© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/01 13. Juli 2001

 
Das umstrittene Erbe
Eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Potsdam nahm Preußen als "Konkurrenzthema" beider deutscher Staaten unter die Lupe
Wolfgang Saur

Bei wohlmeinenden, aber unbedarften Vertretern der rechten   Publizistik vernimmt man mitunter die Forderung, Geschichtsbetrachtung habe uns "Fakten" und nicht "heutige Interpretationen" zu liefern. Dieser Gedanke einer Voraussetzungslosigkeit von Wissen beleuchtet den Status des akademischen Außenseiters und bezeichnet dessen sonderbare epistemologische Naivität. Erkenntniskritik hat seit langem die Ideen vom "reinen Faktum" oder der Zeit, "wie sie wirklich gewesen", dramatisch relativiert. Das Bewußtsein des konstruktiven Charakters von Wahrnehmung, Erkenntnis, Erinnerung usw. erstreckt sich jedoch heute noch weit über die methodologischen Aspekte wissenschaftlichen Verstehens hinaus auf soziale, politische und mediale Faktoren der Mentalitätsbildung. Historische Themenstellungen bilden hierzu ein aufschlußreiches Kapitel: Ist schon die akademische Forschung vom Ideal einer "reinen Diskursgemeinschaft" meist weit entfernt, bezieht der "öffentliche Gebrauch der Historie" diese direkt in die politischen Interessenkonflikte der Gegenwart mit ein. Dies wird vor allem auf säkularisierte Gesellschaften zutreffen, in denen Fortschrittsmodelle die transzendentale Bezugsfigur der Religion durch eine rein innerweltliche Struktur ersetzt haben. Damit wächst unser historisches Wissen über die Wahrnehmung der Produktion von "Geschichtsbildern" zur Kenntnis komplexer Wirkungszusammenhänge in Alltag und Wissenschaft.

Dies läßt sich besonders an Preußen belegen, dessen Geschichte und "historischer Beruf" schon im 19. Jahrhundert kontroverse Deutungen provoziert haben. Um so mehr gilt dieser Befund für die zurückliegenden 50 Jahre, als nach dem historischen Untergang sein mentales Nachleben in Ost und West eine große Herausforderung darstellte.

Just diesem Thema widmete sich jetzt im Rahmen des Jubeljahrs 2001 am 6. und 7. Juli eine Tagung in Potsdam. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte gemeinsam mit dem Kulturland Brandenburg 2001, einer Dachorganisation des brandenburgischen Museumsverbandes, und in Kooperation mit dem InfoRadio/Berlin eingeladen zu: "300 Jahre Preußen – Das umstrittene Erbe. Die Preußen-Rezeption in Ost- und Westdeutschland".

Vor einem rege interessierten Publikum referierten und diskutierten zwei Tage lang Experten anhand exemplarischer Themenschwerpunkte Wege und Positionen der Forschung und öffentlichen Erinnerung, bis hin zur vordergründigen Geschichtspolitik – seit 1945. Über das Fachwissenschaftliche hinaus ließ der lebendige Dialog etwas von der Vielschichtigkeit und den Komplikationen deutsch-deutscher Geschichte seit dem Kriege ahnen, ist Preußen doch stets auch ein national-deutsches und nicht bloß landesgeschichtliches Thema gewesen.

Eröffnet wurde die Tagung mit zwei groß angelegten Forschungsübersichten aus Ost- und Westperspektive von Klaus Vetter, Universität Wien ("Die Funktion der preußischen Geschichte im Selbstverständnis und in der Selbstdarstellung der DDR") und Peter-Michael Hahn, dem Inhaber des Lehrstuhls für Landesgeschichte an der Universität Potsdam ("Die Erforschung und Bewertung der preußischen Geschichte in der BRD").

