© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/01 06. Juli 2001

 
Moderne Tagelöhner im Aufwind
Zeitarbeit: Leiharbeiter zwischen Aufstiegschancen und sozialem Abstieg / Angriff auf gewerkschaftliche Tarifgebundenheit
Ronald Gläser

Die Deutsche Bahn (DB), die annähernd eine Viertelmillion Mitarbeiter beschäftigt, will massiv Stellen abbauen. Seit der Bahnreform 1994 sind bereits 120.000 Arbeitsplätze abgebaut worden. Die überzähligen Angestellten sollen nach dem Willen von Bahn-Chef Hartmut Mehdorn an Zeitarbeitsfirmen "ausgelagert" werden – offiziell "Vermittlungs- und Transfergesellschaften" genannt.

Zu diesem Zweck wurde die DB Vermittlung GmbH als Tochterunternehmen gegründet, die zur Jahresmitte ihre Arbeit aufnehmen wird. Die Mitarbeiter werden erhebliche finanzielle Einbußen zu ertragen haben. Ihre Gehälter werden zudem zum überwiegenden Teil künftig von den Arbeitsämtern mitgezahlt. Der Betriebsrat hat dem Konzept bereits zugestimmt. Die Personalkosten sollen binnen vier Jahren um über drei Milliarden Mark gesenkt werden. Mit diesem arbeitsmarkttechnischen Paukenschlag rückt die Zeit- bzw. Leiharbeit wieder ins Rampenlicht des Interesses. Zeitarbeit ist 1972 gesetzlich geregelt worden. Als Leiharbeitnehmer gilt, wer in einem befristeten Leiharbeitsverhältnis steht, dem er selbst zugestimmt hat. Der Baubranche sind solche Modelle vor allem wegen der saisonalen Auslastungsschwankungen grundsätzlich verboten.

Trotz lautstarker Forderungen der entsprechenden Unternehmen hat sich die deutsche Wirtschaft bislang nie damit anfreunden können: Nur 0,7 Prozent der deutschen Arbeitnehmer stehen in einem solchen Arbeitsverhältnis. In Holland sind es 4,6 Prozent, in den USA immer noch halb so viele. Die Zahl der Zeitarbeiter in Deutschland nähert sich der 300.000-Marke.

Jetzt steht zudem eine weitere Überarbeitung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes bevor, das bereits 1997 modifiziert wurde. Die Unionsfraktion verweist darauf, daß ein Drittel der Zeitarbeitnehmer später fest übernommen werden und setzt auf eine "Stärkung der Zeitarbeit". Der Regierungsentwurf geht nicht ganz so weit wie der Vorschlag der Opposition, geht aber auch in Richtung Deregulierung des Arbeitsmarkts.

Als Ministerpräsident von Niedersachsen hat Gerhard Schröder bereits die Personalpolitik des VW-Konzerns gebilligt. Volkswagen hat eine eigene Arbeitsbeschäftigungsgesellschaft aus der Taufe gehoben, die die hauseigene Belegschaft an den Mutterkonzern verleiht.

Regierung und Opposition versprechen sich eine Milderung der angespannten Lage am Arbeitsmarkt. An einer Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse kommt man angesichts des Millionenheers von Arbeitslosen, Umschülern, Frührentnern oder anderweitig Quasi-Arbeitslosen nicht vorbei. Expertenschätzungen zufolge wird bald nur noch jeder zweite Arbeitnehmer über einen festen Arbeitsplatz mit Vollbeschäftigung verfügen.

Arbeitsminister Riester hat sich 1999 mit seinen europäischen Kollegen auf eine Zusammenarbeit geeinigt. Dadurch sollen grenzüberschreitende Zeitarbeitsmodelle auf EU-Ebene kontrollierbar gemacht werden. Und selbst der Zentralrat der Katholiken befürwortet Zeitarbeitsmodelle wegen ihrer "Türöffnungsfunktion", die beispielsweise Langzeitarbeitslosen endlich zu einem neuen Arbeitsplatz verhilft. Auch in der Bevölkerung wächst Umfragen zufolge die Akzeptanz gegenüber Leiharbeitsverhältnissen. 1999 ist der Anteil solcher Beschäftigungsverhältnisse an der Gesamtzahl der Beschäftigten um zwanzig Prozent gestiegen.

