenminister Arian Starova über die Lage im Kosovo und Mazedonien und dem Traum von "Großalbanien"
Carl Gustaf Ström

Angesichts der erneuten Zuspitzung der Lage in Mazedonien führte Carl Gustaf Ströhm das folgende Interview mit dem albanischen Politiker Dr. Arian Starova. Starova ist stellvertretender Vorsitzender der Liberalen Union der Republik Albanien und war Außenminister seines Landes unter der Präsidentschaft Sali Berishas. Seine Partei steht in Opposition zur bislang regierenden albanischen Linksregierung in Tirana. Starova, der zugleich Vorsitzender des Albanischen Instituts für Internationale Studien (AIIS) in Tirana ist, zeigt die Balkan-Situation – von Mazedonien bis Kosovo – aus einer Perspektive, die sich erheblich von den im Westen gängigen Klischeevorstellungen unterscheidet. Mit ihm wollen wir die "andere" Seite des gegenwärtigen Konflikts zu Wort kommen lassen.

Herr Starova, man spricht neuerdings häufig von der Gefahr eines "Groß-Albanien" – vor allem im Zusammenhang mit dem albanisch-mazedonischen Konflikt in der Republik Mazedonien. Ist "Groß-Albanien" eine reale Gefahr?

Starova: Es gibt eine ziemlich verbreitete und zugleich falsche Propaganda über die "großalbanische Idee", die angeblich auch in den albanischen politischen Kreisen Mazedoniens existieren solle. Das ist reine Propaganda – aber dahinter steckt natürlich eine Absicht. Es ist die Absicht, die Albaner auf eine Stufe mit den Serben zu stellen: bei den einen gab oder gibt es eben die Idee von "Groß-Serbien" – oder bei den Mazedoniern die Idee von "Groß-Mazedonien" – und bei den Albanern die großalbanische Idee. Damit werden Aggressor und Opfer auf die gleiche Stufe gestellt. Selbst wenn die Idee von einem "Groß-Albanien" in dieser Form existieren würde – was, wie ich betone, nicht der Fall ist –, muß man eines bedenken: Albanien ist arm und hat schwere innere Probleme. Wie sollte es in absehbarer Zeit in der Lage sein, eine solche Idee überhaupt zu verwirklichen? Zweitens haben die maßgeblichen albanischen Führer im Kosovo und in Mazedonien viele Male erklärt, daß sie keine Absicht haben, sich mit Albanien zu vereinigen. Das wäre auch praktisch unmöglich – und in Albanien selbst gibt es keine ernstzunehmende Absicht in dieser Richtung. Im Gegenteil: Wenn überhaupt, dann könnte man die heutige albanische Führung beschuldigen, die Kosovo-Albaner in ihrem Streben nach Autonomie nicht genügend zu unterstützen. Die Führer der Albaner in Mazedonien haben überdies erklärt, daß sie für die Bewahrung der Integrität des mazedonischen Staates eintreten. Sogar die Leute, die jetzt in den Bergen bei Tetovo und anderswo mit der Waffe in der Hand kämpfen, haben wiederholt betont, daß sie nicht für die Desintegration des Staates sind.

Die Albaner, die in Mazedonien zu den Waffen gegriffen haben, werden nicht nur von der mazedonischen Regierung, sondern auch von führenden westlichen Funktionären – etwa dem Generalsekretär der Nato, Lord Robertson – als "Banditen" bezeichnet. Sind sie wirklich Banditen?

Starova: Nein, sie sind keine Banditen. Natürlich möchte niemand, daß Probleme durch Gewaltanwendung geregelt werden – auch ich möchte das nicht. Aber die Situation in Mazedonien ist sehr spezifisch. Die Albaner in Mazedonien, immerhin ein Drittel der Gesamtbevölkerung, haben seit nunmehr zehn Jahren durch ihre gewählten Politiker gewisse Rechte gefordert und angemahnt. Die Albaner wollen als konstitutives Volk in Mazedonien anerkannt werden. Sie fordern Gleichberechtigung in der Sprachenfrage, sie fordern ferner, gleichberechtigt mit den slawischen Mazedoniern behandelt zu werden. Aber während dieses Jahrzehnts ist in dieser Hinsicht nichts geschehen. Die Albaner in Mazedonien befürchteten, daß die mazedonische Seite die Lösung des albanischen Problems auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben will. Deshalb verloren die Albaner ihre Geduld, sie haben sich bewaffnet – und jetzt tun sie das, was uns allen bekannt ist.

Halten Sie dieses Vorgehen für berechtigt?

Starova: Wenn man betrachtet, wie die bewaffneten Albaner vorgehen, dann fällt eines auf: Sie haben nicht als erste angegriffen, sondern nur auf die Angriffe der mazedonischen Armee reagiert. Wenn sie mazedonische Soldaten oder Polizisten getötet haben, so geschah das erst, nachdem sie angriffen wurden. Niemand weiß, wieviele albanische Zivilisten durch die Angriffe der mazedonischen Regierung umgebracht worden sind. Dazu kommt noch der materielle Schaden durch das Beschießen und Abbrennen albanischer Häuser und Dörfer.

