© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Bloß kein Antikommunismus
von Klaus Motschmann

Es ist gekommen, wie es nach den reichen Erfahrungen der jüngeren Geschichte kommen mußte – und insofern auch vorauszusehen war. Nachdem in Berlin alle Parteien des sogenannten antifaschistisch-demokratischen Verfassungsbogens unter der Parole "Gemeinsam gegen Rechts" die notwendigen Zeichen für die politisch-gesellschaftliche Neuorientierung der "Berliner Republik" gesetzt haben, werden nun die Konsequenzen gezogen. Dazu gehört die Aufkündigung der Großen Koalition; dazu gehört aber auch die Tatsache, daß nun die CDU in das Fadenkreuz der antifaschistisch-demokratischen Verfassungshüter rückt. Und dies, obwohl (bzw. gerade weil) sie über die Jahre hinweg immer wieder betont hat, daß sie sich in diesem "Kampf gegen Rechts" von keiner anderen Partei übertreffen lasse, weil es rechts von ihr keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe.

Daraus folgt, daß sie in dem von ihr mitgestalteten und mitverantworteten politischen Koordinatensystem rechts von den Sozialisten liegt. Alle Beteuerungen, sie sei eine "Partei der Mitte" und schon gar nicht eine konservative, geschweige denn eine rechte Partei – Gottseibeiuns! – vermögen an dieser Feststellung nichts zu ändern. Das Definitionsmonopol für wichtige politische Begriffe liegt nun einmal bei der politischen und intellektuellen Linken!

Seit wann aber dulden Sozialisten auf Dauer rechts von sich eine eigenständige bürgerliche Partei? Wo ist auch nur ein Indiz dafür zu erkennen, daß das in Zukunft der Fall sein könnte? Einstweilen sprechen sehr eindeutige Indizien dafür, daß die erfolgreichen Methoden sozialistischer Machtergreifung und Machterhalts auf legalem Wege auch weiterhin praktiziert werden. Welche Veranlassung sollten die Sozialisten auch haben, ihre Strategie und Taktik zu ändern? Dazu gehört in erster Linie die Denunziation des politischen Gegners. Ihm werden zunächst antikommunistische, dann faschistische Intentionen unterstellt, sofern er seine bisherige Linie beibehält. Die Kritik richtet sich in der Regel zunächst gegen einzelne Mandatsträger oder Funktionäre der Partei, dann erst gegen die Partei insgesamt. In der konkreten Berliner Situation erfolgt also vorerst keine Kritik an der CDU insgesamt, sondern an ihrem Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahlen im Herbst, Frank Steffel.

Tatsächlich hat sich Steffel immer wieder einmal zur PDS und ihrer Vorgängerin SED kritisch geäußert und berechtigte Zweifel an ihrem Demokratieverständnis geäußert. Er hat – sehr moderat – daran erinnert, daß die Gefahr für die Zukunft unseres Volkes nicht allein von rechts kommt, sondern möglicherweise auch von links. Damit hat er allerdings an einem Tabu unserer Konsensmediokratie gerührt und Reaktionen ausgelöst, die ein zuverlässiger Gradmesser für das Meinungsklima in Deutschland sind. Fast durchgängig ist ihm in den Medien eine antikommunistische Grundhaltung attestiert worden. Offensichtlich habe er die Wandlungen in der Welt, in Europa und in Deutschland seit 1989/90 in ihrer ganzen Tragweite nicht erfaßt; er verharre in den politischen Denkkategorien des Kalten Krieges, also der Vergangenheit, und sei deshalb nicht fähig, Berlins Zukunft zu gestalten.

Welche Zukunft, wenn man beiläufig fragen darf? Es bleibe in diesem Zusammenhang dahingestellt, ob und wieweit sich die Kommunisten tatsächlich gewandelt haben oder noch in einem Wandlungsprozeß begriffen sind. Das ist nicht das Problem. Nicht dahingestellt werden darf die Feststellung, daß sich ihre offenen und heimlichen Sympathisanten in Westeuropa und insbesondere in Deutschland nicht gewandelt haben. Sie glauben unbeirrt von allen geschichtlichen Erfahrungen an den Wandel des Kommunismus und vermitteln damit ein Bild von der Wirklichkeit, das nicht der Klärung, sondern der Verklärung kommunistischer Politik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dient. Das ist das Problem.