Durch den institutionellen Zentralismus war in der DDR die historische Forschung stark "von oben" bestimmt und entwickelte sich in enger Anlehnung an die politstrategischen Konzepte der SED. Die ideologische Lenkung beherrschte vor allem die fünfziger und sechziger Jahre, als das "Preußentum", assoziiert mit "Untertanengeist, Kadavergehorsam, feudalistischem Junkertum und Militarismus", als ein vollständig "reaktionärer" Komplex galt, die Negativfolie zum antifaschistischen Bewußtsein des jungen sozialistischen Staates schlechthin. Im geschichtsphilosophischen Horizont erschien Preußen als verhängnisvolle Keimzelle zum "Irrweg einer Nation" – so im Buch des Kommunisten und späteren SED-Politikers Alexander Abusch, dessen Konstruktionen für die Bewußtseinsbildung der frühen DDR eine ähnliche Bedeutung gewannen wie Plessners Topos von der "Verspäteten Nation" in der Bundesrepublik. Immerhin machten Zeitereignisse eine positive Anknüpfung an einzelne Aspekte Preußens möglich, so die Waffenbrüderschaft mit der UDSSR seit 1953. Grundlegend änderte sich jedoch die Situation seit Mitte der siebziger Jahre im Zuge der sogenannten "Erbe-Diskussion".

Positive "Tradition" der sozialistischen Vorgeschichte

Eine Aufwertung vieler Aspekte der preußischen Geschichte wurde möglich, indem man in dialektischer Reflexion nach "systemstabilisierenden" und "systemüberwindenden" Faktoren differenzierte. "Erbe" war die gesamte Hinterlassenschaft der Vergangenheit, als positive "Tradition" jedoch erwiesen sich ihre anschlußfähigen Aspekte, die in die Vorgeschichte der sozialistischen Gegenwart einbezogen und in diesem Fortschritt also "aufgehoben" werden konnten. Folgende Daten beleuchten diesen konzeptionellen Wandel gut: Bahnbrechend für die Preußen-Forschung der späten DDR erwies sich Ingrid Mittenzweis großes Werk über Friedrich den Großen (1978), wohingegen symbolische Bedeutung der Wiederaufstellung des Rauchschen Standbildes Unter den Linden 1981 zukam. Eine ungeheure Publikumsresonanz schließlich hatte die Ausstellung "Friedrich II. und die Kunst" im Neuen Palais 1986; dazu der Konservator Heinz Schönemann aus Potsdam. Folgte man seinem Abenteuer in den Unwägbarkeiten des SED-Staates mit angehaltenem Atem, fiel der Parallelvortrag über die Preußen-Retrospektive 1981 im West-Berliner Martin-Gropius-Bau ("Preußen – Versuch einer Bilanz") von Gottfried Korff, Universität Tübingen, damaliger Generalsekretär, auf seine Weise beziehungsreich aus. Korff, der neben der praktischen Ausstellungsorganisation mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Museums- und Ausstellungstheorie und Symbolanalyse hervorgetreten ist, entwarf unter medialhistorischem Aspekt eine Entwicklung der Museumsdidaktik seit den klassischen Inszenierungen von Historie (1976/77) bis heute. Die Schau von 1981 bot nun keine dynastische Geschichte, sondern orientierte sich an den neuen Strukturparadigmen der Forschung und rückte alltagsweltliche und sozialgeschichtliche Aspekte in der Vordergrund. Die Raumarrangements im Gropiusbau sollten für den Besucher eine "inszenatorische Merkwelt" realisieren, die nicht nur den Verstand ansprach, sondern "die Chancen sinnlicher Erkenntnis voll ausreizen" sollte. Interessant die vehemente Diskussion im zeitlichen Umfeld dieser Ausstellung, die einen Auftakt zu der von der Linken mißtrauisch verfolgten symbolischen Geschichtspolitik der achtziger Jahre bildete, konservativen Beobachtern hingegen zu wenig ehrfürchtig erschien.

In dieser Periode war Preußen tatsächlich ein "Konkurrenzthema" beider deutscher Staaten und so die Diskussion auch in der BRD lebhaft wie kaum zuvor.

Peter-Michael Hahn erläuterte nun souverän die Forschungsgeschichte im Westen, die in der Frühzeit nachhaltig von älteren Größen geprägt blieb, so Ritter, Meinecke, Koser, Hinrichs, Hintze und andere. Apologetisches zeigte sich in der Haltung gegenüber den Alliierten, die 1947 befunden hatten, Preußen sei von jeher "Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland" gewesen (Kontrollratsgesetz). Dazu kam ein starkes Bedürfnis von Millionen Vertriebenen aus den Ostgebieten nach einem positiven Preußenbild. Arbeitete die westdeutsche Forschung auch die große Bedeutung Preußens für den modernen Rechtsstaat heraus und brillierten die DDR-Kollegen mit empirischen Studien, so vermißt Hahn – als substantielle Alternative zu den Klassikern – bis heute wirklich kreative neue Gesamtdeutungen des Gegenstandes.

