© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/01 06. Juli 2001

 
Weltberühmtes Waisenkind
Zum 100. Todestag von Johanna Spyri, der Kinderbuchautorin und geistigen Mutter Heidis
Gesa Steeger

Ich habe das meinige an ihm getan, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun." Zitat erkannt? Nein, es ist nicht Schiller. Nicht König Philipp übergibt seinen Sohn der Inquisition, sondern Dete ihre Nichte Heidi ihrem Großvater dem Almöhi. Die Begründung ist zeitgemäß: Dete möchte in Frankfurt Karriere machen und dabei ist ihr das Kind im Wege. Hortplätze sind in der Großstadt bekanntlich Mangelware, also muß der Oheim (Öhi) ran.

"Heidi" ist überhaupt nicht so altbacken wie es seine 121 Jahre vermuten ließen. Die Themen sind aktuell: Heidi veranlaßt ihren Großvater zur Nachbarschaftshilfe, er muß Geißenpeters Hütte reparieren. Heidi leistet an Geißenpeters Großmutter sozialgereatrische Dienste, indem sie ihr vorliest, ihr altengerechte Kost verschafft und ihr ein passendes Bett besorgt. Durch positive Lernanreize bekommt Klaras Großmama Heidi zum Lesen. Mit Hilfe des Montessori-Prinzips gibt Heidi diese Fähigkeit an den Geißenpeter weiter. Das Kinder in ihrem Bewegungsdrang hindernde Stadtleben wird thematisiert, ebenso die zum Scheitern verurteile schwarze Pädagogik des Fräulein Rottenmeiers. Auch die kindliche Traumatisierung durch den Verlust der vertrauten Umgebung – Heidi muß nach Frankfurt – kommt zur Sprache. Psychosomatische Störungen werden erkannt und geheilt – Klara lernt wieder gehen. Echte Behinderungen werden als solche akzeptiert – Peters Großmutter bleibt blind.

Einzig der Seelentrost aus dem Gebetbuch atmet den Geist eines vergangenen Jahrhunderts. Der heute obligate Generationenkonflikt wird ausgespart: Mütter oder Väter glänzen durch Abwesenheit. Dafür entsprechen die Protagonisten der bundesdeutschen Wirklichkeit: sie sind Einzelkinder.

"Bücher von der Spyri wollen Sie haben? Hat die denn noch etwas anderes geschrieben als ’Heidi‘?" Sie hat. Erhältlich sind leider nur mehr "Gritlis Kinder" und der Erzählband "Heimatlos". Dabei war Johanna Spyri eine fleißige Schreiberin. Nur übermäßig originell war sie nicht. In ihren Erzählungen tummeln sich die Waisenkinder, die aufgrund ihres Gottvertrauens und mit Hilfe guter Menschen auf den rechten Weg gebracht werden. Die Titel sprechen für sich: "Und wer nur Gott zum Freunde hat, dem hilft er allerwegen"(1882), "Was Großmutters Lehre doch bewirkt" (1886), "Wie Wiselis Weg gefunden wurde" (1878) oder "Vom This, der doch etwas wird" (1886).

Bei Spyri steht das Wohl des Kindes im Vordergrund und nicht seine Verfügbarkeit für die Gesellschaft. Heidi wird nicht auf den Heiratsmarkt getrimmt, wie ihre literarischen Schwestern Trotzkopf und Backfischchen. Auch verweigert sich Spyri der Schwarzweißmalerei: die Alm ist nicht das Paradies, dort gibt es Not und Elend, und Frankfurt ist nicht die Hölle, schließlich lernt hier Heidi viel Nützliches.

"Für den, der zu lesen versteht, ist die Geschichte meines Lebens erhalten in allem, was ich geschrieben habe", erwidert Johanna Spyri dem Drängen Conrad Ferdinand Meyers, ihre Biographie zu schreiben. Um es klarzustellen: Johanna Spyri war kein Waisenkind. Sie hatte sechs Geschwister. Der Vater Johann Jakob Heusser war Arzt in einem Bergdorf und nahm gemütskranke Menschen in seinem Hause auf. Mutter Meta Heusser verfaßte Kirchenlieder, und sie versuchte ihren Töchtern im Rahmen der Möglichkeiten eine Ausbildung zu verschaffen. Bei Verwandten in Zürich sollten sie den letzten Schliff bekommen, um später gewandt genug zu sein, sich als Erzieherinnen oder Gesellschafterinnen durchzuschlagen. Johanna mußte davon keinen Gebrauch machen, sie heiratete 1852 den Juristen und Stadtschreiber von Zürich, Johann Bernhard Spyri. Aus dem Landkind wurde eine Städterin, die sich mit einem Rosengarten, einem ausgedehnten Briefwechsel, Teestunden mit Freunden und ihrem einzigen Sohn Bernhard nicht langweilte.

Ihre ersten Schreibversuche waren eher gesellschaftliches Pflichtprogramm: ein Lobgedicht auf Richard Wagner, eine kleine Erzählung zu Gunsten der Diakonissen. Ein kleines Erzählbändchen erschien anonym. Zu der uns bekannten Spyri wird sie, als ihre Nichte klagte, die großen Leute hätten nun wirklich schon genug Bücher, sie solle lieber einmal für Kinder erzählen. So entstand "Heimatlos" (1878). 1884 starben kurz hintereinander Sohn und Ehemann. Spyri trug von nun an Schwarz, zog in eine Zweizimmerwohnung, widmete sich wieder ihren Briefen und Freunden und unternahm ausgedehnte Reisen durch die Schweiz und Deutschland.

Ihre Kinderbücher konzipierte Spyri für den gesamtdeutschen Markt. Dialektausdrücke kommen selten vor oder werden sofort erklärt. Die Sprache ist insgesamt leicht verständlich, die Handlung stringent und logisch. Humorvolle Szenen sind keine Seltenheit. Spyris Leidenschaft, Namen abzukürzen, hat dazu geführt, daß Heidi nun ein zugelassener weiblicher Vorname ist, den man nur noch selten mit Adelheid verbindet.

Überhaupt führt "Heidi" ein Eigenleben. Taucht in einer amerikanischen Sitcom eine Deutsche auf, trägt sie bestimmt blonde Zöpfe und hört auf den Namen Heidi. Dabei ist Heidi mutmaßlich Viertelitalienerin mit einem schwarzen Krauskopf. Die weltbekannte japanische Zeichentrickserie nimmt darauf Rücksicht. In Asien ist die Begeisterung für "Heidi" groß. Es gibt eine Übersetzung ins Siamesische, und in Japan – nicht in der Schweiz – ist die bisher einzige Spyri-Gesamtausgabe erschienen.

Kurz vor ihrem Tod vernichtete Johanna Spyri noch eine Menge autobiographischen Materials. Was manchmal als Ausdruck der Verzweiflung gedeutet wird, war wohl eher die Tat einer Frau, die ihre eigene Person nicht übermäßig wichtig nahm. Unsterblichkeit hat sie schließlich nicht durch ihren biederen Lebenswandel erlangt. Ein wenig Autobiographisches hat sich trotzdem erhalten, so wie dieser Satz: Man solle erst zu schreiben beginnen, wenn man fünfzig ist. Glücklicherweise hat sich Schiller nicht daran gehalten!


 
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