© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001


Affären kommen und gehen
Frankreich: Der gaullistische Präsident und sein sozialistischer Premier bleiben trotz Kritik gelassen
Charles Brant

Mit der friedlichen "Kohabitation" an der Spitze der französischen Republik ist es vorbei. Für den gaullistischen Präsidenten Jacques Chirac und den sozialistischen Premierminister Lionel Jospin hat die Stunde der Abrechnung geschlagen. Eine trotzkistische Vergangenheit, Flugscheine, Sonderkonten und diverse andere Affären tragen zum Unterhaltungswert des diesjährigen Sommertheaters bei.

Frankreich ist in die heiße Phase des Präsidentschaftswahlkampfes eingetreten. Eingeläutet hat sie der amtierende Präsident höchstpersönlich, als er in seiner traditionellen Fernsehansprache anläßlich des französischen Nationalfeiertages am 14. Juli (Jahrestag des Sturms auf die Bastille) der Regierung Jospins die wachsende Unsicherheit im Lande, die hohe Steuerbelastung und Verschuldung anlastete. Seine Parteifreunde verstanden Chiracs Worte als Kampfansage. Die Parteivorsitzende Michèle Alliot-Marie bezeichnete das Auftreten des RPR-Kandidaten als "erfrischend, offensiv, von manchmal beißender Ironie und in Topform".

Tatsächlich hat sich Chiracs Position in der Folge dieses Angriffs verschlechtert. Die Erklärungen, die er betreffs seiner Flugrechnungen oder der geheimen Konten abgab, befriedigten weder die Justiz noch das französische Volk. Letzteres mußte mit Erstaunen aus dem Munde seines Staatsoberhauptes vernehmen, die "Tradition" verlange, daß Gelder aus Geheimkonten von einer Hand zur nächsten gereicht werden. Auch wenn im Moment ausgeschlossen scheint, daß der Präsident vor einen Untersuchungsrichter geladen wird – die juristische Maschinerie bleibt am Ball. Bislang haben die Magistrate Chiracs Tochter und Beraterin Claude, seinen Chauffeur und diverse andere Personen aus Chiracs Umfeld vernommen.

Auslöser des Skandals waren die Affäre um die Geschäfte der Pariser Wohnungsbaugesellschaft HLM, die undurchsichtigen Parteifinanzen des RPR, die Videokassette des verstorbenen Immobilienhändlers Jean-Claude Méry (die JUNGE FREIHEIT berichtete) und nicht zuletzt die Bereitschaft einiger Richter, die Immunität des Staatschefs aufzuheben, sofern Tatbestände verhandelt werden, die Chiracs Wahl zum Präsidenten vorausgingen. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen werfen besonders die privaten Flugreisen Probleme auf, die Chirac als Bürgermeister von Paris in die USA sowie nach Mauritius und Réunion unternahm. Diese wurden in bar bezahlt und nicht per Scheck, wie es das französische Gesetz bei Summen über 20.000 Francs (knapp 7.000 Mark) vorschreibt.

Der politische Alltag in Frankreich gleicht momentan dem einer Bananenrepublik. Ein regelrechter Sumpf ekelerregender Affären, Gepflogenheiten und "Traditionen" ermöglicht dem Präsidenten und seinem Premierminister, über Sonderkonten – in Höhe von 393 Millionen Francs (130 Millionen Mark) allein für dieses Jahr – zu verfügen. Diese Gelder dienen dazu, die Geheimdienste (Spionage und Gegenspionage) zu subventionieren, aber auch die Gehälter von Vertrauten, Mitarbeitern und Familienangehörigen aufzurunden. Nicht zu vergessen die kleineren und größeren Unstimmigkeiten in der Buchhaltung oder die auf den ersten Blick aufrichtigen "Enthüllungen" etwa über die Folter in Algerien. Beim näheren Hinsehen tritt selbst hier so manche Manipulation zutage. So wird gemunkelt, das Buch "Services spéciaux. Algérie 1955–57" (Perrin, Paris), das unter General Aussaresses’ Namen veröffentlicht wurde, sei in Wirklichkeit eine Auftragsarbeit für das "schwarze Kabinett" im Präsidentenpalast gewesen, um die Linke zu diskreditieren, die zur Zeit der Terrorismusbekämpfung in Algerien die französische Regierung stellte. Der ghostwriter der Memoiren des Generals soll dieselbe Person gewesen sein, die mindestens eins der Bücher Christine Deviers-Joncours – der ehemaligen Mätresse Roland Dumas’, der sich in der Elf-Aquitaine-Affäre so hervortat – verfaßt hat.

