© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Alles nicht so schlimm
Belgien: Das politische Establishment arbeitet den Fall des Kinderschänders Dutroux neu auf
Mina Buts

Marc Dutroux jammert: Alle siebeneinhalb Minuten knipst ein Gefängniswärter das Licht an und überprüft, ob er noch lebt, und außerdem wird er bei jeder Rückkehr in seine Zelle einer Leibesvisitation unterzogen. Sein Anwalt wittert in diesem Vorgehen sogar eine "Schändung der Menschenrechte". Dutroux ist unbestritten der prominenteste belgische Häftling. Seit fünf Jahren sitzt er, abgesehen von einem kurzen Ausbruchsabenteuer, in Haft und wartet auf seinen Prozeß. Die nach ihm benannte Affäre rückte Belgien 1996 für einen kurzen Moment in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit und an den Rand des Abgrunds: Gemeinsam mit einigen Komplizen entführte er junge Mädchen. Nachdem sie mißbraucht worden waren, fand man sie ermordet auf, nur zwei konnten gerettet werden.

Es gab ernst zu nehmende Hinweise, daß diese Taten nur durch Schlampereien der Justiz – ob bewußt oder unbewußt – möglich waren, zudem gab es Gerüchte, daß die Verbindungen der Kinderschänderbande bis in höchste Regierungskreise reichten.

Nach dem ominösen Mord an dem wallonischen Sozialistenführer Cools 1991, der Agusta- und der Dassault-Affäre war das Land in Aufruhr: Mehr als 300.000 Menschen gingen in einem "Weißen Marsch" auf die Straße, um für eine Reform der Justiz, gegen Korruption und für den Schutz der Bürger zu demonstrieren. Monatelang berichteten die Medien über den Fall und seine möglichen Verästelungen, immer neue Zeugen meldeten sich.

Unterdessen muß in Belgien an Dutroux erinnert werden, der Fall ist aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt. Das Verfahren ist bis heute nicht eröffnet worden. Nach etlichen Verschiebungen hatte man zwar endlich den Herbst 2002 avisiert, aber selbst dieses Datum wird schon wieder in Frage gestellt: Die Anklage möchte sich nämlich auf die Auswertung von 5.000 Haaren, die man bei Opfern und Tätern fand, stützen, von denen aber erst ein Drittel untersucht worden sei. Obendrein soll es noch DNA-Analysen geben.

Erschwert wird die gerichtliche Aufarbeitung durch den plötzlichen Tod eines der drei Ermittler, Hubert Massa, im Dezember 1999, angeblich ein Selbstmord. Er war zugleich der einzige Anwalt, der noch im Fall Cools ermittelte.

Massa ist aber nicht der einzige Tote, den es seit Beginn der Ermittlungen zu beklagen gibt. Ein Berufskollege des Schrotthändlers Dutroux wurde vergiftet aufgefunden, kurz darauf starb dessen Witwe, die Enthüllungsmaterial über Dutroux und seine Bande angekündigt hatte, auf einer mit Brandbeschleuniger getränkten Matratze. Ein Restaurantbesitzer, der gelegentlich Dutroux und seine Gehilfen bekochte, wollte den Vater eines der ermordeten Mädchen treffen, wurde aber vorher auf einem Parkplatz erschossen. Eine andere Zeugin wurde tot aus der Maas gefischt, ein weiterer starb durch ein manipuliertes Asthmapräparat. Insgesamt sind bereits mehr als zehn Todesfälle im "Nachgang" der Affäre zu beklagen. Trotz aller Merkwürdigkeiten unterblieb in allen Fällen eine Obduktion, es gab auch keine weiteren Aufklärungsbemühungen.

Das belgische Nachrichtenmagazin Knack nimmt nun den fünften Jahrestag der Verhaftung von Dutroux zum Anlaß für einen Rückblick. Selbstkritisch werden plötzlich die Medien verurteilt, die sich zu wenig kaltblütig gezeigt, ja, den Gerüchten sogar noch neue Nahrung gegeben hätten. Der Herausgeber des Blattes, Marc Reynebeau, meint, schon in den Jahren zuvor hätte sich "eine Art durch Unbehagen induzierter Neurose abgezeichnet", die sich meist in ihrer "schwarzen Version" als Erfolg der rechten Parteien gezeigt hätte, aber eben auch in ihrer "weißen Version" mit der Demonstration der 300.000. Die Dutroux-Affäre habe vor allem die "Angst vor einer unsicher gewordenen Zukunft" ans Licht gebracht, mehr nicht.

Auch Louis Tobback, damaliger SP-Vorsitzender, fragt süffisant, was denn die vielen Demonstranten mit ihren weißen Transparenten und Ballons eigentlich gewollt hätten – "Da stand ja wortwörtlich nichts drauf" –, und er warnt die Bürger seines Landes, ihre persönlichen Interessen über das Gemeinwohl zu stellen, denn das "führt zu Unregierbarkeit. Und Anarchie führt zu Diktatur." Julien Pierre, Dutroux’ Verteidiger, kann da nur Morgenluft wittern und gibt zu bedenken, daß "die belgische Öffentlichkeit in dieser Affäre Schlachtopfer einer gigantischen Manipulation" war. Von den verschwundenen oder liquidierten Zeugen ist in Knack nicht die Rede, statt dessen werden die Eltern der ermordeten Mädchen als "esoterisch" oder sonstwie nicht ernst zu nehmen diskreditiert. Eine neue Herangehensweise an den Fall Dutroux, die mit einer politischen Absicht verbunden zu sein scheint: Die Frage, ob sich an den belgischen Zuständen in den vergangenen fünf Jahren wirklich etwas gebessert hat, ist nicht wenigen offenbar unangenehm.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen