© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Perfider Terror eines kranken Systems
Ein aus der DDR geflohener Schausteller wird von der Staatssicherheit bis ans Ende der Welt gejagt
Werner Wollweber

Wer diesen Fluchtreport liest, denkt, er sei in Absurdistan! Im Dezember 1981 flieht der Schausteller Willy Hieronymus Schreiber im Lastkraftwagen seines Freundes A. S. mit seiner Tochter nach Westberlin. A. S., der Lkw-Fahrer und Spediteur, ist ein in beiden Teilen Berlins arbeitender italienischer Kommunist. Der Italiener, wie Schreiber kein Honecker-Verehrer, läßt sich überreden, ihm Fluchthilfe zu leisten. Als nach einer schweißtreibenden Fahrt über den Checkpoint Charlie die Flucht gelungen ist, reißt er erleichtert die Wagentür auf und ruft: "Ihr seid frei!"

Schreiber kommt ins Auffanglager Marienfelde, denkt sich dort eine Legende aus und hält aus verständlichen Gründen die wirklichen Umstände seiner Flucht geheim. Er hat Angst, die Freiheit des Fahrers bei dessen Wiedereinreise zu gefahrden. Trotzdem war der Italiener für die Stasi verdächtig geworden. In letzter Minute gelingt es jedoch auch ihm noch zu entkommen.

Schreiber beginnt mit seiner Tochter ein neues Schaustellerleben im Westteil Berlins.Währenddessen wird seine frühere Ost-Ehefrau eine eifrige Stasi-Freiwillige. Argwöhnisch verfolgt sie die Bestrebungen ihres Mannes, sein zweites Kind, den Sohn, der bei ihr lebt und sich dort offensichtlich unwohl fühlt, ebenfalls in den Westen zu holen. Trotz emsiger Überwachung des Jungen durch die Ex-Frau A., ihren "Neuen", W. S., wie sie Stasi-IM, sowie informierte MfS-Dienststellen gelingt auch diese Flucht.

Die allmächtigen Tschekisten fühlen sich düpiert. Die dandyhafte Eitelkeit der spießigen Mielkeleute ist so sehr verletzt, daß sie den kleinen Familienvater, der sich um die Zusammenführung seiner Familie bemüht, an die Spitze der Haßliste setzen. Dort werden normalerweise nur jene notiert, denen man schwerste ideologische oder wirtschaftliche Schädigung des real existierenden Sozialismus zurechnet.

In den nächsten Jahren werden Tschekisten nahezu in Kompaniestärke im Westen Deutschlands in Marsch gesetzt. Telefonterror, unentwegte Observation, Vertreibung aus der Schaustellergilde Berlins, mehrmalige Mordanschläge, Zerstörung seines Schausteller-Wagens, Verhaftungen von Freunden bei DDR-Einreisen, Abbrennen seines Wohnmobils in Bayern. Vertreibung nach Italien, aber auch dort folgt die Stasi bis zu engültigen Flacht des Geplagten auf die Insel Tahiti, wohin die Stasi noch nicht gedrungen ist. Eine Robinsonade im Europa der hilflosen Demokratien.

Die Rückkehr nach der Wende ins wiedervereinigte Deutschland endet in erneuter Hoffnungslosigkeit. Die alten Stasi-Netzwerke haben sich wirtschaftlich wieder gefestigt, gewinnen zunehmend an Macht, und als einer der von ihnen Gejagten steht Schreiber den Aktionen der neuen Seilschaften hilflos gegenüber.

Die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, schrieb am 22. Februar des Jahres 2000 ein Vorwort zu dieser Odyssee, in dem sie ihm internationale Publizität seiner Erfahrungen wünschte.

Die Geschichte ist spannend zu lesen. Wer sich als Nicht-DDR-Bürger über die Hilflosigkeit der Stasi-Opfer wundert, dem mag die Lektüre dieses Erfahrungsberichtes die Augen öffnen. Zu hoffen wäre, daß ein Aufklärungseffekt auch bei jenen einsetzt, die in den Stasi-Agenten "im Feindgebiet" immer noch Verteidiger sozialistischer Errungenschaften erblicken.

 

Willy Hieronymus Schreiber: Im Visier – Anatomie einer Flucht. Vindobona Verlag, Wien 2001, 261 Seiten, 39 Mark


 
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