Allerdings ist Zeitarbeit nicht zwangsläufig so positiv wie die euphemistischen Darstellungen interessierter Kreise. Natürlich wünschen sich viele Arbeitgeber eine Belegschaft, gegenüber der sie nicht dieselben Verpflichtungen haben wie gegenüber Festangestellten. Die Amerikaner bezeichnen dieses Heer von rechtlich benachteiligten Heuer-und-Feuer-Arbeitern als Contingent Workforce. Deren Anzahl kann ohne Sozialplan kurzfristig problemlos reduziert werden, falls die Lage dies erfordert.

Zyniker sprechen deswegen auch von Sklavenhandel. Viele Firmen entlohnen unterhalb des Tariflohns. Weiterbildung findet kaum statt. Mitbestimmung am Zeitarbeitsplatz ist auch nicht vorgesehen. Rechtliche Streitigkeiten, die den Arbeitsplatz betreffen, sind für den Beschäftigten nur schwer lösbar. Hervorzuheben ist auch, daß fast zwangsläufig ein gespanntes Verhältnis zu dem Teil der Belegschaft besteht, der fest angestellt ist. Eine Konkurrenz- und Neidsituation ist oftmals vorprogrammiert.

Die Gewerkschaften hatten bislang immer eine starre Haltung gegenüber den etwa 3.600 Zeitarbeitsfirmen. In ihrer Hilflosigkeit versuchen der DGB und Verdi nun, Arbeitsvermittler anhand verschiedener Kriterien zu bewerten. Dazu gehören der Abschluß von Tarifverträgen, das Angebot von Weiterbildung, aber auch Frauenförderpläne.

Der DGB versucht auch, selber in dem "Wachstumsmarkt par excellence" (Investmentfonds Union Invest) mitzumischen. Mit Hilfe der Landesregierung und einiger anderer privater Organisationen wurde in NRW eine private Zeitarbeitsfirma, die Start GmbH, gegründet. Durch privatwirtschaftliche Organisation wird auch in diesem Wirtschaftszweig oft die Tatsache übertüncht, daß es sich um Staatsunternehmen handelt. Daß der Staat sich damit selbst eine Konkurrenz zu den Arbeitsämtern ins Leben ruft, scheint niemanden zu stören. Außerdem erlauben staatseigene GmbHs höher dotierte Geschäftsführergehälter als der ordinäre Staatsdienst. So wurde Start bereits als ökonomischer Unfug ins Leben gerufen. In den ersten zwei Jahren wurden 1.300 ehemalige Langzeitarbeitslose vermittelt und erhielten einen dauerhaften Arbeitsplatz. 1.800 wurden aber wieder entlassen. Inzwischen ist man auch davon abgekommen, sich auf die hoffnungslosen Fälle zu konzentrieren, für die Start eigentlich konzipiert worden ist. Deswegen wirft das Unternehmen mittlerweile auch Gewinn ab. Damit ist es nach Auffassung des NRW-Arbeitsministers zu einem "Erfolgsmodell sozialverträglicher Zeitarbeit" mutiert. Eine wirkliche Chance scheint es aber nur lokalen SPD- und DGB-Funktionären zu bieten, die die gut dotierten Posten besetzen.

Zeitarbeit verkörpert symptomatisch die Spaltung der Gesellschaft. Für Akademiker oder ausgemachte Fachleute bietet sie eine gute Alternative zu einem festen Arbeitsverhältnis, den manch einer ganz gezielt umgeht. So können wertvolle Erfahrungen gesammelt werden. Zeitlich befristete Projekte, die immer mehr an Bedeutung gewinnen, ließen sich anderweitig kaum bewerkstelligen. Und für die Arbeitgeber bietet sich eine gute Möglichkeit, Schwankungen beim eigenen Bedarf an teuren Spitzenkräften auszugleichen. Wobei selbst hier das mangelnde Vertrauensverhältnis und die fehlende Opferbereitschaft beider Seiten füreinander einen Minuspunkt darstellt.

Für die unteren Lohngruppen, für die einfachen, schwer vermittelbaren und wenig qualifizierten Arbeitnehmer kommt Zeitarbeit wirklich einem Lohndumpingsystem gleich. Denn meistens müssen in erster Linie beim Gehalt dauerhaft Abstriche gemacht werden. Diejenigen, die recht überheblich als Modernisierungsverlierer berechnet werden, sind die Leidtragenden dieser Entwicklung. Für sie verspüren die Großkonzerne immer weniger Verantwortung. Das gilt nun auch für den Sozialstaat, den Eigentümer der Deutschen Bahn.


 
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