© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   33/01 10. August 2001


Den Untergang aufgeschoben
40. Jahrestag des Mauerbaus (I): Ökonomische Misere war Hauptgrund für den Mauerbau / Abschottung führte schließlich doch zum Ende des DDR-Sozialismus
Fritz Schenk

Im historischen Rückblick auf den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 dominiert die Meinung, das SED-Regime sei dazu gezwungen gewesen, weil durch die sich jährlich steigernde Massenflucht die DDR "auszubluten" drohte. Das ist richtig und trifft auf jeden Fall auf die Zeit des Übergangs von den fünfziger zu den sechziger Jahren zu. Seit nämlich der damalige Sowjetdiktator Nikita Chruschtschow mit dem sogenannten Berlin-Ultimatum von 1958 (es beinhaltete die Forderung, aus West-Berlin eine "entmilitarisierte Freie Stadt" zu machen, andernfalls werde die Sowjetunion mit der DDR einen separaten Friedensvertrag abschließen) deutlich gemacht hatte, daß der Osten den seit 1945 bestehenden Berlin-Status so nicht mehr länger hinnehmen wolle, erhöhte sich die Unsicherheit in der DDR. Bis dahin hatte immer noch Hoffnung bestanden, die Siegermächte könnten sich auf eine Deutschland-Lösung einigen, die Wiedervereinigung unter demokratischen Bedingungen beschließen und demokratische Freiheiten auch in der Sowjetzone/DDR zulassen.

Mit dem Scheitern der alliierten Deutschland-Konferenzen (Genf 1959 und Paris 1960) waren diese Hoffnungen geschwunden, immer mehr DDR-Bürger entschlossen sich zur Abwanderung in den Westen, was angesichts der "offenen Flanke West-Berlin" und über "Interzonenreisen" noch keine lebensbedrohlichen Fluchten waren.

Das war nicht immer so. In der ersten Periode der Sowjetherrschaft über Mitteldeutschland (das heißt bis Mitte der fünfziger Jahre) war die Vertreibung bestimmter Bevölkerungsgruppen in die Westzonen und spätere Bundesrepublik fester (und planmäßig betriebener) Bestandteil der kommunistischen Politik. Das betraf zunächst die überwiegende Mehrheit der Vertriebenen aus den Oder-Neiße-Gebieten und dem Sudetenland. Stalin hatte darauf spekuliert, daß die Westzonen den Zustrom von mehr als zehn Millionen mittellosen Menschen nicht würden verkraften können, was die "Schaffung einer revolutionären Grundstimmung" begünstigen müßte. Westdeutschland war stärker vom Bombenkrieg betroffen als die Sowjetzone, dort wurden mehr Rüstungsbetriebe geschleift als im Osten, und es bestanden mehr alliierte Produktionsverbote für "rüstungsnahe" Industriezweige (Maschinen-, Motoren- und Schiffbau, Chemie, Grundstoffindustrie). Massenarbeitslosigkeit war also vorprogrammiert, Massenelend die logische Folge, günstigste Voraussetzungen für Agitation und Propaganda im Sinne des Marxismus-Leninismus.

"Offene Flanke West-Berlin"

Fast gleichzeitig mit der Vertreibung aus den Ostgebieten begann die Umwandlung der SBZ in Richtung Sowjetsystem. Im Rahmen der sogenannten Bodenreform wurden alle landwirtschaftlichen Betriebe über einhundert Hektar Größe enteignet. Ihre Besitzer oder Pächter wurden mit Familien und oft engsten Mitarbeitern (Verwalter, Inspektoren, Buchhalter) nicht nur von Haus und Hof vertrieben, sie sollten auch mindestens zweihundert Kilometer von ihren bisherigen Wohnorten entfernt nur noch als einfache Land- oder Hilfsarbeiter zwangsbeschäftigt werden. Auch von ihnen nutzte die weitaus größte Zahl die damaligen Fluchtmöglichkeiten in den Westen – häufig unterstützt von den neuen örtlichen "Antifa"-Funktionären, von denen sich nicht wenige den von den Sowjets befohlenen (und von ihren deutschen kommunistischen Vasallen willfährig ausgeführten) Zwangsmaßnahmen widersetzen wollten, dadurch selber in größte politische Schwierigkeiten gerieten und häufig schließlich ebenfalls als politische Flüchtlinge im Westen landeten.