Bereits Marx, Engels und Lenin haben sich übereinstimmend gegen "ganze Banden halbreifer Studiosen und überweiser Doctores, – vorlauter Literaten und Studentchen, Universitätszähmlinge und Gernegroße aller Art" erwehrt, die das "Entscheidende im Marxismus absolut nicht begriffen haben: nämlich seine revolutionäre Dialektik. Sogar die direkten Hinweise von Marx meiden sie und gehen um sie herum wie die Katze um den heißen Brei" (Lenin). So erklärt es sich, daß sie ständig bemüht sind, dem Sozialismus "eine ’höhere‘, ’ideale‘ Wendung" zu geben (Engels). Damit aber zeigen sie sich "in ihrem ganzen Verhalten als feige Reformisten, die sich fürchten, von der Bourgeoisie abzurücken oder gar mit ihr zu brechen, und die gleichzeitig ihre Feigheit durch zügellose Phrasendrescherei und Prahlerei bemänteln" (Lenin).

Dafür bietet die nunmehr über 150- jährige Geschichte des Sozialismus in Theorie und Praxis erschütternde Beispiele, wobei insbesondere an die langen Phasen der Unterdrückung, der Verbrechen und des Terrors in allen Teilen der Welt, also nicht nur in der Sowjetunion, zu denken ist. Das "Schwarzbuch des Kommunismus" (1997) beziffert die Zahl der Todesopfer mit ca.100 Millionen! Wo wird dieses Thema in der Weise aufbereitet wie die Verbrechen des Nationalsozialismus?

Mit der wissenschaftlich unhaltbaren Phrase der "Entartung des Sozialismus" durch Stalin ist das Thema (weithin) vom Tisch. Und vom Stalinismus habe man sich ja deutlich genug distanziert. Der Glaube kann eben doch Berge versetzen: ganze Leichenberge, die den Blick in die lichte Zukunft des Sozialismus verstellen oder zumindest stören könnten.

Aber selbst wenn man sich dieser Art der Vergangenheitsbewältigung verpflichtet fühlt: Wie steht es mit der Beurteilung und Verurteilung jener Intellektuellen und Künstler, Publizisten und Theologen, die Kritik an Stalin (damals wie heute) mit derselben Phraseologie vom Antikommunismus abwehrten und den Antikommunismus als die "Grundtorheit des Jahrhunderts" (Thomas Mann, 1943) verurteilten? Als ein besonders markantes Beispiel sei an den großen Theologen Karl Barth erinnert. Trotz all dieser Erfahrungen der ersten Nachkriegsjahre sah Barth keine Veranlassung, seine politischen Positionen gründlich zu überdenken. Im Gegenteil.

In einer berühmten Rede im Berner Münster im Sommer 1949, also auf dem Höhepunkt der brutalen Bolschewisierung Ost-Mitteleuropas und des Balkans mit Massenverhaftungen, Vertreibungen, Schauprozessen usw. warnte er eindringlich vor der Gleichsetzung von nationalsozialistischem und kommunistischem Totalitarismus. Er bediente sich dabei der sehr einfachen, für Linksintellektuelle immer wieder sehr überzeugenden Methode des Unterscheidens, des Differenzierens, um zu einem ideologisch einwandfreien Urteil zu gelangen.

Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse sei aus dieser Rede eine längere Passage zitiert: "Es ist am Platz, auch im Blick auf den Kommunismus von heute das Unterscheiden nicht zu unterlassen: das Unterscheiden zwischen seinen totalitären Greueln als solchen und dem, was dabei positiv gemeint und beabsichtigt ist. Und dann kann man vom Kommunismus eben das nicht sagen, was man vom Nationalsozialismus vor zehn Jahren sagen mußte: daß es sich bei dem, was er meint und beabsichtigt, um helle Unvernunft, um eine Ausgeburt des Wahnsinns und Verbrechens handelt. Es entbehrte nun wirklich alles Sinnes, wenn man den Marxismus mit dem Gedankengut des Dritten Reiches, wenn man einen Mann von dem Format Joseph Stalins mit solchen Scharlatanen, wie Hitler, Göring, Heß, Goebbels, Himmler, Ribbentrop, Rosenberg, Streicher usw. es gewesen sind, auch nur einen Augenblick im gleichen Atem nennen wollte.

