© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Der gefährliche Weg in die Freiheit
40. Jahrestag des Mauerbaus (III): Von der Fluchthilfe für Menschen aus der DDR zur endgültigen Überwindung der innerdeutschen Grenze
Hans-Jörg von Jena

Eins war von Anfang an klar: die Himmelsrichtung. Wer sich aufmachen mußte, ging in Richtung Westen. Das begann noch während des Zweiten Weltkrieges, als das Ende mit Schrecken sich abzeichnete. Man floh vor "den Russen", der Sowjetarmee: die Bewohner der östlichen Provinzen Deutschlands sowohl wie diejenigen, die vor kurzem noch als "Evakuierte" im Osten Schutz vor den alliierten Bomben auf die deutschen Großstädte gesucht hatten. Soldaten zogen die Aussicht auf westliche Kriegsgefangenschaft einer östlichen vor.

Nach Kriegsende wurde die Welle zum unerhörten Strom. Die Vertreibung der Deutschen aus ihren seit sieben Jahrhunderten angestammten Wohnsitzen jenseits von Oder und Neiße war eine Sache weniger Jahre. Polen und Tschechen nutzten die ihnen vom großmächtigen Stalin eröffnete vermeintliche Chance und schoben bis 1950 zehn Millionen Menschen ins darbende Vier-Zonen-Deutschland ab. Es war die Fortsetzung von Hitlers Vertreibungs- und "Lebensraum"-Wahn mit umgekehrtem nationalen Vorzeichen; zwei weitere Millionen Menschen kamen bei der Aktion um.

Ein Zyniker würde sagen: zwei Millionen hungrige Zuwanderer weniger! "Hungrig" war damals nicht metaphorisch zu verstehen, nicht als Umschreibung des Willens, sich tatkräftig eine neue Existenz aufzubauen (oder gar, wie ein Boxer, das große Geld zu verdienen). Das kam später. Zunächst bedeutete es die nackte Not. Im überbevölkerten, um ein Viertel verkleinerten Restland unter alliierter Kuratel rückte man notgedrungen zusammen. Die Bürokratie der Zonen und der neu entstehenden Länder suchte sich die Unerwünschten trickreich vom Hals zu halten, indem man sie sich gegenseitig zuschob.

Im Herbst 1949 begann die Ära der Zweistaatlichkeit. Durch die Gründung der Bundesrepublik und – mit der effektvollen Geste des "Bitte, nach Ihnen!" – der DDR war Deutschland formell geteilt; der von Bismarck erlistete und erzwungene Gesamtstaat, Partner der Sieger noch in der Stunde der Kapitulation, wurde zum schattenhaften alliierten Vorbehaltsrecht. Genaugenommen aber war die Teilung schon früher erfolgt, als jede Siegermacht sich die alleinige Hoheit über die eigene Zone sicherte: Erst als sich die drei westlichen Zonen in den ersten Nachkriegsjahren mehr und mehr annäherten, trat an die Stelle der Vierteilung eine – sich reziprok vertiefende – Zweiteilung.

Was bedeutete das für die Menschen? Die Freizügigkeit war bis 1949 zwischen den Zonen generell eingeschränkt. Wer vom amerikanischen München ins britische Köln oder ins französische Karlsruhe fahren wollte, benötigte einen Interzonenpaß. Eine "grüne Grenze" allerdings, die oft nur illegal und unter Gefahren zu überschreiten war, gab es nur längs der Sowjetzone.

Wie viele Menschen bis 1949 aus dieser vierten Zone "in den Westen" (der ja oft auch der Süden oder der Norden war) gegangen sind, wie viele Heimatvertriebene sich von dort aus zum zweiten Mal auf den Weg machten, darüber fehlen verläßliche Angaben. Fest steht nur, daß es unvergleichlich viel mehr waren als jene, die das beginnende sozialistische Experiment zur Umsiedlung in umgekehrte Richtung bewog.

Zahlen liegen erst für die Jahre ab 1949 vor. In den fünfziger Jahren trat, amtlich sorgsam von den "Vertriebenen" unterschieden, ein neues Massenphänomen in Erscheinung, die "Flüchtlinge". Drei Millionen Menschen verließen in dieser Zeit von 1949 bis 1961 die DDR in Richtung Westen, davon 2,7 Millionen illegal. Ein gewaltiger Aderlaß für ein Gebiet von erst 18, dann 17 Millionen Einwohnern.

