© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Die Chicago-Boys formieren sich
Rußland: Die neue Partei SPS soll als dritte Kraft eine Alternative zu Putins Partei der Einheit und den Kommunisten werden
Wolfgang Seiffert

Putin, Tschubais und die SPS" – so betitelte die russische Zeitung Nesawissimaja Gaseta vor kurzem einen längeren Bericht über die Beziehungen zwischen dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin und dem Vorstandsvorsitzenden des Energieriesen RAO-EES, Anatolij Tschubais, mit der Duma-Partei "Union der rechten Kräfte" (SPS). Man könnte hinzufügen: und dem Gaskonzern "Gasprom". Denn der Monat Mai ging mit zwei Ereignissen zu Ende, die für die politische Situation im gegenwärtigen Rußland typisch sind: Der russische Präsident ist dabei, seine Machtstellung weiter auszubauen und das Land auf neue Vorstellungen von einer solidarischen und gerechten Gesellschaft mit einem starken Staat auszurichten.

Von letzterem zeugt vor allem seine Gerichtsreform, die dem Land Schöffengerichte und eine Brechung der Macht der Staatsanwaltschaft bringen soll und die er auch gegen starken Widerstand durchzusetzen entschlossen ist. Von ersterem spricht die Ersetzung des langjährigen Gasprom-Chefs Rem Wjachirjew durch den jungen Alexei Miller, der wie Putin aus St. Petersburg kommt und einst in der dortigen Stadtverwaltung Vertreter Putins im Amt des Vorsitzenden des Komitees für außenwirtschaftliche Beziehungen war. "Die Ernennung Alexej Millers – bislang stellvertretender Wirtschaftsminister – zum Vorstandsvorsitzenden von Gasprom war für die Manager des Unternehmens ein Schock. Von der Entscheidung erfuhr die Betriebsleitung erst eine Stunde vor Beginn der Aufsichtsratssitzung im Gespräch mit Präsident Putin", kommentierte die Nesawissimaja Gaseta am 31. Mai betont aufgeregt.

Am 27. Mai gründete sich die "Union der rechten Kräfte" in Moskau als Partei. Bisher war die SPS nur eine politische Bewegung, jetzt ist sie offiziell eine "richtige" Partei nach dem kurz zuvor von der Duma verabschiedeten Parteiengesetz, mit der bei den künftigen Wahlen zum Parlament und des Präsidenten zu rechnen ist. Danach müssen Parteien u.a. wenigstens 10.000 Mitglieder haben – ansonsten gibt es kein Geld aus Steuermitteln (JF berichtete). Auch wenn die SPS bislang von ihrer Stärke eher mit der deutschen FDP zu vergleichen ist, könnte Ihr in einem "Drei-Parteien-System" eine Schlüsselrolle zukommen.

Zum Vorsitzenden wurde Boris Nemzow gewählt, der junge Mann aus Nishnij Nowgorod, der dort auch die Privatisierung des Landes und der Landwirtschaft voranbrachte, dann unter Präsident Boris Jelzin Vizeministerpräsident wurde. Das ist geschickt. Denn der eigentliche SPS-Gründer, RAO-EES-Chef Tschubais, ist wegen der ersten sogenannten Voucher-Privatisierung unbeliebt. Dennoch oder gerade deswegen sind die Führungskräfte der SPS Programm: Anatoli Tschubais und Jegor Gaidar, die für die Privatisierung der neunziger Jahre verantwortlich zeichnen; Sergej Kirijenko, der junge Ex-Ministerpräsident, der für die Rubelkrise 1998 steht und im Dezember 1999 vom Spiegel als "Leitfigur der Reformer" gefeiert wurde. Tschubais kehrte erst am Tag vor dem SPS-Parteikongreß von Gesprächen mit US-Vizepräsident Dick Cheney und Rußland-Expertin Condoleeza Rice aus Washington zurück. Ohne Übertreibung kann man sagen: Hier formiert sich das russische Kapital, das den Kapitalismus "pur" will; das auf die USA eingeschworen ist (alle Spitzenkräfte sprechen Englisch, waren längere Zeit in den USA und denken wohl auch entsprechend); das (inzwischen) absolut antikommunistisch und ohne jedes "soziale Herz" ist.

Tschubais ist ein außergewöhnlicher Mann mit hoher Intelligenz, der das Schicksal Rußlands in den letzten zehn Jahren schon mehrmals in eine bestimmte – seine – Richtung dirigierte: Anfang der neunziger Jahre in die Privatisierung und zur Einführung des "Wilden Kapitalismus" nach dem Modell der "Chicago-Boys": Also die Richtung Jeffrey Sachs’ (der als Berater aber in – an? – Rußland scheiterte) und der monetaristischen Schule des Nobelpreisträgers Milton Friedman, auf den sich Ronald Reagan und Margaret Thatcher beriefen. Zweimal half Tschubais Jelzin die Präsidentenwahlen zu gewinnen; beim letzten Mal eingestandenermaßen, um den Sieg des Kommunisten-Chefs Gennadi Sjuganow zu verhindern. Heute versteht er sich und seine Mannschaft als die Alternative zu Putin, von der Kanzler Schröder bei seinem Gespräch mit Bush noch meinte, es gäbe sie nicht. Schon am 23. Mai hieß es in der Nesawissimaja, die Führer der SPS würden aus taktischen Gründen die ökonomische Politik Putins unterstützen (etwa um sich den Energieriesen RAO-EES als finanzielle Basis zu sichern), strategisch aber sei für die SPS Putin der Gegner. Die SPS wolle den Posten des Ministerpräsidenten (wohl für Tschubais) und schließlich mit einem eigenen Kandidaten an den Präsidentenwahlen teilnehmen. Gegen wen? Natürlich gegen Putin!

Hat das Auftreten dieser Kräfte als politische Partei Auswirkungen auf Deutschland und Europa? Gewiß. Zwar liegen sie nicht gerade auf der Hand; aber vorhersehbar sind sie schon; ist schon lange klar, daß der Markt Rußlands für Deutschland und Europa immer wichtiger wird, so läßt sich nun sagen, daß die ebenso unvermeidbare politische Rivalität zwischen Europa/Deutschland einerseits und den USA andererseits nun in Rußland und um Rußland ausgetragen wird. Das gibt unter Umständen interessante personelle Konstellationen: Putin gegen Tschubais – Schröder gegen Bush; kooperativ: Putin mit Schröder – Bush mit Tschubais. Es fragt sich natürlich, ob und wenn ja, welche deutschen und europäischen Politiker diese Konstellation überhaupt begreifen und welche politischen Konsequenzen sie ziehen. Nach dem Treffen zwischen Putin und US-Präsident George W. Bush Mitte Juni im slowenischen Laibach und vor dem für Ende September geplanten Staatsbesuch Putins in Berlin wird diese Frage immer dringender.

Fototext: Anatolij Tschubais (l.), Boris Nemzow: Beide waren bis März 1998 Stellvertreter von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Letztes Jahr veröffentlichte er das Buch "Wladimir W. Putin – Wiedergeburt einer Weltmacht?".


 
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