Was in Sowjetrußland – es sei denn: mit sehr schmutzigen und blutigen Händen, in einer uns mit Recht empörenden Weise – angefaßt worden ist, das ist immerhin eine konstruktive Idee, immerhin die Lösung einer Frage, die auch für uns eine ernsthafte und brennende Frage ist und die wir mit unseren sauberen Händen nun doch noch lange nicht energisch genug angefaßt haben: der sozialen Frage."

Immerhin! Die "blutigen Hände" der Kommunisten wurden von Karl Barth – im Unterschied zu zahlreichen anderen Intellektuellen damals und heute – noch wahrgenommen und auch so benannt und beklagt. Aber es waren eben nicht die blutigen Hände eines Mörders, sondern gewissermaßen die eines Geburtshelfers.

Es bedarf keiner besonderen Begründung, weshalb eine derartige Äußerung eines maßgebenden christlichen Theologen in einer der größten Kirchen Westeuropas inmitten der harten ideologischen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen (z.B. in China) des inzwischen voll entbrannten Kalten Krieges von unschätzbarem Wert waren. Sie entsprachen millimetergenau allen bekannten Grundregeln der Strategie und Taktik der von Stalin beherrschten Komintern bzw. seit 1947 des sogenannten Kominform (des Kommunistischen Informationsbüros), die wir unter dem Begriff "Volksfrontpolitik" zusammenfassen können. Georgi Dimitroff, der langjährige Generalsekretär der Komintern, hat die entscheidende Grundlinie dieser Politik einprägsam wie folgt veranschaulicht: "Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß jemand,der mit uns sympathisiert, im allgemeinen mehr wert ist als ein Dutzend militanter Kommunisten. Ein Universitätsprofessor, der, ohne Parteimitglied zu sein, sich für die Interessen der Sowjetunion einsetzt, ist mehr wert als hundert Leute mit einem Parteibuch. Ein angesehener Schriftsteller oder ein General sind wichtiger als 500 arme Teufel, die nichts weiter können, als sich von der Polizei zusammenschlagen zu lassen."

Vom "Gegenwert" eines berühmten Theologen oder gar Bischofs findet sich weder bei Dimitroff noch an anderer Stelle ein Hinweis. Angesichts der brutalen Kirchen- und Christenverfolgungen in der Sowjetunion und nach 1945 in allen von ihr besetzten Ländern lag ein christlich motiviertes Sympathisantentum für überzeugte Kommunisten außerhalb des politischen und ideologischen Vorstellungsvermögens.

Selbstverständlich war Barth kein Kommunist! Selbstverständlich dachte er nicht daran, die Opfer des Stalinismus irgendwie zu rechtfertigen! Aber ebenso selbstverständlich hat er die kommunistische Deutschlandpolitik seit 1945, und das heißt vor allem: die Politik Stalins, mit massiven theologischen Argumenten flankiert. Sie gipfelten in der Feststellung, daß der Antikommunismus ein größeres Übel als der Kommunismus selber sei, nämlich "ein Indiz auf den Hitler in uns".

Nicht nur dies! Antikommunismus wurde in konsequenter Entfaltung dieser Argumentation in der evangelischen Kirche mehr und mehr als ein Indiz für die mangelnde Bereitschaft zu christlicher Buße, das heißt zu einem radikalen Sinneswandel, angesichts der deutschen Schuld am Aufstieg, an der Herrschaft und an den Verbrechen Hitlers verstanden. Er erhielt damit in der politischen Auseinandersetzung noch eine zusätzliche Gewichtung.

In einem "Wort an die Deutschen" hatte Karl Barth bereits wenige Monate nach Kriegsende als ein deutliches Zeichen der Bereitschaft zur Umkehr den Deutschen angeraten, dem russischen Kommunismus – also dem Stalinismus – "ungehemmt durch überlieferte, ungehemmt auch durch gewisse neu aufgekommene Vorurteile jedenfalls aufgeschlossen und verständniswillig" entgegenzugehen.

Die schweren Verbrechen der Roten Armee beim Einmarsch in Deutschland und in den ersten Jahren der Besatzungszeit: Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen aus den Ostgebieten, Massenvergewaltigungen deutscher Frauen, Morde an ungezählten Zivilisten, Verschleppungen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, Inhaftierungen mißliebiger Intellektueller und bürgerlicher, selbst sozialdemokratischer Politiker sind zwar angedeutet worden ("gewisse neu aufkommende Vorurteile"). Sie sollten aber keine Hemmfaktoren für den bereits damals für notwendig erachteten "Wandel durch Annäherung" sein, wie er dann in den sechziger Jahren zur Leitlinie der deutschen Ostpolitik erklärt worden ist.