Die DDR war nur gegen die Menschen zu regieren

Er wurde durch eine grundlegend veränderte Situation ausgelöst und verstärkt. In der Bundesrepublik griff das "Wirtschaftswunder"; wie jedes Wunder kam es plötzlich. In wenigen Jahren wandelte sich das arme, amputierte, teilweise kriegszerstörte Teil-Deutschland in ein Land des Wohlstands und beginnenden Überflusses. Tempo und Intensität des Wiederaufbaus, dem die DDR trotz "Aufbau"-Getöse nichts Vergleichbares an die Seite stellen konnte, hatte zur Folge, daß nicht bloß jegliche Arbeitslosigkeit (in der Weimarer Republik ein nie bewältigtes Problem) verschwand, sondern der Arbeitsmarkt geradezu leergefegt war. Man begann sich mit ausländischen "Gastarbeitern" zu behelfen. Vor allem aber übte das Vakuum einen Sog aus auf die zunehmend – sei es aus wirtschaftlichen, sei es aus politischen Gründen – unzufriedene Bevölkerung der DDR.

Der Staat, der sich seit 1952 ausdrücklich "auf dem Wege zum Sozialismus" definierte (der skeptische Zusatz vom "real existierenden Sozialismus" war noch nicht erfunden), befand sich in einem Dilemma. Er war und blieb ein Geschöpf der Sowjetmacht, die aus vielen Gründen unbeliebt war; Walter Ulbricht wußte wie wenige, daß nur gegen die Menschen (anstatt demokratisch mit ihrer Zustimmung) zu regieren war. Am 17. Juni 1953 hatten Sowjetpanzer das Regime retten müssen. Aber gegen den politischen Zwang blieb den Menschen jederzeit ein Ausweg: die Flucht nach Westen. Der Reiz des westlichen Wohlstandes potenzierte sich mit der Qual der Unterdrückung.

Die DDR tat viel, um ihren Bürgern den Ausweg nach Westen zu verlegen. Die Grenze (auch die rings um West-Berlin zur umgebenden Zone) wurde schon 1952 gesperrt und militärisch undurchdringlich gemacht. Ausreisewillige wurden schikaniert und kriminalisiert. Was blieb ihnen übrig, als sich, wenn ihr Entschluß feststand, unter Zurücklassung all ihrer Habe davonzumachen? Möglich war das immerhin noch. Man mischte sich etwa im Berufsverkehr, bloß mit einer Aktentasche bewehrt, am Bahnhof Friedrichstraße unter die Fahrgäste und war nach zwei Minuten "im Westen". Dort sah man, zumeist mit Erfolg, sich um nach einer neuen Existenz. Denn den innerstädtischen Verkehr in Berlin wagte der Osten wegen des Viermächtestatus der Stadt nicht anzutasten. Berlin war das Schlupfloch für alle, die es in der DDR nicht aushielten.

Gab es damals schon "Fluchthilfe"? Im Wortsinn wohl nicht, indirekt in erheblichem Maße. Die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen waren vielfältig und mußten sich noch nicht in "Ostpaketen" und gelegentlichen Ostbesuchen unter Erlegung eines Eintrittsgeldes erschöpfen. Die Flucht wurde mit vorbereitet, indem man unauffällig ein paar Habseligkeiten abholte. Flüchtlinge konnten oft privat unterkommen, sparten sich das Notaufnahmeverfahren.

Was immer die DDR tat, sie vermochte den Drang nach Westen nicht zu stoppen. Daß der Flüchtlingsstrom bei gelegentlichen Lockerungsübungen des Regimes etwas nachließ, fiel nicht ins Gewicht gegenüber den gewaltigen Steigerungen, zu denen es bei verschärften Unterdrückungsmaßnahmen, etwa nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 oder der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft 1958 kam. Als sich im Sommer 1961 Gerüchte verdichteten, irgendeine Art von Sperre werde die Flucht künftig unmöglich machen, entschlossen sich auch die bislang Zögernden; im Juli erreichte die Flüchtlingszahl die Rekordmarke von 60.000.

Der 13. August 1961, die Sperrung der innerstädtischen Grenze in Berlin samt nachfolgendem Bau der Mauer, wurde zum Schicksalsschlag – nicht anders als 28 Jahre später jener glückhafte 9. November änderte er die Situation von Grund auf. Ulbricht triumphierte zunächst. Seine Rechnung ging auf, daß der Mauerbau ohne gravierende weltpolitische Folgen blieb. Die Westalliierten, offensichtlich vorgewarnt, nahmen den Anschlag auf den Viermächtestatus Berlins hin. Fast war man froh über die erzwungene "saubere" Teilung der Deutschen, die den Siegern von 1945 den Vorteil brachte, die jeweils eigene Klientel beider Staaten und beider Hälften Berlins in zuverlässiger Abhängigkeit zu halten.