Parallel dazu begann der Aufbau der "volkseigenen" Wirtschaft in Industrie, Bankwesen und Handel. Unter der Losung "Enteignung der Nazi-Aktivisten und Kriegsverbrecher" konfiszierten die Kommunisten das gesamte relevante produktive Privateigentum und schufen "volkseigene" Betriebe (VEB) und Kombinate. Das löste auch in diesen Zweigen eine gewaltige Fluchtbewegung aus, denn der politische Vorwand ("Nazi-Aktivist und Kriegsverbrecher") bedeutete für die betroffenen Unternehmer eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. Auch diese Massenflucht nahmen die Kommunisten nicht nur hin, sie wurde sogar bewußt unterstützt. Erstens sollten ihre Funktionäre die begehrten Direktorenposten in den VEB übernehmen. Zweitens waren die früheren Unternehmer und ihre leitenden Angestellten im neuen Planwirtschaftssystem ein Fremdkörper – sie lästerten über den Dilettantismus der neuen "Leitungskader", über den ökonomischen Unsinn der "Aktivistenbewegung" à la Hennecke, Hockauf und Franik (wer hat das damals im Westen eigentlich wahrgenommen und kann sich heute noch daran erinnern?), über die neue "wirtschaftliche Rechnungsführung" (die lediglich ein primitives Zählsystem für staatlich vorgegebene Mengenziele war). Und drittens waren die gebliebenen Unternehmer wie ihre ehemals leitenden Mitarbeiter ständiger Bedrohung ausgesetzt, weil das neue Zwangssystem unter ihnen die Sündenböcke ("Saboteure, imperialistische Agenten") für alle möglichen Pannen bei der Planerfüllung ausmachte.

Die aus all diesen Faktoren resultierende Massenflucht wurde jedenfalls hingenommen und in der geheimen Arbeitskräfte- und Bevölkerungsstatistik der Staatlichen Plankommission mit jährlich mindestens 150.000 Personen fest "verplant". Das geschah übrigens in völliger Übereinstimmung mit den Sowjets, die an der Fluchtbewegung bis in die erste Hälfte der fünfziger Jahre nicht den geringsten Anstoß nahmen.

Dem widersprach jedoch SED-Chef Walter Ulbricht bei jeder Gelegenheit. Wann immer er sich gegenüber Stalin für ökonomische Mißerfolge in der DDR rechtfertigen mußte, tat er dies mit Hinweis auf die "offene Flanke zum Imperialismus", unter der die DDR ihr System zu entwickeln habe. Und beharrlich drängte er unter Aufbietung aller Formulierungskünste in der Diktion des Stalinismus darauf, sein Regime gegenüber "dem Klassenfeind" besser abzusichern. Auch war er der einzige DDR-Führer, der die Sowjets darauf hinwies, daß die vertriebenen ehemaligen Ost-Unternehmer sich im Westen wieder selbständig machten, als Unternehmer durch amerikanisches "Subversionsgeld" (Marshall-Plan-Hilfe) wieder Fuß faßten und Schritt für Schritt ehemalige Mitarbeiter anzögen – "Abwerbung und Menschenhandel gegen Kopfgeld" wurde das genannt. Stalin fuhr indes zweigleisig: Gegenüber dem Westen entfachte er mit seiner Deutschland-Note vom 10. März 1952 eine diplomatische Offensive für ein vereintes, neutralisiertes und weitestgehend entmilitarisiertes Deutschland (wohinter real der Versuch stand, die USA aus Europa zu verbannen). Ulbricht und der SED gab er gleichzeitig grünes Licht für den "Aufbau des Sozialismus in der DDR" und die Sicherung der Zonengrenze. Im Mai 1952 beschloß die DDR entsprechende "Sicherungsmaßnahmen", womit die "grüne Grenze" immer unüberwindbarer gemacht wurde. Das "Schlupfloch West-Berlin" blieb davon zunächst noch unberührt. Außer der Sperrung der meisten Straßen für Autos und Fuhrwerke (um Fluchten "mit Sack und Pack" zu verhindern), blieb es beim gewohnten Hin und Her. Jedoch wurden die Maßnahmen an der Zonengrenze zur logistischen Vorbereitung für den späteren Mauerbau genutzt.

