© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001


Im Westen herrschte zunehmend Gleichgültigkeit
40. Jahrestag des Mauerbaus (II): Die Abschottung der DDR schützte die westdeutschen Wohlstandsbürger vor der Beschäftigung mit dem deutschen Volk
Doris Neujahr

Am 13. August 1961, so wollte es die DDR-Propaganda bis zum Schluß, schlug es für die "Ultras" und "Kriegsbrandstifter" in Bonn 13. Doch 13 schlug es erst einmal für die DDR-Bürger, denen die Mauer die Fluchtmöglichkeit nach West-Berlin als Ultima ratio gegen das SED-Regime verschloß. Das Verlassen der DDR hieß im allgemeinen Sprachgebrauch "Republikflucht", die Ableitung lautete aber nicht Republikflüchtling, sondern -flüchtiger, was Fahnenflucht, Eidbruch, Verrat, Verbrechen assoziierte. Mit dem Mauerbau demonstrierte die SED-Führung, daß es ihr ernst, tödlich ernst, damit war und sie die totale, quasi gottesstaatliche Verfügungsgewalt über die Bürger, die zufällig auf dem DDR-Gebiet lebten, beanspruchte.

Der Mauerbau wurde von Erich Honecker geleitet. Wie andere Menschen zur Entspannung mit der elektrischen Eisenbahn spielen, spielte Honecker als Staatschef am Modell einer innerstädtischen Grenzanlage "Grenzverletzer vernichten".

Die Folgen für die DDR-Bevölkerung lassen sich an einem spätmittelalterlichen Holzstich veranschaulichen. Er zeigt einen Mann, dessen Kopf die Himmelsschale durchbricht, die die kirchliche Dogmatik über die Erdscheibe gestülpt hat. Die Mauer war der Versuch, die Menschen ins Zeitalter einer neuen Dogmatik zurückzustoßen. Wer den Kopf über den gewaltsam verkürzten Horizont hinausreckte, riskierte, buchstäblich, den Kopfschuß!

Ein (Halb-)Volk wurde zur Geisel eines Ideologiestaates, der rationales Handeln und Arbeiten nicht zuließ. Durch die zwangsweise Teilnahme am "ungestörten Aufbau des Sozialismus" wurden die Menschen genötigt, an der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen mitzuarbeiten: 1989 waren Umwelt, Industrie, Wohnungsbestand usw. in der Tat ein Trümmerhaufen. Die Absurdität des eigenen Handelns täglich vor Augen zu haben, ohne ihr entrinnen oder sie auch nur benennen zu dürfen, erzeugte einen ungeheuren Leidensdruck, der sich in Alkoholismus und einer hohen Selbstmordrate Bahn brach. Christa Wolf hatte ihre Romanheldin Rita im "Geteiltem Himmel" (1963) über ihren geflüchteten Freund sinnieren lassen: "Wenn er hiergeblieben wäre, und sei es durch Zwang: Heute müßte er ja versuchen, mit allem fertig zu werden." Als hypothetische Feststellung war das richtig. Das Perverse an Wolfs Roman war nur, daß er das "Fertigwerden" als Gesundungsprozeß und individuelle und gesellschaftliche Chance beschrieb. In Wahrheit machte die Mauer krank.

Die Abschnürung erzeugte unerträglichen Leidensdruck

Viele DDR-Bürger hatten die Bedeutung des 13. August sogleich instinktiv erfaßt. Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt verlas im Dezember 1961 im Bundestag den Brief eines Ost-Berliner Arztes: "Der Wunsch, herauszukommen, nimmt nach der totalen Abschnürung epidemische Formen an. Mindestens 95 Prozent der Flüchtenden werden gefaßt und gehen einem grausamen Schicksal entgegen. Sehen Sie sich bitte die blutenden Fleischklumpen an, die uns eingeliefert werden (...). Geben Sie der hiesigen Bevölkerung eine Hoffnung, damit die von Woche zu Woche steigende Selbstmordkurve endlich fällt, die zu Weihnachten Böses ahnen läßt."