Die Mauer war kein Symbol, sie war die Teilung selbst

Für die – im doppelten Wortsinn – betroffenen Deutschen hingegen bedeutete der 13. August einen tiefen Einschnitt. Nicht nur das Land, auch das Volk war fortan geteilt, West-Berlin weit mehr als im Jahr der Blockade (1948/49) eine Insel, beides, wie es schien, auf unabsehbare Zeit. Resignation behielt allerdings nach dem anfänglichen Entsetzen keineswegs das letzte Wort, weder in der Politik noch im Alltag, und zwar auf beiden Seiten des häßlichen Teilungsbauwerks nicht. Willy Brandts spontane Äußerung am 13. August, "heute beginnt unsere eigentliche Bewährungsprobe", fand ihre unmittelbare Verwirklichung in der – nun freilich stark reduzierten – Flucht und der – verstärkten – Fluchthilfe. Junge Leute vor allem nahmen die Gefahren auf sich. Studenten zumal wurden eine Zeitlang zu heimlichen Helden (diese Wertschätzung sollte sich 1968 gründlich ändern).

In den ersten Tagen nach dem 13. August war noch manches möglich. Man kennt das Foto des Grenzsoldaten Schumann, der in voller Uniform die Stacheldrahtrolle in Richtung Westen überspringt. Und Fluchthilfe war dadurch erleichtert, daß West-Berliner bis zum 23. August noch ungehindert, wenn auch kontrolliert die Sektorengrenze passieren durften.

Danach wurde es riskant. Bewohner der Bernauer Straße seilten sich aus ihrem Osthaus, das an den West-Bürgersteig grenzte und von unten nach oben zugemauert wurde, durch noch offene Fenster ab; einige verfehlten das Sprungtuch. Es wurde geschossen. Beim Durchschwimmen von Grenzgewässern gab es erste Tote. Heroische zwei, drei Jahre folgten. Die Fluchtwege wurden immer abenteuerlicher. Man sprang auf Fernzüge auf oder zwängte sich durch die Kanalisation. Einzelne durchbrachen die Grenzsperren auf direktem Wege.

In aller Heimlichkeit wurden Tunnel gegraben, durch die unterhalb der Sperranlagen Dutzende Menschen in die Freiheit krochen. Allerdings wurden die Tunnel jeweils bald entdeckt, und vereinzelt kam es zu bewaffneten Zwischenfällen. Offizielle Fluchthilfe war von deutscher wie von alliierter Seite in West-Berlin strikt untersagt. Im Zweifel schützte auch die West-Berliner Polizei von ihrer Seite aus die Mauer.

Bodo Müller hat in seinem kürzlich erschienenen Buch "Faszination Freiheit" spektakuläre Fluchtgeschichten gesammelt. Sie übertreffen an Spannung jeden Krimi, man liest sie mit Herzklopfen und diejenigen, die tragisch endeten, mit Trauer. Der Fall des 18jährigen Bauarbeiters Peter Fechter, der sich mittags um halb zwei in der Berliner Innenstadt auf die Mauer schwang, heruntergeschossen wurde und hilflos verblutete, löste 1962 auf West-Berliner Seite fast einen Volksaufstand aus: Erregte Menschen wollten den Bau mit bloßen Händen zum Einsturz bringen. Dann trat so etwas wie Gewöhnung an das vorerst Unabänderliche ein. Man richtete, auf beiden Seiten, sich darauf ein, mit der Mauer zu leben, erst zähneknirschend, dann mehr und mehr resignativ.

Aber nicht achselzuckend. Dazu griff die Mauer zu tief in das Leben vieler Menschen ein. Sie war eben keineswegs bloß Symbol der Teilung, sie war die Teilung selbst. Deshalb mochte sich die hohe Politik mit ihr längerfristig abfinden können; der zähe Kampf um "menschliche Erleichterungen" wurde dadurch übrigens eher forciert. Die DDR-Bewohner jedoch standen immer wieder vor der Wahl, sich dem Druck zu unterwerfen oder zu versuchen, so schwierig und gefahrvoll es war, den Weg aus dem Gefängnis zu finden, zu dem ein ganzer Staat geworden war.

40.000 Menschen haben das in den 28 Mauern-Jahren bis 1989 geschafft. Keine große Zahl, verglichen mit der Ost-West-Wanderung in den Jahren zuvor, in der Summe von Einzelfällen jedoch ein wahres Epos an Selbstbehauptungs- und Freiheitswillen. Wie- viel Energie, Geschick und Intelligenz an die individuelle Überwindung der Mauer gewandt worden ist, läßt sich kaum ermessen.

