© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Selbstschußanlagen entlarvten ein System
Deutsche Teilung: Vor 25 Jahren wurde der DDR-Gegner Michael Gartenschläger von Grenzsoldaten erschossen
Christian Vollradt

Die Tat hatte ein Fanal gegen die gerade errichtete Berliner Mauer werden sollen: Am 17. August 1961 steckten fünf Jugendliche, alle zwischen 17 und 19 Jahre alt, im Brandenburgischen die Scheune einer LPG in Brand. Zuvor hatten sie schon Propagandaplakate der SED mit Farbflaschen beworfen und Losungen wie "Macht das Tor auf!" oder "Deutschland den Deutschen!" an Hauswände geschrieben. Zwei Mitglieder dieser "konterrevolutionären Gruppe", der Oberschüler Gerd Resag und der Lehrling Michael Gartenschläger, wurden nach einem Schauprozeß am 15. September 1961 vom Bezirksgericht Frankfurt/ Oder zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt wegen "Diversion im schweren Fall in Tateinheit mit staatsgefährdenden Gewaltakten und staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall".

Mit dem schweren Strafmaß gegen die Heranwachsenden hatte die DDR-Justiz bewiesen, daß sie die Bedrohung durch eine junge Widerstandsbewegung gegen SED-Diktatur und gewaltsame Teilung Deutschlands hoch einschätzte.

Gartenschläger kam zunächst in die Jugendstafvollzugsanstalt Torgau, danach ins Zuchthaus Brandenburg. Obwohl er sich äußerlich mit dem System des Haftbetriebs arrangierte und die Ausbildung als Dreher abschloß, unternahm er mehrere (allerdings erfolglose) Ausbruchsversuche. Nachdem er knapp zehn Jahre seiner Haft verbüßt hatte, kaufte ihn die Bundesregierung im Sommer 1971 frei. Michael Gartenschläger ließ sich als Tankstellenpächter in Hamburg nieder. In einem Bericht resümierte er: "Es festigte sich in mir die Überzeugung, daß sinnvoller Widerstand gegen dieses Unrechtssystem nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht ist." Zunächst betätigte er sich als Fluchthelfer, holte insgesamt sechs Personen aus der DDR oder anderen Ostblockstaaten. Doch neben diesen Einzelschicksalen lag ihm die Demaskierung des "real existierenden Sozialismus" am Herzen, ein auch im Westen angesichts der "Entspannungspolitik" nicht unbedingt populäres Unterfangen.

"Ich glaube", so Gartenschläger damals, "der Unrechtscharakter der DDR kommt besonders in der Selbstschußanlage und in der Tatsache ihres weiteren Ausbaus – trotz der Ablösung Ulbrichts – zum Ausdruck. Da ein solcher Automat, der bereits mehrere Todesopfer forderte, nicht in der Bundesrepublik existierte, entschloß ich mich, ein komplettes Aggregat zu Demonstrationszwecken zu holen." Am 30. März und am 24. April 1976 gelang es Gartenschläger, in der Nähe von Lauenburg an der Elbe von westlicher Seite aus einen Selbstschußapparat des Typs SM (Sprengmine) 70 zu demontieren, ohne daß die Ladung ausgelöst wurde. Fünf Jahre nach ihrer erstmaligen Anbringung gelangte ein solches Gerät in den Westen, wo es in einem Labor untersucht wurde. Zur Sicherung ihres "antifaschistischen Schutzwalls" hatte die DDR auf Pläne des Reichssicherheitshauptamtes, die den Sowjets in die Händ gefallen waren, zurückgegriffen und die Tötungsautomaten an jedem vierten Betonpfahl des Metallgitterzaunes in unterschiedlichen Höhen angebracht. Etwa 100 Gramm TNT-Sprengladung und über 100 scharfkantige Stahlwürfel im Schußtrichter erzeugten auf bis zu 25 Metern Distanz eine Wirkung, die mit der von Dumdum-Geschossen vergleichbar war.

Gartenschläger hatte mit seiner waghalsigen Demontage seine Vermutung bestätigt, daß die SM 70 über keinen mechanischen Schlagzünder verfügte und daher durch Zerschneiden des Zündkabels entschärft werden konnte. Mit dem Existenz- und Funktionsnachweis hatte er aber auch die DDR ein Dreivierteljahr nach Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte international de-savouiert und sich die erbitterte Feindschaft des Regimes zugezogen.

In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1976 war Gartenschläger mit zwei Gefährten – beide wie er ehemalige politische Häftlinge in der DDR – erneut unterwegs, um eine Sprengmine zu demontieren. Trotz Warnungen seitens bundesdeutscher Behörden und gegen den Rat der Freunde überschritt er die Demarkationslinie, die sich etwa fünfzehn Meter vor der Grenzbefestigung befand, wieder zwischen Büchen und Bürgerhof bei Lauenburg. Ohne Anrufen, ohne vorherigen Warnschuß wurde auf Gartenschläger das Feuer eröffnet, kurz bevor er den Grenzzaun erreicht hatte. Grenzaufklärer der Staatssicherheit hatten ihm aufgelauert; sogar Scheinwerfer waren zuvor ausgeschaltet worden, um die Falle perfekt zu machen. Wahrscheinlich hatten Spitzel, die im Westen auf ihn angesetzt worden waren, Gartenschläger verraten. Der Maßnahmeplan der Hauptabteilung I des Staatssicherheitsministeriums, wonach der "Grenzverletzer Gartenschläger festzunehmen bzw. zu vernichten" sei, wurde erfüllt. Bis auf westdeutsches Gebiet, wo Gartenschlägers Begleiter gewartet hatten, drangen die Projektile aus den Kalaschnikows vor. Erst im Jahr 1983 ließ die DDR – vom Westen dafür finanziell reichlich belohnt – die SM 70, von denen zuletzt mehrere Tausend Stück im Einsatz waren, abbauen.

Während des Prozesses vor dem Schweriner Landgericht gegen die Todesschützen des 1. Mai 1976 sagte ein Kronzeuge aus, Gartenschläger sei noch am Leben gewesen, als ihn die Posten fanden. Auf Befehl des Zugführers seien dann noch einmal Schüsse auf den Verwundeten abgegeben worden. Im März 2000 wurden die Angeklagten, die von Mielkes Garde reichlich Dotation für ihren "Erfolg" erhalten hatten, mangels Beweisen vom Vorwurf des versuchten Mordes freigesprochen.


 
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