Die Hölderlin-Verse: "Die Mauern stehn / sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen" wurden fortan als Beschreibung der eigenen, erstarrten Wirklichkeit gelesen. Die Mauer war ihr Symbol und ihr äußerer Rahmen, die Unterbindung der Reise- und Bewegungsfreiheit nur ihre spektakulärste Folge. Nach dem 13. August war beispielsweise auch die heimliche Einfuhr systemfremder Bücher und Zeitungen zu Ende. Für Belletristik wurde die Lizensierung und Einfuhrkontrolle seit den siebziger Jahren kulanter gehandhabt, für moderne Philosophie, Zeitgeschichte, Gesellschafts-, Sozial- und Medienwissenschaften, für alles, was von direkter politischer Relevanz war, blieb sie rigide. Der Hallenser Psychologe Joachim Maaz konstatierte ein nahezu lückenloses System von "Einengung, Kontrolle, Ängstigung, Strafe und Beschämung", in der staatliche und elterliche Repression ineinander arbeiteten. "Was in der Kindheit erzwungen wurde, haben die Eltern den Kindern abverlangt. (...) Die elterliche Einschüchterung ’Überleg Dir gut, was Du sagst!‘ und ’Sei vorsichtig‘ gab dem Überwachungs- und Spitzelsystem die Grundlage für eine fast grenzenlose Ausdehnung."

Maaz verweist hier auf das – gern unterschlagene – Ineinander von Unterdücker und Unterdrückten, das Diktaturen eigen ist. Leidensdruck und Widerspruch zum allmächtigen staatlichen Über-Ich lassen sich nur begrenzt aushalten, und bloß eine Minderheit hat genügend Mut und Möglichkeiten zu hinhaltender Verweigerung, zu alternativen Lebensformen oder zum Rückzug in geistige Enklaven. Die vielzitierten, nachträglich zu Unrecht verhöhnten Ost-"Nischen" – scharf abgezirkelte, inoffizielle Orte angstfreier Kommunikation – waren viel seltener als angenommen. Die Mehrheit wich aus in regressives Verhalten und war mehr und mehr bereit, die staatlich gesetzte Willkür als Naturzustand hinzunehmen und zu verinnerlichen. Für den obersten Mauerbauer prägte der Volksmund den Kosenamen "Hony". Die anbiederische, sklavische Vertraulichkeit, die in ihm liegt, war noch der harmloseste Ausdruck der um sich greifenden politischen und moralischen Korrumpierung.

Im Westen war der Grad der Betroffenheit nach Wohnort, verwandtschaftlichen Bindungen, nach Herkunft und politischen Prägungen unterschiedlich. Am härtesten traf der Mauerbau West-Berlin, wo die Abschnürung vom Umland und Trennung von Verwandten und Bekannten unmittelbar den Alltag berührte. Als Weihnachten und Neujahr 1963/64 erstmals Passierscheine für den Ostsektor ausgegeben wurden, strömten mehr als ein Drittel der West-Berliner nach Ost-Berlin.

Staatliche und elterliche Repression wirken zusammen

Inzwischen weiß man, daß Kennedy und Chruschtschow sich im Sommer 1961 bei ihrem Wiener Treffen viel intensiver über das Berlin-Problem unterhalten haben, als zugegeben wurde. Der Verdacht, daß ein informelles Stillhalteabkommen zwischen der Sowjetunion und den drei Westalliierten existierte, kam ohnedies schnell auf. Ob es angesichts eines drohenden Atomkriegs eine Alternative dazu gab, sei dahingestellt. Die Deutschen sahen sich jedenfalls von einer Erfahrung eingeholt, die seit dem Dreißigjährigen Krieg immer wieder ihre Gefühlslage bestimmt hatte: Nicht sie selber, sondern fremde Mächte bestimmten über ihr Schicksal. Die Folge war eine tiefe kollektive Kränkung. In einem Alarmbrief warnte ein verbitterter Willy Brandt den amerikanischen Präsidenten vor einer Vertrauenskrise und forderte ihn zu "letzter Entschlossenheit" auf. Als nach einer Woche klar war, daß keine Gegenmaßnahmen erfolgen würden, titelte Bild in ohnmächtiger Wut: "Der Osten handelt. Was tut der Westen? – Der Westen tut nichts!"

Der Mauerbau machte der Bonner Republik klar, daß die Teilung nicht nur vorübergehend und der Ruf nach Wiedervereinigung auf unabsehbare Zeit ein Lippenbekenntnis bleiben würde. Als das Bundesverfassungsgericht 1973 über den Grundlagenvertrag zu befinden hatte, mußte es, um politische Realität und Verfassungsanspruch halbwegs zur Deckung zu bringen, allen halsbrecherischen Scharfsinn aufbieten, zu dem die deutsche Jurisprudenz eben fähig ist. Die Bundesrepublik, so die Richter, sei "als Staat identisch mit dem Staat ’Deutsches Reich‘ – in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ’teilidentisch‘, so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht". Das war juristisch korrekt, aber was sollte eine nachwachsende Generation, für die das Deutsche Reich Geschichte war, mit dieser Wolkenschieberei – dazu noch ohne Ausschließlichkeitsanspruch – anfangen?