Eisenbahnring war erster Schritt zum Mauerbau

Vor allem die Ökonomen wiesen darauf hin, daß die Isolierung West-Berlins mit erheblichen Risiken für den Ostsektor der Stadt und die DDR verbunden wäre. Diese lagen vor allem auf verkehrstechnischem Gebiet. Historisch gewachsen, war Berlin insgesamt der Knotenpunkt des gesamten östlichen Eisenbahnsystems. Der Bau eines südwestlichen Außenrings der Reichsbahn war unerlässlich, um den Westen der Stadt für die DDR-Bahn überflüssig zu machen. Dazu waren auch Importe aus westlichen Ländern notwendig. Ähnlich verhielt es sich mit der Trennung der innerstädtischen Ver- und Entsorgungssysteme, den öffentlichen Verkehrsmitteln S- und U-Bahn, dem Telefon-netz und anderen technischen Einrichtungen. Ein weiteres Problem stellte die Arbeitskräftesituation dar; viele Westberliner arbeiteten im Ostsektor und wären kurzfristig nicht zu ersetzen gewesen. Dies alles beeindruckte Ulbricht kaum. Mit Energie ließ er die 2. Parteikonferenz der SED für Juli 1952 vorbereiten, auf welcher der "Aufbau des Sozialismus" beschlossen wurde.

Danach wurde dem Rest der privaten Wirtschaft in der DDR der Garaus gemacht, und es begann die Kollektivierung der Landwirtschaft, was die Fluchtbewegung nach Westen auf bis dahin nicht gekannte Höhen anschwellen ließ: rund 300.000 "illegale Abgänge" von Mitte 1952 bis Sommer 1953! Dazwischen lag der Tod Stalins am 5. März 1953, der Machtwechsel zu einer "kollektiven Führung" in der Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow und der Beschluß über einen "Neuen Kurs", der die "Fehler beim übereilten Aufbau des Sozialismus" in der DDR zurücknehmen, zu allgemeinen Verbesserungen in der Versorgungslage sowie zu mehr Rechtssicherheit führen sollte. Wie bekannt, war das schließlich der Auslöser für den Volksaufstand vom 17./18. Juni 1953 in Ost-Berlin und der DDR. Für diese Betrachtung ist wichtig festzuhalten, daß der 17. Juni 1953 praktisch die Generalprobe für den Mauerbau gewesen ist, was der Westen damals so gar nicht wahrgenommen hatte: denn für fast drei Wochen waren die Westsektoren Berlins total vom Osten abgeriegelt. Allerdings hatte das einen enormen personellen Aufwand an Truppen, Polizei, Partei- und sonstigen Sicherheitskräften erfordert. Fast drei Wochen lang standen die "menschlichen Sperrketten" Tag und Nacht entlang der Sektorengrenzen. Das hatte der politisch-militärischen Führung deutlich gemacht, daß in Berlin wesentlich mehr technische "Raffinesse" notwendig war als an der Zonengrenze, um die Isolierung West-Berlins zur Dauereinrichtung zu machen.

Der historischen Einordnung wegen sei an die unterschiedlichen außenpolitischen Aktivitäten und Kapriolen Chruschtschows zwischen 1954 und 1961 erinnert: die Beendigung des Korea-Kriegs, die Berliner Außenministerkonferenz 1954, Adenauers Moskau-Besuch und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Moskau und Bonn 1955, gescheiterte internationale Konferenzen von Genf und Paris, die kommunistischen Parteitage mit der "Entstalinisierung", Unruhen und deren blutige Niederschlagung in Ungarn und Polen 1956. All das hatte die Welt beschäftigt, oft in Atem gehalten.

