© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/01 13. Juli 2001

 
Pankraz,
F.W.J. Schelling und das Prinzip Möglichkeit

Ist ein Haufen Ziegelsteine  schon ein Haus, das aus Ziegelsteinen gebaut wird? Fast könnte man auf diesen komischen Gedanken kommen, wenn man die gegenwärtigen bioethischen Debatten verfolgt.

Die bloße Möglichkeit wird dort andauernd mit der vollendeten Wirklichkeit verwechselt, bzw. bewußt gleichgesetzt. Allen Ernstes wird gefordert, der befruchteten Eizelle sämtliche Menschenrechte und -würden zuzusprechen, denn in dieser Zelle sei "potentiell" all das bereits vorhanden, was den wirklichen Menschen ausmache. Die Wirklichkeit wird der Möglichkeit regelrecht untergeordnet, sie sei nur noch eine schlichte "Ausfaltung" der Möglichkeit, ihre "Verwirklichung".

Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, Goethe – sie alle werden sich im Grabe umdrehen. "Möglich ist alles", spottete Goethe, "möglich ist nichts". Für Aristoteles war die Möglichkeit zwar nicht gleich nichts (denn sie war ja immerhin das "Hypokeimenon", der Stoff, aus dem etwas geformt wurde), aber sie sei für Gott, den Schöpfer, auch eine ständige Verlegenheit, weil es ihm niemals gelingen könne, aus ihr die "reine Form", die unbefleckte Idee, herauszumeißeln; stets bleibe ein Rest, zu tragen peinlich, die Möglichkeit sei im Grunde die Verderberin der Wirklichkeit.

Bei den großen christlichen Denkern setzte sich die Verketzerung der bloßen Möglichkeit fort. Sie erschien nun als das Gelände des Teufels, als chaotische Unbegrenztheit, in der das Böse wohnte. Die vernünftige Weltordnung war ausdrücklich gegen sie gebaut, eine Burg des Lichts im Meer der Finsternis.

So wirkt es geradezu unanständig, wenn heute ausgerechnet zeternde Kongregationspfaffen in trauter Gemeinsamkeit mit Habermas und anderen marxomanischen Geistespolizisten einen Riesenfeldzug für die Möglichkeit anzetteln. Das Reich der Wirklichkeit, der kurz- und mittelfristigen Optimierungsstrategien und Gesundheitspraktiken soll niedergerungen und der Kontrolle steriler Möglichkeitsfanatiker unterworfen werden, selbst um den Preis des monumentalen Sichlächerlichmachens.

Alle anderen, die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen, forschen an Stammzellen, aber wir edlen deutschen Potenzmenschen sind was Besseres und verbieten diese Forschung, im Namen von Karl Marx und Karol Woityla. Und wer etwas dagegen zu sagen wagt, der wird mit Denunziationsvokabeln aus der Vergangenheitsbewältigungs-Kiste zugedeckt: Selektion, Menschenverbrauch, Eugenik, Menschenzüchtung usw. Macht nur weiter so!

Am Ende werden die Deutschen jenem Herrn Ulrich Brendel aus dem Theaterstück von Ibsen, "Rosmersholm", gleichen, der eine Zeitlang in seiner Umgebung Furore macht, indem er als "Möglichkeitsmensch" posiert. Alle sind von ihm beeindruckt, denn er scheint eine blendende Begabung zu sein, dynamisch und beredt, bis zum Rand angefüllt mit Projekten und Potentialitäten, mit Plänen, Entwürfen, Möglichkeiten. Dann aber kommt der Tag, an dem er sich unaufschiebbar bewähren, das Füllhorn seiner Möglichkeiten ausschütten muß – doch siehe, das Füllhorn ist leer, es sind nur einige längst vertrocknete Schlüsselblümchen drin, und Brendel steht als der größte nur denkbare Trottel da.

Pankraz seinerseits möchte keineswegs als purer Möglichkeitsverächter im Sinne von Thomas von Aquin oder Hegel dastehen. Beileibe nicht jede verpaßte Möglichkeit war des Teufels oder auch nur übermäßig schwach auf der Brust. Gedankenspiele des "Was wäre gewesen, wenn ...?" haben einen hohen Reiz. Jede "Verwirklichung" ist ein Verlustgeschäft, manchmal sogar ein sehr bitteres, jeder Reifeprozeß eines Individuums schränkt die Wahlmöglichkeiten immer mehr ein, raubt uns Freiheit.

Und was für das einzelne menschliche Individuum gilt, gilt auch für den Naturprozeß im Ganzen. Die Natur ist ein ungeheuerlicher Verschwender, der milliardenfach Möglichkeiten ausstreut, von denen nur ein winziger Bruchteil zur Wirklichkeitsreife gelangt.

Bei ihr wird dauernd experimentiert, ausprobiert und verworfen, und leider werden nicht nur mißlungene, krankheitsträchtige Keime ausgemerzt, sondern nur allzu oft gerade die schönsten, feinsten und rührendsten Bildungen, die charmanten Nesthäkchen im Adlernest, die irgendeinem zufälligen Witterungseinbruch zum Opfer fallen, auch die gesündesten, jugendkräftigsten Samen, die der pubertierende Knabe achtlos wegonaniert.

Man kann also nicht sagen, daß das Reich der Möglichkeiten ein Reich der Hölle sei, von wo aus der Teufel dem Schöpfer hinterrücks ein Bein stellt. Es ist eher ein Elfenreich, ein Reich zarter Schatten – und nicht zuletzt das Reich der wirklich großen Wünsche, die schon ihrer Größe wegen unerfüllbar sind.

Vor allem aber: Ist es nicht die Möglichkeit, der ungeformte Stoff, der den Formprozeß erst in Gang bringt? Schon Aristoteles überlegte, daß Gott ja eigentlich nicht die geringste Ursache habe, sich plötzlich zu entfremden, plötzlich aus sich herauszugehen und sich irgendeinem Stoff formend einzudrücken. Was also die Welt in Bewegung setzt, mutmaßte er, ist nicht Gott, sondern es ist der Stoff, das gestaltlos und schlechthin Andere, der dunkle "Urgrund", der eine ungeheure Sehnsucht nach Formung birgt.

Diese Sehnsucht ist wie ein Sog, ein Eros, dem sich Gott nicht entziehen kann. Die Schöpfung wird ihm abverlangt, so wie der Zöllner in dem Gedicht von Brecht über das Tao-Teking dem Weisen seine Weisheit abverlangt. Das ist, findet Pankraz, die größte, bisher – außer beim alten Schelling und bei Ernst Bloch – überhaupt noch nicht thematisierte Pointe der aristotelischen Metaphysik. Nicht Gott, sondern das sehnsüchtige In-Möglichkeit-Sein des Stoffs setzt die Welt in Gang.

Die Würde bleibt aber trotzdem auf der Seite des Schöpfers. Und wir gewinnen Teil an dieser Würde, indem wir uns schöpferisch verhalten, nicht indem wir den bloßen Stoff anbeten.


 
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