Wenn es gar nicht anders ging und geht, werden die Verbrechen bis heute als "Reaktionen" auf die Verbrechen der deutschen Wehrmacht erklärt, womit Stalin und Hitler dann unversehens doch auf eine Ebene gehoben werden, zumindest in der Mißachtung elementarer Grundregeln des Völkerrechts. So herum ist dann die "Aufrechnung der Verbrechen" doch eine zulässige politische Kategorie. Aber ganz abgesehen davon: Mit dieser Argumentation liegt ja immer noch keine Erklärung für die entsprechenden Verbrechen Stalins an den "vom Faschismus befreiten Völkern" Osteuropas und des Balkans vor: an den Polen und den Tschechen, den baltischen und den Balkanvölkern, aber auch dem eigenen Volk, zum Beispiel an den in Kriegsgefangenschaft geratenen Rotarmisten wegen Feigheit vor dem Feind. Dafür aber liegt ein Beweis vor, daß die heutige Legende von der "Entartung des Sozialismus" durch Stalin damals für viele Intellektuelle kein Anlaß gewesen ist, ihre eigene Einstellung zum Stalinismus gründlich zu überdenken oder gar eine Umkehr auf diesem Irrweg in die Zukunft zu vollziehen. Statt dessen haben sie jeden verdächtigt und denunziert, der die heutigen Verurteilungen des Stalinismus bereits damals vornahm.

Dabei ist es bis heute geblieben. Denn mit der Verurteilung Stalins ist ja das entscheidende Problem für die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in Westeuropa nicht gelöst worden.

Zunächst ist daran zu erinnern, daß die Verurteilung Stalins nicht nach der Wende von 1989 und auch nicht von der PDS ausgesprochen wurde, sondern von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956. Die "Bruderparteien" stimmten ihr dann wenige Wochen später zu. Die PDS steht also in dieser Hinsicht in einer festen Traditionslinie und sollte keine originären Entscheidungen suggerieren. Sodann ist zu fragen, wie es um die Beurteilung (von Verurteilung soll gar keine Rede sein) der ideologischen, intellektuellen, künstlerischen und theologischen Schildknappen in Westeuropa steht, die bis zum Vorabend des XX. Parteitages jede Kritik an Stalin und an der Sowjetunion abwehrten, dann aber – buchstäblich über Nacht – reflexartig eine Wende vollzogen!

Über diese erbärmliche Gefolgschaftsleistung braucht kein weiteres Wort verloren zu werden. Jedenfalls hat die Verurteilung des Stalinismus keinen grundsätzlichen Sinneswandel bei den Kommunisten und ihren Sympathisanten bewirkt, wie die Reaktionen auf den Mauerbau in Berlin fünf Jahre später und die offen marxistische Kulturrevolution seit 1969 beweisen.

Insofern sind noch viele Fragen offen und bedürfen der Klärung. Sie ist aber vorerst nicht zu erwarten, weil die politische und intellektuelle Linke aus naheliegenden Gründen um Verklärung bemüht ist – und das mit Erfolg.

Es ist kein Zufall, daß namhafte, vornehmlich christliche Intellektuelle kurz nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus 1989/90 ihrer ungebrochenen Hoffnung auf die Verwirklichung des "wahren" Sozialismus in einem Sammelband unter den charakteristischen Titel "Der Traum aber bleibt" Ausdruck verliehen haben. Sozialismus als Traum! Kein Alptraum mehr, sondern der Wirklichkeit entrückt, ganz dort, wo sich der deutsche Intellektuelle schon immer am wohlsten fühlte: im "Luftreich des Traumes und der Phantasie" (Marx).

Friedrich Nietzsche hatte recht: "Denn so ist der Mensch. Ein Irrtum könnte ihm tausendfach widerlegt werden – gesetzt, er habe ihn nötig, er würde ihn immer wieder für wahr halten". Menschen, die träumen, soll man behutsam ansprechen. Sonst werden sie sehr ärgerlich. Aber ansprechen sollte man sie schon, damit es kein böses Erwachen gibt.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte bis zu seiner Emeritierung Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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