Was weitgehend von der westlichen Öffentlichkeit unbemerkt geblieben und heute nahezu in Vergessenheit geraten ist, sind die politisch-ideologischen und gesellschaftspolitischen Neuerungen Chruschtschows innerhalb des Warschauer-Pakt-Blocks und der kommunistischen Bewegung. Zunächst hatte er 1954 den von Stalin geschaffenen, dann aber wegen dessen Desinteresse in Agonie verfallenen östlichen Wirtschaftsbund "Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) wieder aktiviert, dessen Mitglieder neben der Sowjetunion alle europäischen Ostblockstaaten waren. Über ihn sollten die Volkswirtschaften des Blocks zu einer bis dahin weltweit nicht gekannten Wirtschaftsverflechtung (östlicher Terminus: "Internationale sozialistische Kooperation und Arbeitsteilung") gebracht werden. Die Mitgliedstaaten spezialisierten sich auf bestimmte Produktionen (DDR: Ausrüstungen für den Schwermaschinenbau, Bergbau, Bauwirtschaft, Chemie, bestimmte Waggons für die Bahn; Ungarn: Omnibusse; CSSR: Straßenbahnen; Polen: Steinkohleverarbeitung, andere Textil etc.), womit sie nicht nur den gesamten Block beliefern, sondern auch die führende Rolle im sonstigen Außenhandel übernehmen würden. Auf Basis dieser Spezialisierung sollte für den Block erst Gleichstand mit dem Westen, dann dessen "Überholung" und schließlich ein solcher Überfluß produziert werden, daß dem Westen weltweit das Wasser abgegraben werden könnte. "Den Imperialismus auf seinem ureigensten Gebiet, der Wirtschaft, schlagen!" hieß die Losung.

Riesige "Kombinate" zur Rettung der Mißwirtschaft

Ab 1959 ließ Chruschtschow für 1961 einen neuen Parteitag und dafür ein neues Parteiprogramm der KPdSU vorbereiten. Mit ihm sollte der Kommunismus bis zum Ende des Jahrhunderts vollendet sein. Dies alles werde möglich, weil zwischen den "Bruderstaaten" nicht mehr die klassischen Formen des Außenhandels, der Konkur-renz und der Ware-Geld-Beziehungen herrschten, sondern "uneigennütziger Güteraustausch zum Wohle des gesamten sozialistischen Lagers". Mit Beginn der achtziger Jahre sollte sich dann der Nutzen dieser Wirtschaftsexplosion auf das allgemeine Lebensniveau auswirken. In der UdSSR würden schon zu Beginn der achtziger Jahre die Niedriglöhne abgeschafft, die Konsumfonds auf das Zwanzigfache steigen. In den Betrieben würden Arbeitsessen und Arbeitskleidung kostenlos abgegeben. Schulische Ausbildung aller Art, das gesamte Gesundheitswesen und vor allem alle Leistungen und Einrichtungen der Kultur stünden allen kostenlos zur Verfügung. Die UdSSR und das sozialistische Lager würden die Region der Erde mit den kürzesten Arbeitszeiten, dem längsten Urlaub und dem frühesten Renteneintritt. Wegen ausreichender Deckung des Grundbedarfs würde schrittweise die Bezahlung für Wohnraum einschließlich Heizung und Stromverbrauch abgeschafft, desgleichen für öffentliche Verkehrsmittel, Urlaubsreisen und Aufenthalte in Ferienheimen. Nach und nach würden erst in einfachen Restaurants und dann bis Anfang der neunziger Jahre überall Speisen und Getränke kostenlos abgegeben.

Dies geschehe analog schrittweise bei Lebensmitteln, Kleidung und anderen Produkten des täglichen Bedarfs, so daß mit Beginn des neuen Jahrtausends das "Geld als allgemeines Entlohnungs- und Zahlungsmittel abgeschafft", das kommunistische Zeitalter angebrochen sei.

Es wäre reizvoll, auf dieses Programmeinzugehen, das immerhin erst 1986 durch Gorbatschow stillschweigend zu den Akten gelegt wurde. Für die Vorgeschichte des Berliner Mauerbaus bleibt festzuhalten, daß es angesichts dieser politischen Perspektive Ulbricht nicht schwergefallen war, Chruschtschow davon zu überzeugen, daß in das kommunistische Paradies doch nicht ungehindert "imperialistische Parasiten" ein- und ausreisen dürften, um sich an dessen Segnungen zu bereichern. Und es bleibt ebenso festzuhalten, daß die völlig gegensätzlichen Vorstellungen von "Volkswohlfahrt" – hier kollektiv verordnete Einheitskost, da individuelle Lebensgestaltung – dem realen Sozialismus nur die Abrieglung zuließen.