Ein besorgter Norbert Elias sah für sie eine schleichende Identitätskrise heraufziehen, die er für gefährlicher hielt als eine Wirtschaftskrise. "Neue Generationen wachsen in Westdeutschland auf, die fragen, was eigentlich der Sinn und Wert der Gesellschaft ist, in der wir leben. Man kann sie nicht einfach damit abspeisen, daß man sagt: ’Wartet nur ein bißchen, dann kommt das alte, große, geeinte Deutschland wieder.‘ Damit verschärft man nur eines der schwersten Probleme, das in Westdeutschland bisher unbewältigt bleibt – die Identitätskrise. Die weitgehende Desorientierung, die wachsende Ratlosigkeit über Richtung, Wert und Bedeutung der Bundesrepublik, die man beobachten kann, ist eine Folge des Versuchs zu verstehen, daß das Unglück des Nationalsozialismus und die Zerstörung des geeinten Deutschlands, die er herbeigeführt hat, eine neue Situation geschaffen haben."

Es ist zu simpel, alle Versuche, eine Identität jenseits des handlungsunfähigen deutschen Nationalstaats zu begründen, durch moralische Disqualifikation zu erledigen. Elias hatte das individuelle Bedürfnis, einer kollektiven Schicksalsgemeinschaft anzugehören – und die übliche, nächstliegende war eben: die Nation –, als grundlegend beschrieben. Eine gelebte Schicksalsgemeinschaft aber konnte das Konstrukt "Deutschland als Ganzes" spätestens seit 1961 nicht mehr sein. Gerade die Begabteren unter den jungen Menschen fühlten sich vom Staat entfremdet, der die kollektive Sinnfrage mit Verweis auf einen politisch Untoten beantwortete. Das Identitätsmanko füllten sie häufig durch den Marxismus auf, der es gestattete, die nationale in der Klassenkampf-Frage aufzulösen.

Die deutsche Teilung begründete in Westdeutschland einen Leidensdruck der eigenen Art. Die spezifischen Formen und Folgen der (west-)europaweiten 68er Revolte in Deutschland: das Verharren im Dauer-Protest, der Umschlag jugendlichen Überschwangs in kindische Bösartigkeit (statt in die Gelassenheit von Erwachsenen), die sich bevorzugt im antinationalen Exorzismus austobte, sind auch mit der Wunde der deutschen Teilung zu erklären.

Der andere Teil Deutschland geriet unaufhaltsam aus dem Blickfeld, die Mauer senkte sich in West wie in Ost in das Bewußtsein ein. Der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel, geboren 1952 in Ostwestfalen, in West-Berlin wohnhaft, hat in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen die unmerkliche Beiläufigkeit des Vorgangs erfaßt: "Mein System von Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung, in dem Ostberlin auf die Seite der Nichtwahrnehmung geraten war, hatte keine Sensoren für die historische Zeit. Ich hatte im Wortsinne keine Geschichtszeit. Nicht nur Westberlin war ewig, solange Ostwestfalen ewig war. Auch Ostberlin war ewig, einschließlich der gesamten DDR."

Treichel beschreibt einen Realitätsverzicht, eine freiwillige, spiegelverkehrte Horizontverkürzung, mit der man sich Phantomschmerzen ersparte. Die problematische "Abwesenheit einer solchen Empfindung" hat Peter Schneider in der Novelle "Der Mauerspringer" (1982) wiederum als Krankheitssymptom diagnostiziert. Der Protagonist, ein West-Berliner Schriftsteller, ist "mißtrauisch gegen die hastig ergriffene Identität, die ihm die beiden Staaten anbieten, (er) findet (...) seinen Ort nur noch auf der Grenze". Es stellt sich die Frage, ob diese Existenzform sich auch für andere eignete als für frei schwebende Geistesmenschen. Ob der Schmerz, will man nicht irre an ihm werden, nicht irgendwann ruhiggestellt werden muß, wenn schon die Wunde sich als unheilbar erweist.