Auf die Reformzeit ab 1807 als Thema der west- und ostdeutschen Wissenschaft in den Nachkriegsjahrzehnten gingen Barbara Vogel, Universität Hamburg ("Stein, Hardenberg und die Beurteilung der preußischen Reformenin der BRD") und Helmut Bleiber, Berlin ("Die preußischen Reformen in der Geschichtsschreibung der DDR") ein. Interessant hierbei ein von Hahn beigesteuerter Diskussionspunkt: Die nichtvorhandene Darstellung der französischen Besatzung als westdeutsches Tabu-Thema bis in die jüngste Zeit, die sich bis in die Sprachregelung über die Befreiungskriege hinein niederschlägt ("antifranzösische Affekte").

Französische Besetzung als westdeutsches Tabu-Thema

In einem weiteren Komplex widmeten sich schließlich Ines Reich von der Gedenkstätte Sachsenhausen ("Die Widerstandsforschung der DDR") und Hans Wilderotter, Berlin ("Anmerkungen zu einer Gründungslegende der BRD") Preußen und dem Widerstand um den 20. Juli 1944. Frau Reich gliederte die Widerstandsforschung Ost in vier Abschnitte, deren letzten sie ab Mitte der achtziger Jahre ansetzte. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten jedoch existierte der 20. Juli faktisch nicht, es kam offiziell überhaupt nur der kommunistische Antifaschismus in Betracht. Bürgerliche oder adelige Widerstandsgruppen wurden hingegen pauschal diffamiert als reaktionäre Vertreter des repressiven Machtapparates, ja firmierten sogar als "ausgesprochene Wegbereiter des Faschismus", so Goerdeler.

Demgegenüber hat es eine rege und vielfältige Rezeption in der Bundesrepublik gegeben, in die auch unsere Politik gelegentlich involviert war, so etwa Bundespräsident Theodor Heuß mit seiner Gedenkrede 1954. Bei der Lektüre fällt dessen Akzeptanz eines tragischen Aspekts im historischen Handeln auf, der heute tabuisiert wird. Er erzählt, daß bei seiner Niederschrift der Würdigung ihn ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier aufgesucht habe mit der Bitte, "ich möge aber doch ... nicht die anklagen, die nach dem 20. Juli bis zur Schlußkatastrophe weiterkämpften. Ich konnte ihn nur bitten, mich nicht für so töricht und ungerecht zu halten. Ich müßte dann ja Freunde und geliebte Verwandte anklagen ...".

Die etwas diffuse, aber perspektivenreiche und farbige Schlußdiskussion ("Preußen und die deutsche Einheit seit 1990") brachte am dichtbesetzten Podium unter anderen Detlef Lücke, Berlin (Das Parlament), Oliver Herrmann vom Stadtmuseum Wittenberge und den Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Steffen Reiche, zusammen. Hier war der Gesprächsduktus auf aktuelle Fragen bezogen, etwa: Was kann uns Preußen für die Zukunft bringen? Die große Linie, zumal Thesen Hahns, als eine Bilanz der Tagung, lautete nüchtern, daß Preußen als Staat und geistige Weltmacht heute tot, touristisch aber quicklebendig sei. Die großen Kontroversen, die noch vor zwanzig Jahren geführt wurden, haben sich heute verflüchtigt. Verstärkt wird die Preußen-Thematik heute jedoch regionalisiert, spielt im Tourismus und für die Identitätsfindung der Regionen und Städte eine große Rolle, während sie für viele Teile Westdeutschlands "weit weg war und ist". "Was geblieben ist, ist eine reiche Kulturlandschaft" (Hahn).

Nicht zuletzt war es interessant zu hören, daß eine junge Historikergeneration im ehemaligen Osten Preußens – im Baltikum, in Polen, in Königsberg – heute im Kontext der EU-Osterweiterung verstärkt die Frage nach den preußischen und deutschen Dimensionen ihrer Heimat stellt.

Ablösung des NVA-Wachregiments "Friedrich Engels" vor der Neuen Wache in Ost-Berlin am 7. Oktober 1985: Preußisch-militärische Traditionspflege beim "großen Wachaufzug" als "systemstabilisierender" Faktor und als "anschlußfähiger" Aspekt in der Geschichte der DDR


 
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