© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
www.dol2day.de
Internet-Gemeinde wählt Kanzlerkandidaten
Alexander Falz

Dreizehntausend Leute, so will es "Certo", der Spitzenkandidat des PDS-Ablegers im Internet, SII, herausgefunden haben, machen bei dem größten Politik-Spiel im Internet mit. Eine große Zahl meist jugendlicher Nutzer wählt sich täglich in die Adresse www.dol2day.de  ein, um sich in das Spiel um dol-points und Bimbes, wie die Netz-Währung genannt wird, zu stürzen. 22 Parteien bewerben sich inzwischen um die Gunst der "doler", und man könnte meinen, täglich werden es mehr.

Drei Kanzlerkandidaten hoffen darauf, bei den jetzt anstehenden Wahlen vom 1. bis zum 4. Juli gewählt zu werden, um für die nächsten Monate die Regierung bei dol2day übernehmen zu können. Da ist zunächst der jetzige Kanzler "ElVosso", der dem linksbürgerlichen Lager entstammt und aus dol am liebsten eine multikulturelle Organisation der schönen neuen und globalen Welt machen würde. Und es gibt den genannten "Certo", ein PDS-Jungunternehmer und Ex-Kneipier aus dem hohen Norden, der nun zusammen mit den Internet-Grünen und der sozialdemokratischen SIP nach den Cyber-Sternen greift. Und schließlich steht noch der Student "Caligula" zur Wahl, der der "Konservativen Deutschen Partei" (KDP) angehört. Da alle anderen Parteien auf der rechten Hälfte des Internet-Spektrums auf eigene Kandidaten verzichtet haben, könnte er diesmal reale Chancen haben.

Unter seiner Leistung sollen nach vier langen Legislaturperioden die konservativen Kräfte erstmals wieder an der Internetregierung teilhaben. Auf den linken Netz-Seiten wird bereits eine Art "rechter Volksfront" befürchtet, wenn es "Caligula" gelingen sollte, auch maßgebliche Anteile der Wähler im bürgerlichen Spekrtum zu gewinnen.

Die Entwicklung der Parteienlandschaft im Netz zeigt eine Richtung, die den Politikern zu denken geben müßte. Waren zur Zeit der Gründung von dol, vor etwa einem Jahr, die Cyber-Parteien noch eng an das reale Leben angelehnt, so hat man sich im Laufe der Zeit munter gespalten. Es gibt zwei CDU-Listen, zwei von der SPD, vier rechte und konservative, etwa ebensoviele kommunistische und so fort. Die zweitgrößte Partei ist seit längerer Zeit die rechte "FUN" (Freiheitlich Unabhängig National), die der stärksten Partei CIP (Christdemokratische Internet-Partei) dicht auf den Fersen ist.

Das wird von den Mitspielern offenbar so lange nicht als problematisch empfunden, wie es keine Fünf-Prozent-Klausel gibt. Im Gegenteil: der linke Listendschungel in den Studentenparlamenten hat vorgemacht, wie man sich durch eine Vielzahl an Gruppen und Grüppchen lange Zeit die Machterhaltung sichern kann. Zusätzlich wird die Parteienlandschaft im Netz noch durch eine Vielzahl an Initiativen durcheinandergewirbelt, denen man sich unabhängig von der Parteizugehörigkeit anschließen kann. So arbeiten in der "Volkssozialistischen Initative" Mitglieder von kommunistischen und linkssozialistischen Parteien fröhlich zusammen, was sich von der beliebten "Biergruß"-Initiative, die sich der Erhaltung des Reinheitsgebotes und eines erhöhten Konsums von Gerstensaft verschrieben hat, von selbst versteht.

Kurzum: dem braven CDU- oder SPD-Parteisekretär in Neumünster oder Pforzheim könnte schon mal schwindlig werden, wenn er wüßte was der Nachwuchs da so alles treibt, ohne um Erlaubnis zu fragen. Bei dol wird diskutiert, geschimpft und geflirtet. Da spricht man sich das Mißtrauen oder Vertrauen aus über alle Parteigrenzen hinweg.

Das Internet sei sich "nicht zensierbar", meint im dol-chat denn auch der Antifa-Publizist Burkhard Schröder: "In Deutschland geht man aber immer noch davon aus, daß die Obrigkeit den Untertanen vorschreiben könnte, was sie zur Kenntnis zu nehmen hätten", so Schröder. Und das trifft auf die Politik ebenso zu wie für die klassische bürgerliche Publizistik. Doch die Zeiten sind endgültig vorbei, als noch ein relativ kleines Absprachekartell von Süddeutscher Zeitung bis hin zu Spiegel, Stern und Frankfurter Rundschau bestimmen konnte, was auf der politischen Agenda stand und was nicht. Der "Strukturwandel der Öffentlichkeit", den die Meisterphilosophen wie Jürgen Habermas so fest im Griff zu haben glaubten, entgleitet ihnen zusehends. Das Internet kennt keine hierarchischen Informationsstrukturen mehr. Jeder, der will, kann sich jederzeit überall über alles informieren. Und wer da glaubt, er könne die ganze Chose mit Zensur und Filtern wieder unter seine Kontrolle bringen, ist naiv.

Doch die Einflugschneisen des "realen Lebens" sind vielfältig. So können die Parteien auch Prominente zum Chatten bei dol2day einladen. Franz Müntefering und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger waren schon da. Auch Sophia Oppermann, Geschäftsführerin von "Gesicht zeigen" hat dol schon beehrt – im "Chat gegen Rechtsextremismus". Konservative und rechte Gesprächspartner fehlten bislang ganz. Ein Chat mit dem Publizisten Claus Nordbruch durfte unter der grünen Netz- Kanzlerin "Boubacar" nicht stattfinden. Eine Unterhaltung der dol-Gemeinde mit der Antifa-Frau Angela Marquardt von der PDS dagegen schon. Aber warum sollte es bei dol auch völlig anders sein als im "realen Leben"?

Vom 6. bis zum 9. Juli könnte es noch einmal richtig spannend werden am Bildschirm: da finden nämlich die Stichwahlen statt. Und falls der Konservative "Caligula" gegen den PDS-Mann "Certo" antritt, darf man gespannt sein, wie sich die Wähler der Neuen Mitte bis hin zur Union verhalten werden. Ein Spiel also, bei dem die Politik im "Realen Leben" wohl in Kürze der Politiksimulation nachfolgen wird.


 
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