Wie könnte eine Problemlösung aussehen?

Starova: In der öffentlichen Verwaltung und Regierung Mazedoniens sind die Albaner mit nur fünf Prozent vertreten. Ihr Anteil an der Bevölkerung aber beträgt mehr als dreißig Prozent. Die gegenwärtige mazedonische Regierung und die mazedonische Armee wenden Gewalt gegen die Albaner an – und zwar nicht nur gegen jene, die sich bewaffnet in den Bergen aufhalten. Das Verhalten der mazedonischen Regierung führt in eine Sackgasse. Es führt kein Weg daran vorbei: Vertreter der bewaffneten Albaner sollten an den Verhandlungstisch eingeladen werden. Gemeinsam mit ihnen sollte man versuchen, eine Lösung zu finden. Andererseits muß man doch sehen, daß die totale Unterstützung, welche die mazedonische Regierung durch die Europäische Union erfahren hat, zu einem Mißbrauch dieses Blankoschecks führte. Ich glaube, inzwischen dämmert es den Politikern und Funktionären der EU, daß sie hier zuviel des Guten oder Schlechten taten und der mazedonischen Regierung überstürzt und unüberlegt zu viel Unterstützung angedeihen ließen. Andererseits bin ich der Meinung, daß sich auch jene Politiker der Albaner in Mazedonien, die an der Koalitionsregierung von Skopje beteiligt waren und sind, nicht richtig verhalten. Sobald die Regierung damit begann, die albanischen Dörfer zu beschießen, hätten diese Politiker sofort ihren Rückzug aus der Regierungskoalition verkünden sollen. Ein solcher Schritt hätte die internationale Staatengemeinschaft auf das wirkliche Ausmaß der Mazedonien-Krise aufmerksam gemacht. Damit wäre schon vor zwei Monaten ein Ende der Beschießungen möglich gewesen. Ich wiederhole: die mazedonische Regierung sollte sofort die Gewaltanwendung einstellen – dann wird man sehen, daß es keine albanischen Angriffe geben wird.

Die mazedonische Seite argumentiert, die Albaner stellten eine demographische Zeitbombe dar – sie hätten mehr Kinder und würden dadurch auf die Dauer die Mehrheitsverhältnisse verändern ...

Starova: Was soll das heißen? Das ist ein natürliches Faktum des Lebens. Das hat nichts mehr mit Politik zu tun. Wenn die Mazedonier so etwas behaupten, dann zeigen sie doch nur, daß sie nicht wissen, wie man politisch agiert. Sie sollten nach Hause gehen und anderen das Feld überlassen. Jedermann kann in seiner Familie so viele Kinder zeugen und großziehen, wie er möchte. Die Albaner in West-Mazedonien befinden sich übrigens auf ihrem eigenen historischen Territorium. Diese Gebiete gehören historisch nicht zu Mazedonien. Aber das ist nicht das Problem. Die Albaner wollen keine territorialen Veränderungen, sondern die Verwirklichung ihrer eigenen verfassungsmäßigen Rechte. Sie wollen keine Staatsbürger zweiter Klasse sein.

Wie soll es im Kosovo weitergehen?

Starova: Ich meine, das dort ausgeübte de-facto-Protektorat sollte in ein offizielles Protektorat der Uno umgewandelt werden. Zweitens sollte im Uno-Sicherheitsrat und in anderen internationalen Gremien eine Diskussion über die Zukunft des Kosovo begonnen werden – mit dem Ziel der Unabhängigkeit. Es müßte die Uno-Resolution 1.244 diskutiert und kritisch überprüft werden. Diese Resolution spricht von der "territorialen Integrität Jugoslawiens". Das ist ein großes Hindernis für die Verwirklichung der Unabhängigkeit des Kosovo. Man sollte jetzt beginnen, im Kosovo Institutionen zu schaffen, die einem freiem Lande entsprechen. Man sollte freie Wahlen abhalten. Natürlich sollten die Kosovo-Albaner die Rechte der serbischen Minderheit ebenso respektieren wie alle anderen Minderheiten. Eine internationale Konferenz sollte zusammentreten und sich mit diesen Kernproblemen befassen. Das wäre ein erster Schritt für eine langfristige Stabilisierung des
Balkans.

Halten Sie es für möglich, daß die internationale Staatengemeinschaft das Kosovo an Serbien bzw. Jugoslawien zurückgibt?

Starova: Nein. Natürlich gibt es gewisse Interessen, die in diese Richtung gehen wollen. Aber so etwas würde vollkommen an der wirklichen Situation des Kosovo vorbeigehen und könnte nur neue unübersehbare Konflikte auslösen. Ich glaube, daß sich die meisten westlichen Politiker trotz allem dieser Tatsache bewußt sind. An der Unabhängigkeit Kosovos führt über kurz oder lang kein Weg vorbei.

 

Arian Starova: Der liberale Politiker war bis 1997 Außenminister


 
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