So bringen sich die Fronten für den Wahlkampf in Stellung. Eine weitere Episode dieses Nervenkriegs dreht sich um die trotzkistische Vergangenhiet des Premierministers. Bis zum vergangenen Juni hatte Jospin seine Mitgliedschaft in der trotzkistischen Bewegung stets geleugnet. Denjenigen, die das Thema nicht ruhen lassen wollten, legte er nahe, daß sie ihn wohl mit seinem Bruder verwechselten. Zu seinem Unglück hatten die Journalisten der Tageszeitung Le Monde keinerlei Mühe, Zeugen aufzufinden, die Jospins langjährige Mitgliedschaft in der Organisation communiste internationaliste (OCI) bestätigen konnten. Damit nicht genug: Le Monde gelang es nachzuweisen, daß dieses Engagement über zwei Jahrzehnte hinweg anhielt.

Angeworben wurde Jospin zu Beginn der sechziger Jahre als Student an der Staatlichen Verwaltungsschule ENA. Unter der Anleitung des erfahrenen Revolutionssoldaten Boris Fraenkel "infiltrierte" Jospin das Außenministerium am Quay d’Orsay, wo er eine Beraterfunktion innehatte. Offiziell galt Jospin damals nicht als Aktiver des OCI, sondern hatte den Status eines "Maulwurfs", eines "schlafenden Agenten".

Jospin blieb bis 1968 am Quay d’Orsay. Danach war er unter dem Pseudonym "Michel" für eine Zelle des OCI verantwortlich, deren Mitglieder im Untergrund arbeiteten. Ende 1971 trat Jospin in die Sozialistische Partei ein – vermutlich ein strategischer Schritt in Richtung einer Beeinflussung der gesellschaftlichen Mitte. Sechs Monate später ergriff der spätere Präsident François Mitterrand bei den Sozialisten das Ruder und nahm Jospin unter seine Fittiche. Seinen rapiden Aufstieg durch die Parteihierarchie verdankte letzterer der Tatsache, daß Mitterrand ihn als Gegengewicht zur Phalanx des Jean-Pierre Chevènement brauchte. 1981 übernahm Jospin den Posten des Ersten Parteisekretärs. Seine Kontakte zu den Genossen des OCI brach er laut Le Monde erst fünf oder sechs Jahre später ab.

Das verspätete Bekenntnis zu seinem politischen Werdegang hat Jospins Popularität offenbar keinen Abbruch getan, zumal er ihn zum "intellektuellen Abenteuer" zu stilisieren pflegt. Im heutigen Frankreich genießt ein ehemaliger Trotzkist eben weitaus höheres Ansehen als ein ehemaliges Mitglied des Front National.

Chirac hätte diese Geschichte zu seinen Gunsten ausschlachten können. Bislang hat er sich dieses Vergnügen versagt, abgesehen von einigen wenigen Anspielungen in seiner Rede zum 14. Juli auf Menschen, die aus "ideologischen Gründen die Strukturen unserer Gesellschaft" bekämpfen und "den Staat zersetzen" wollen. Die traurige Wahrheit ist, daß das Herz des französischen Präsidenten viel weiter links schlägt, als man meinen sollte. Als treuer Jünger des Zeitgeistes ist auch er vom antifaschistischen Wahn besessen. In seiner pazifistisch angehauchten Jugend unterzeichnete er den Stockholmer Appell und verkaufte die marxistische Wochenzeitung La Humanité-Dimanche. Dieser Enthusiasmus handelte ihm Probleme ein, als er 1953 ein Visum für die USA beantragte.

Zehn Monate vor den Präsidentschaftswahlen hat sich die Zusammenarbeit zwischen Staats- und Regierungschef eindeutig verschlechtert. Dieser Zustand spiegelt den Verfall der staatsbürgerlichen Moral ebenso wider wie die Korruption des Staatsapparates. Indessen brennen in den Vororten die Autos, und die Rave-Kultur fordert weitere Todesopfer. Der Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier wird zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen. Die Grünen-Politikerin Dominique Voynet ist von ihrem Regierungsposten zurückgetreten. Die Kommunisten Jean-Claude Gayssot und Marie-Georges Buffet denken nicht daran, ihrem Beispiel zu folgen. Und die Franzosen haben Wichtigeres im Kopf als Wahlprognosen – sie fahren in den Urlaub.


 
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