Unaufhaltsam senkte sich die Mauer ins Bewußtsein ein

Die DDR-Bürger haben darin zunehmende Gleichgültigkeit der Westdeutschen gegenüber ihrem schwierigen Schicksal erkennen wollen. Das ist ungerecht. Der "häßliche Westdeutsche" begann erst da, wo er das unabweisbar Faktische zum moralisch Wünschbaren erklärte, wo er DDR-Bekannten riet, statt einen Ausreiseantrag zu stellen, das Sozialismus-Experiment durchzustehen und wegen der "deutschen Geschichte" bloß nicht auf die deutsche Einheit zu setzen, wo er mit einem hypermoralisch aufgeladenen Begriff von "deutscher Geschichte" Kasse und Karriere machte.

Peter Schneider hatte im "Mauerspringer" prophezeit: "Die Mauer in den Köpfen einzureißen wird länger dauern, als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht." Von West nach Ost herrschte weitgehend Desinteresse. Zwar war die Wißbegierde in Ost-West-Richtung ungleich größer und hatten die DDR-Bürger regelmäßig die Nachrichten und politischen Magazine des Westfernsehens konsumiert, doch vom Alltag und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik, von ihren Konflikten und Debatten, von ihrem Selbstverständnis usw. hatten sie wenig Ahnung. Die Fernsehwirklichkeit blieb, da sie nicht nachgeprüft werden konnte, surreal.

Ein Realitätsverzicht, der Phantomschmerzen erspart

Die DDR-Bürger waren an der deutschen Einheit unmittelbar interessiert, weil sie Anschluß an Demokratie und Wohlstand versprach, doch eine Elite, die gesamtdeutsche Konzepte vorlegte, konnten auch sie nicht beibringen. Die Annahme, daß die Sowjetunion stabil bleiben und die DDR aus ihrem Imperium nie entlassen würde; die Tatsache wiederum, daß ein östlicher Teilstaat nur Sinn ergab, solange er sozialistisch war; die Dominanz des Marxismus in der Schul- und Hochschulbildung; die Neid- und Unterlegenheitsgefühle gegenüber der BRD, die mitunter zu einem kompensatorischen DDR-Patriotismus führten; die Abschottung und der fehlende internationale Austausch, die erdrückende Stasi-Präsenz, die Ausreisewellen – all das und noch mehr summierte sich zu einer Verdinglichung im politischen Denken, von der sich auch die schwache Opposition niemals freimachen konnte. Reformerische Denkansätze blieben auf das Ziel eines "besseren Sozialimus" und einer "besseren DDR" beschränkt. Eine echte, zum zielgerichteten politischen Denken und Handeln fähige Gegenelite, vergleichbar mit der in Ungarn oder Polen, existierte in der DDR nicht.

Ratlosigkeit übrigens auch bei jenen Kreisen im Westen, die nach 1989 insistierten, immer an die Einheit "geglaubt" zu haben. Ihre Idee von der Einheit hatte sich an keinerlei erfahrbarer Wirklichkeit gemessen, erprobt und entwickelt, sondern sich aus der Vergangenheit und romantischer Kulturverklärung gespeist. Sie war ein ideologisches Glaubensbekenntnis, aber kein politisches und kulturelles Konzept. Über die deutsch-deutschen Entfremdungen, über die unterschiedlichen Interessenlagen und Sichtweisen, über ihre Zusammenführung oder die Möglichkeiten ihrer Vielfalt in der Einheit hatten diese Nationalen nichts Relevantes mitzuteilen. Die Bürger der Ex-DDR stellten für sie eine Szenerie aus Jubelpersern dar. Sie waren für sie nur insofern von Interesse, als sie durch den Mauerfall ihre tief empfundene nationale Kränkung aufgehoben hatten. In den diversen neokonservativen Manifesten kommen "Ossis" und ihre Themen so gut wie nicht vor. Eine Debatte über die geistige und kulturelle Dimension der Wiedervereinigung konnte es deshalb aus dieser Richtung auch nicht geben.

Es ist so bezeichnend wie verdächtig, daß die "Gewaltlosigkeit", die Mauerfall und DDR-"Wende" begleitete, in Ost und West als ein Wert an sich gefeiert wird. Als die Berliner Stasi-Zentrale in der Normannenstraße am 15. Januar 1990 von wütenden Demonstranten gestürmt und die Hinhaltepolitik des letzten SED-Premiers, Hans Modrow, damit beendet wurde, eilten Politiker in Ost-Berlin und Bonn vor die Kameras, um unisono die DDR-Bürger aufzurufen, jetzt bloß nicht die "friedliche Revolution" kaputtzumachen. Bei diesen Aufrufen hat die Furcht vor den gewaltigen sowjetischen Armeen in der DDR zweifellos eine Rolle gespielt. Wenn man sich vergegenwärtigt, was die Mauer bei zahllosen Opfern angerichtet hatte, waren sie zugleich eine Zumutung.