Als jeder unterirdische Weg versperrt schien, wurde die Mauer überflogen oder durchbrochen. Man seilte sich ab, richtete sich einen Ballon her, baute jahrelang heimlich an einem kleinen Flugzeug. Man panzerte Fahrzeuge, suchte schwimmend oder surfend über die Ostsee zu entkommen. Das alles war halsbrecherisch und kostete auch oft den Hals. Die Mehrzahl dieser Fluchtversuche, muß man fürchten, scheiterten schon im Ansatz, endeten im Kugelhagel oder mit einer langjährigen Zuchthausstrafe. Und es gab wohl keinen "Sperrbrecher", dem nicht auch das Glück zu Hilfe gekommen wäre.

Auf jeden Fall bedurfte er der Hilfe. Verwandte und Freunde aus dem Westen brachten notwendige Materialien oder standen auf der anderen Seite der Mauer wartend bereit. Noch stärker galt das bei Fluchten mit falschen Papieren. Mit Raffinement war es im Einzelfall möglich, die gründlichst bewachte Grenze der Welt zu umgehen, ohne daß die extrem mißtrauische Stasi-Bürokratie den Weg durchschaute. Daß jedoch auch Umwege über die Ostblockländer nur im Ausnahmefall zum Erfolg führten, zeigt eine andere Zahl: 15.000 Festgenommene wurden von dort an die DDR ausgeliefert, die ihnen dann den Prozeß machte.

Der Freikauf von Häftlingen war so zwielichtig wie human

Den politischen Instanzen waren zumeist die Hände gebunden. Immerhin bürgerte sich der "Freikauf" von Häftlingen ein, eine ebenso zwielichtige wie human segensreiche Praxis. 1.000 bis 1.500 Menschen konnte so alljährlich die Haftzeit verkürzt und die Ausreise ermöglicht werden. Der "Preis" beim Menschenhandel stieg im Durchschnitt allmählich auf 100.000 Mark. Rund 2,2 Milliarden Mark wurden insgesamt für 34.000 Freilassungen an die DDR überwiesen.

Es gab auch die "legal" Ausreisenden. Ihre Zahl lag erheblich höher. Das Dilemma des Regimes blieb, verlagerte sich nur auf eine andere Ebene. Wer um internationale Anerkennung buhlte (und sie schließlich mehr oder weniger erreichte), konnte auf Kontakte nach draußen nicht verzichten. Menschen blieben dort, manchmal mußte man sie auch gehen lassen. Die Vereinbarungen von Helsinki 1975, die die Ausreisefreiheit garantierten, trugen auch Honeckers Unterschrift. Sein Staat wollte nicht ständig am Pranger stehen.

Das Regime ist letztlich an dieser Frage gescheitert. Repressionen nutzten ihm immer nur vorübergehend. Erleichterungen minderten kaum den Druck im Kessel, verstärken ihn nach kurzer Pause oft durch Erhöhung der Reiseansprüche in der Bevölkerung. Auf die Dauer läßt sich eben doch nicht gegen die übergroße Mehrheit regieren, auch dann nicht, wenn sie sich im Grunde als unpolitisch versteht. Mit den Worten Talleyrands: "Man kann mit Bajonetten vieles beiwirken, aber nur schlecht auf ihnen sitzen ..."

Die Botschaftsflüchtlinge, die zu Hunderten in die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in Prag, Budapest oder Ost-Berlin stürmten, signalisierten im Sommer 1989 Krise und Ende. Als am 11. September Ungarn die Grenze zu Österreich öffnete, ohne die DDR vorher auch nur zu informieren, gab es kein Halten mehr. Maueröffnung am 9. November und Ende der DDR erschienen im nachhinein als notwendige Folge.

 

Tunnelbau unter der Berliner Mauer (1964): Der West-Berliner Student und Fluchthelfer Klaus-Michael von Keussler gehörte zu der Gruppe um den Schauspieler Wolfgang Fuchs, die nach dem Mauerbau Menschen zur Flucht von Ost nach West verholfen hat. Die Fluchthelfer bauten zehn Monate in einer Tiefe bis zu zwölf Metern einen nur 80 Zentimeter hohen und 145 Meter langen Gang unter der Mauer. Am 3. und 4. Oktober 1964 konnten 57 Menschen von der Strelitzer Straße in Ost-Berlin in die Bernauer Straße im Westteil der Stadt gelangen. Am 5. Oktober wurde der Tunnel von der Staatssicherheit entdeckt.


 
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