© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001

 
Gottesgeschenke
Was uralte Bäume für den Menschen bedeuten und warum wir sie lieben und verehren
Günter Zehm

Daß es Zeiten geben könnte, wo ein Gespräch über Bäume "fast ein Verbrechen ist", hat wohl nicht einmal Brecht geglaubt, trotz seines bekannten Gedichts. Während der letzten Tage hat sich das Dauergespräch über Bäume ungemein belebt, seitdem der Stadtstaat Singapur beschlossen hat, alle markanten Baumriesen auf seinem Territorium mit Blitzableitern auszurüsten. "Immer mehr gerade unserer schönsten Bäume zersplittern unterm Blitzschlag", argumentiert die Regierung, "und viele sterben danach ab. Das können wir nicht länger hinnehmen."

Der Plan ist wacker, stimmt aber trotzdem melancholisch. Es ist ungefähr so, als ob man dem lieben Gott einen Regenschirm in die Hand drücken würde. Denn Bäume sind Götter, sind es immer gewesen, gerade die von Sturm und Blitzschlag gezausten und aufgerissenen Riesen unter ihnen, die frei im Gelände stehen und den Unbilden der Zeiten trotzen.

Sich an solchen Bäumen zu schaffen zu machen, in welcher Absicht auch immer, war "Baumfrevel" und wurde mit den schlimmsten Strafen geahndet, nicht nur bei den alten Germanen, sondern auch im klassischen Griechenland, bei den Indern, bei den Malayen und Ozeaniern. Die Symbolkraft des alleinstehenden Riesenbaumes leuchtete den Menschen von vornherein ein.

Er senkte seine Wurzeln in die Erde und streckte seine Zweige gen Himmel, er verkörperte in seiner immer wieder erneuerten Lebenskraft die Auferstehung und den Sieg über den Tod. Sein Jahreslauf, das Abwerfen der Blätter und ihr Wiederaustreten im Frühjahr, sein Schattenspenden und seine Fruchthaltigkeit, von der sich viele Wesen nährten, machten ihn zum Heiligtum, zum Heilsausgießer.

Apollo wohnte in ihm, Odin, Buddha empfing unter ihm seine Erleuchtungen. Die Pythagoreer-Priester im klassischen Griechenland erklärten, wie uns Lukian überliefert, den Buchstaben Y zum "heiligen Zeichen", weil er mit seinen beiden nach oben gespreizten Ästen einen Baum darstelle. Deshalb stehe das Y auch am Anfang des Wortes "hygainein", was sowohl physisches als auch moralisches Recht- und Wohlleben, also göttergemäßes Leben, bedeutet.

Das Kreuz Christi wurde früh schon (Offb. Joh. 22,1 ff.) mit einem mächtigen Baum verglichen. Wahrscheinlich war es eine zelotische Dummheit, als der hl. Bonifatius im achten Jahrhundert in Hessen demonstrativ eine berühmte Odinseiche fällte, statt sie auf Christus umzuwidmen. Später schrieb der Franziskaner Bonaventura seinen bedeutenden Traktat "Vom Baum des Lebens", in dem er den Christen gründlich beibrachte, die Baumriesen zu achten und ihnen Nachdenken zu widmen.

Nicht nur Lebenskraft verkörpern diese Riesen (manche Eiben und Mammutbäume werden über zweitausend Jahre alt), sondern auch Erkenntniskraft. In der Bibel müssen Adam und Eva vom "Baum der Erkenntnis" essen, um schlau zu werden und Gott halbwegs auf die Schliche zu kommen; das findet mythische Parallelen in dem alt-iranischen Baum Hom und dem griechischen Apfelbaum im Garten der Hesperiden. Archaische Helden bewegen sich bevorzugt unter taktischen Sinn eingebenden Riesenbäumen, wenn sie böse Monster erledigen, so Gilgamesch, so Siegfried unter der großen Linde beim Kampf mit dem Drachen.

Aufklärung und Schrecken gehen Hand in Hand. Nach gewonnenem Gefecht badet Siegfried im Drachenblut, um unverletzbar zu werden, aber ein Lindenblatt segelt vom Baum herunter und läßt sich auf seinem Rücken nieder, die Stelle für Hagens tödlichen Streich markierend. Adam und Eva, indem sie von der Frucht des Erkenntnisbaums essen, begehen damit den Sündenfall, verlieren das Bleiberecht im Paradies, müssen von da an ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen. Die Riesenbäume, so zeigt sich, stiften Heil und Unheil zugleich, sie sind das Schicksal.

Symbol dafür sind Blitzeinschläge, die sie teilweise tot und unfruchtbar machen (und die die Regierung von Singapur nun also unterbinden will). Jesus selbst gebraucht zur Kennzeichnung des Sünders die Metapher vom "unfruchtbaren Feigenbaum" (Lukas 13,6). Die Kunst hat stets ein sicheres Gespür für das Heilig-Zwiespältige, durchaus auch Bedrohliche und Tragische im Bild des freistehenden Riesenbaumes bewiesen; das ging mit den hohen windzerklüfteten, oft auch schon abgestorbenen Chaussee- und Heidebäumen des Jacob Ruisdael los und setzte sich fort in den wahrhaft ungetümlichen Exemplaren, wie sie etwa Caspar David Friedrich oder Corot auf die Wiese stellten.

Ganz überwiegend freilich begegnet uns der die Zeiten überdauernde Riesenbaum in ernstfreundlich-ehrfurchtgebietender Gestalt, gerade in der angeblich so naturfeindlichen christlichen Kunst des Mittelalters. Man kann jedem interessierten, kunstbeflissenen Ferienreisenden nur empfehlen, sich einmal die Domportale von Nantes, Chartres, Amiens anzusehen – da wuchert der Lebensbaum aus dem "Wurzelgrund Jesse" wie brasilianischer Urwald. Riesige Wurzel- und Blattwerke auch auf den Predellen der Altarbilder und den Chorwangen in der Liebfrauenkirche zu Krakau (geschaffen von Veit Stoß), in der Holzdecke von St. Michael in Hildesheim.

Doch wohl am eindrücklichsten erscheint die Baumfeier auf den vielen farbigen Kirchenfenstern der Epoche, in Chartes, im Chor von St. Kunibert in Köln, im Ulmer Münster. Da sieht man üppigstes organisches Ast- und Laubgeschlinge, als befände man sich mitten im pflanzengeilen Jugendstil des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – und es ist doch reinstes Mittelalter.

Es gibt eben symbolische Archetypen, Urformen, die sich in allen Kulturen und Religionen durchsetzen, weil sie die menschliche Seele unmittelbar ansprechen und notwendig zum Klingen bringen. Der Baum, der machtvoll sich breitende, tief in der Erde verwurzelte, einsam sich behauptende, blitzdurchzackte Riesenbaum gehört dazu. Daß sich eine moderne Stadtregierung ausdrücklich um sein Verschwinden zu sorgen beginnt, ist ein Alarmsignal. Aber vielleicht ein falsches.

Denn Blitze sind es nicht, die die heiligen Bäume in ihrem Bestand bedrohen, eher der Glaube an die technische Allgewalt der Blitzableiter.

Älteste lebende Eiche Deutschlands in Ivenack, Mecklenburg-Vorpommern: Die Symbolkraft eines alleinstehenden Riesenbaumes leuchtete den Menschen aller Zeiten und in allen Kulturen von vornherein ein. Sich an solchen Bäumen zu schaffen zu machen, wurde schwer bestraft.


 
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