Und es sollte nicht vergessen werden, daß das Programm des "vollendeten Sozialismus und Kommunismus" genau jenes gewesen ist, das den realen Sozialismus in den Ruin getrieben und der Nachwelt die ökonomische, ökologische und geistige Trümmerlandschaft hinterlassen hat, die noch Generationen abzutragen haben:

- die Schaffung von riesigen Monostrukturen mit den "Kombinate" oder "Trusts" genannten Monopolunternehmen;

- die Ausrichtung der Wirtschaft auf reine Mengenziele in der Produktion bei Verdrängung auch der simpelsten Rentabilitätsgesichtspunkte;

- die grundsätzliche Ausrichtung auf die jeweils bekannten westlichen Ist-Stände, die es ja zu überholen und "zu schlagen" galt – was jedoch praktisch hieß, dem wirklichen technischen (und erst recht modischen) Standard immer hinterherzuhinken, denn selbst die umfangreiche kommunistische Wirtschaftsspionage war nur unzureichend über westliche Unternehmensplanungen im Bilde;

- die Ausrichtung des Innenbedarfs an den ebenfalls bekannten westlichen Ist-Ständen, was von den genormten Wohnungsgrößen in den Plattenbauten bis hin zu Kleidung, Möbeln oder Autos reichte und nicht berücksichtigen konnte und wollte, daß es auch im Westen "Weiterentwicklung" gab (offiziell war er ja "verfaulender und absterbender Kapitalismus");

- die Ausrichtung auf reine Erweiterungen bei Investitionen, was die gewachsene Substanz sowohl in Städten und Gemeinden, schlimmer aber noch in der gesamten Produktion, verkommen ließ;

- das völlige Außerachtlassen auch nur der simpelsten Rentabilitäts- und Wirtschaftlichkeitsparameter im gesamten Lohn-Preis-Leistungs-System;

- und vor allem die totale Verbildung allen ökonomischen Nachwuchses im Sinne der "Wissenschaftlichen Ökonomie des Sozialismus", was nach dem Zusammenbruch des "realen Sozialismus" das Hineinwachsen von Führungskräften in die internationale Wettbewerbswirtschaft so schwer macht – kurzum: die Liste der Folgen jener ideologischen Verirrung, die Sozialismus heißt (und die nur totalitär und hinter Mauern und Stacheldraht zu verwirklichen ist), reicht bis in unsere Tage.

Die Logistik für die Berliner Schandtat gehört dagegen durchaus zu den "Glanzleistungen", zu denen eben vor allem (und gerade) totalitäre Systeme in der Lage sind: Tausende von Betonpfeilern mußten vorproduziert und geheim an unterschiedlichen Orten gelagert werden, Stacheldrahtzäune und Befestigungen vorbereitet, großenteils im Westen beschafft werden. Nicht einmal die Spanndrähte aus östlicher Produktion hatten die erforderliche Festigkeit! An den Kompensationsgeschäften mit westlichen Firmen beteiligten sich die sozialistischen "Bruderstaaten" mit Dreiecksgeschäften (rumänisches Erdöl gegen schwedischen Stahldraht, polnische Steinkohle gegen Schweizer Stahlkrampen etc. und deren Rückvergütung sodann durch "Wartburg" oder "Trabant" aus der DDR), weil Kreditgeschäfte mit dem Westen unter Chruschtschow noch tabu waren.

Und als oberster Organisator jener dann die Welt überraschenden Nacht-und-Nebel-Aktion des 13. August 1961 hat sich Erich Honecker jene Sporen verdient, die ihn zehn Jahre nach seinem "Meisterstück" zum Nachfolger des politischen "Bauführers" Ulbricht aufsteigen ließen.

Ulbrichts verräterische Mauer-Bemerkung: Auf einer Pressekonferenz im Juni 1961 antwortete Walter Ulbricht auf die Frage einer Journalistin der Frankfurter Rundschau, ob die Bildung einer Freien Stadt Berlin bedeute, daß die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird: "Ich verstehe Ihre Frage so, daß es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, daß wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, daß eine solche Absicht besteht. (…) Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten."

 

Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 Co-Moderator, zuletzt Redaktionsleiter des ZDF-Magazins. Danach war er bis zu seiner Pensionierung 1993 Chef vom Dienst der Chefredaktion des ZDF. Seither ist er als freier Publizist tätig.


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