Die jahrzehntelang Gedemütigten, die eben den aufrechten Gang probten, wurden aufgefordert, sich nochmals der schwindenden Autorität ihrer Peiniger zu beugen, sich mit ihnen zu arrangieren und auf eine rechtsstaatliche Justiz zu vertrauen. Dabei war jedem klar, daß die Ungeheuerlichkeiten, die die SED angerichtet hatte, kaum justiziabel waren. Nicht ohne Grund werden Revolutionen und innenpolitische Umbrüche, in denen sich lange aufgestaute Spannungen entladen, von Gewalt begleitet und danach klugerweise amnestiert.

In der DDR existierte keine handlungsfähige Gegenelite

Im Westen hatte sich neben der "Gorbimanie" die Haltung ausgebreitet, nun müsse man der Sowjetunion "dankbar" sein. Das sympathische Charisma Gorbatschows ist unbestritten, es geht auch nicht um Stilkritik an den Bauchpinsel- und Schmeicheleien, die unverzichtbarer Teil erfolgreicher Realpolitik sind, und erst recht nicht um die Abwertung der spontanen Hilfsbereitschaft für notleidende Russen, sondern um die in der kollektiven deutschen Psyche verankerten Mischung aus Hypermoral, zeitgeschichtlicher Ahnungslosigkeit und politischer Infantilität. Natürlich können die Deutschen froh sein, daß die Sowjetunion 1989 und in der Folge maßvoll gehandelt hat, doch wofür sollten sie ihr Dankbarkeit bezeugen? Dafür, daß sie ihre Kriegsbeute, nachdem sie sie jahrzehntelang ausgepreßt und durch ihre Statthalter zugrunde gerichtet hatte, jetzt, da sie ihr keinen Nutzen mehr versprach, gegen milliardenschweres Lösegeld freigab? Bis heute traut niemand sich, festzustellen, daß die faktische Straffreiheit für die SED-Führung, für Mauer- und Stasi-Generäle, die die sowjetischen Truppen durch ihre schiere Anwesenheit erzwangen, als eine letzte kollektive Demütigung, wenn nicht gar als Pharaonenfluch für die Deutschen dasteht.

Es liegt in der Logik dieser gesamtdeutschen Verdrängung, daß die PDS als ihr eigentlicher Nutznießer nun als Koalitionspartner in Frage steht und ein SPD-Generalsekretär, bei dem sich Chuzpe und Dummheit die Waage halten, eine Regierungsteilhabe angeblich erneuerter SED-Nachfolger gar als Mittel zur Überwindung innerdeutschen Gräben anpreist.

Eine SED-Nachfolgepartei, die ihre Vergangenheit "aufgearbeitet"hat, ist ein Widerspruch in sich. Denn eine Aufarbeitung, die diese Bezeichnung verdient, könnte nur heißen, die SED-Verbrechen ungeschminkt beim Namen zu nennen und in ihrer ganzen ungeheuerlichen Bedeutung zu begreifen, als da sind: millionenfache Freiheitsberaubung und Psychofolter, Mauermorde, zigtausendfache körperliche Mißhandlungen, planvolle Herbeiführung von Wirtschaftschaos, Massenverarmung, ideologischer Volksverdummung usw. usf. Die Schlußfolgerung könnte dann nur lauten, daß eine SED-Nachfolgepartei aus geschichtlichen und moralischen Gründen keine Existenzberechtigung besitzt, daß sie sich auflösen und als Zeichen tätiger Reue ihr Vermögen einschließlich der Auslandskonten ihren Folteropfern zur Verfügung stellen muß.

Genau das wird die PDS allein schon aus Selbsterhaltungstrieb nicht tun, im Gegenteil, sie wird weiter ihr Schulderbe bestreiten, verniedlichen und die Opfer verhöhnen. Daß sie dies durch Mithilfe von SPD und Grünen zunehmend von Regierungsbänken aus tun kann, zeigt nur, daß das Wort von der "Mauer in den Köpfen" inzwischen eine viel gefährlichere Bedeutung angenommen hat, als selbst Pessimisten das 1989/90 für möglich hielten.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen