© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Haager Richter auf vermintem Gelände
Carl Gustaf Ströhm

Die Verurteilung des serbischen Generals Radislav Krstic zu 46 Jahren Haft durch den Haager Gerichtshof ist im Westen mit einhelliger "Befriedigung" registriert worden. Endlich hatte man den Schuldigen für das Massaker von Srebrenica – jener bosnischen Stadt, die "Uno-Schutzzone" war und trotzdem im Juli 1995 von serbischen Truppen erobert wurde. Faktisch unter den Augen niederländischer UN-Soldaten wurden damals achttausend moslemische Männer von der serbischen Soldateska ermordet. Krstic war einer der Befehlsgeber.

Doch war er der einzige Schuldige? Achttausend Menschen innerhalb weniger Tage zu erschießen oder zu erschlagen, setzt gewaltige "logistische" Anstrengungen voraus – so etwas kann kein einzelner Mann mit ein paar Gehilfen vollbringen. Wo sind die Exekutoren – das heißt all jene, die damals ihre Opfer totgeschossen oder totgeschlagen haben? Die (zugegebenermaßen verängstigten) holländischen Offiziere tranken Slivovitz mit den Mördern und taten nichts, um das Massaker zu verhindern. Und die Nato bzw. deren verlängerter Arm, die SFOR, tat nichts, um des Hauptschuldigen, des serbischen Befehlshabers General Ratko Mladic, habhaft zu werden. Dieser und andere mutmaßliche Täter befinden sich immer noch auf freiem Fuß – inklusive des Serbenführers Radovan Karadzic. Offensichtlich hat die SFOR Angst, daß es Blutopfer unter den eigenen Soldaten – und damit unabsehbare innenpolitische Probleme in der Heimat – geben könnte, wenn man hart durchgreift. Und wie relativ der vielgerühmte Gerechtigkeitssinn des "neuen" Serbiens ist, demonstrierte dieser Tage der Belgrader Premier Zoran Djindjiz: Er erklärte, nach Milosevic komme eine weitere Auslieferung von Serben nach Den Haag nicht mehr in Frage.

Mit dem Versuch, das Balkan- und Südostproblem durch Veranstaltung möglichst vieler Kriegsverbrecherprozesse zu entschärfen, hat sich der Westen auf vermintes Gelände begeben, aus dem es keinen Ausweg gibt. Nachdem Den Haag den kroatisch-bosnischen General Tihomir Blaskic bereits vor anderthalb Jahren zu 45 Jahren verurteilt hatte – obwohl dieser offenbar nur wegen Nichteinschreitens oder Unkenntnis quantitativ weitaus geringfügiger Delikte beschuldigt wurde –, mußte der Gerichtshof gleichziehen, um das labile Equilibrium nicht zu gefährden. Nach Kroaten und Serben sollen jetzt erstmals auch die bisher verschonten moslemischen Generale angeklagt werden. Das Ergebnis kann nur ein Rattenschwanz von Prozessen mit zahllosen Verurteilungen sein. Dabei werden die Grenzen zwischen Aggressoren und Opfern (vielleicht sogar bewußt) verwischt. Die Übertragung westlicher, ja angelsächsischer Rechtsphilosophie auf die völlig andersgeartete "balkanische" Realität wird nicht Friedfertigkeit, sondern neue Ressentiments und Rachegelüste provozieren.

Sowenig wie die Todesstrafe die Kriminalität in den USA spürbar gesenkt hat, sowenig werden Kriegsverbrecherprozesse, zumal vor einem Gerichtshof mit zweifelhafter Legitimiation, den "Balkan" befrieden oder gar versöhnen. Gerade der Fall Srebrenica zeigt, daß hier uralte, atavistische Haßkomplexe eine Rolle spielen: die Serben betrachten die Moslems als Erbfeinde und Verräter – und fühlen sich im Recht, wenn sie diesen "Gegner" dezimieren. Da spielt noch die Amselfeld-Schlacht (Kosovo) von 1389 mit hinein. Bosnien-Herzegowina ist nicht Boston, Massachusetts. Wer das nicht begreift, bleibt dazu verdammt, alte Fehler stets aufs Neue zu wiederholen.


 
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