© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   34/01 17. August 2001


Die Logik des Terrors
Nahost: Israels Härte spielt palästinensischen Extremisten in die Hände
Michael Wiesberg

Von dem chinesischen Krieger-Philosophen Sun Tsu stammt die Einsicht, daß „jede Kriegshandlung für den Staat von größter Bedeutung“ sei. Diese sei „der Grund von Leben und Tod, der Pfad, der das Überleben sichert oder in den Untergang führt“. Daher sei es „unumgänglich, sie eingehend zu prüfen“.

Daß im Hinblick auf die Spirale der Gewalt, in die sich Israelis und Palästinenser verstrickt haben, inzwischen durchaus von Kriegshandlungen gesprochen werden kann, hat spätestens die israelische Übernahme palästinensischer Einrichtungen im Osten Jerusalems gezeigt, die einer Kriegserklärung gleichkommt. Denn diese Behörden werden von Palästinensern als Ausdruck des Anspruchs auf Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines unabhängigen Palästinenserstaates verstanden. Die Besetzung des Orienthauses in Ost-Jerusalem kommt darüber hinaus einer weiteren Schwächung der Position Arafats gleich, dem Israel auf seine Weise demonstriert, daß es seiner als Gesprächspartner überdrüssig ist. Arafat wird angelastet, die terroristischen Aktivitäten der Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad bisher nicht unterbunden bzw. deren Rädelsführer nicht festgenommen zu haben. Die Frage, ob Arafat überhaupt noch dazu in der Lage ist, ohne seine eigene Position zu gefährden, interessiert die Israelis offenbar nicht. Israel hat als Antwort auf die angebliche Tatenlosigkeit Arafats die Protagonisten der beiden Terrorgruppen zum Abschuß freigegeben. Augenscheinlich orientieren sich die Israelis bei diesem Vorgehen an einem Strategem, das besagt, wenn es gelingt, die führenden Köpfe einer gegnerischen Organisation auszuschalten, diese danach mit geringer Mühe schachmatt gesetzt werden kann. Diese Hoffnung freilich dürfte sich noch als Irrglauben der Israelis erweisen.

Mit wem, wenn nicht mit Arafat, will Israels Ministerpräsident Scharon eigentlich verhandeln? Die Aktivisten des Islamischen Dschihad oder der Hamas, die vom Iran und anderen islamistischen Regimen unterstützt werden, haben keinerlei Interesse, den Friedensprozeß mit Israel fortzusetzen. Im Gegenteil: In ihren Reihen breitet sich, je massiver der Konflikt wird, um so mehr der Wille zur Zerschlagung des Staates Israels aus. Israels unkluges Vorgehen heizt diesen Willen weiter an.

Das Verhalten der Israelis zeigt, daß sie augenscheinlich nicht eingehend geprüft haben, wohin der Pfad der Vergeltung führt, den sie eingeschlagen haben, um das Palästinenserproblem in den Griff zu bekommen. Dies vielleicht auch deshalb, weil sie den Charakter des Konfliktes bisher nicht angemessen erfaßt haben. Dieser trägt alle Kriterien einer asymmetrischen Kriegführung. Diese kann als Bündel von operativen Maßnahmen beschrieben werden, die von seiten einer weit unterlegenen Partei ergriffen werden, um die Vorteile eines weit überlegenen Gegners zunichte zu machen und dessen Verwundbarkeiten auszunutzen, ohne daß es zu einer Auseinandersetzung zwischen regulären Streitkräften im klassischen Sinne kommt. Der Anreiz, einen asymmetrischen Krieg zu führen, liegt also naturgemäß auf der schwächeren Seite. Asymmetrische Operationen versuchen das vorgegebene Terrain und die militärischen Möglichkeiten in einer Art und Weise zu nutzen, die militärisch eher atypisch ist und von der gegnerischen Militärführung deshalb kaum antizipiert werden kann.

Zwischen terroristischen Aktivitäten und einer asymmetrischen Kriegsführung gibt es also einen inneren Zusammenhang. Machtlosigkeit wie die der Palästinenser gegenüber Israel war und ist in der Geschichte häufig ein Argument gewesen, um Terrorhandlungen zu rechtfertigen. Die konkreten Opfer von entsetzlichen Terrorhandlungen, wie im Falle des Anschlages im Zentrum von Jerusalem am 10. August, bei dem mit dem Selbstmordattentäter 16 Menschen ums Leben kamen, sind aus Sicht einer asymmetrischen Kriegsführung eher sekundär. Die zweckgerichtete Gewalt derartiger Anschläge muß zuvorderst als Bestandteil psychologischer Operationen gedeutet werden, deren eigentliches Ziel die Herstellung von Öffentlichkeit ist. Das zentrale Ziel der Terroristen besteht in der Verbreitung von Furcht. Auch hierzu findet sich bei Sun Tsu Einschlägiges, wenn dieser schreibt: „Ermorde eine Person und versetze damit Millionen in Furcht.“ Diese Maxime hat vor dem Hintergrund internationaler Kommunikationswege mehr denn je Gültigkeit, weil diese den Terroristen die Möglichkeit eröffnen, ihren psychologisch gemeinten Terrorattacken erheblich mehr Nachdruck zu verleihen. Auf diese Weise kann Terrorismus, verstanden als „agitatorischer Terror“, auch als eine sehr effektive Form von Kommunikation gedeutet werden.

Terroristische Anschläge verursachen auf der Seite der Betroffenen ein Gefühl der Unsicherheit und schaffen damit über kurz oder lang eine Veränderung der Verhaltensweisen und der Wertehierarchien beim Gegner bzw. der betroffenen Bevölkerung. Als effektive Manifestation asymmetrischer Kriegsführung kann Terrorismus gegen militärisch weit überlegene Staaten durchaus eine erfolgreiche Waffe sein.

Terrorismus dient darüber hinaus auch als Mittel, die Initiative an sich zu reißen, um den eigenen außenpolitischen Zielen Nachdruck zu verleihen. Terrorismus ist damit, so Politikprofessor Stephen Sloan von der Universität von Oklahoma, ein „asymmetrisches Element einer bewaffneten Diplomatie“.

Mit Blick auf den Nahen Osten kann vor diesem Hintergrund festgehalten werden, daß die terroristischen Handlungen dort noch von eher begrenzter Natur sind. Da Israel aber mit der (ultimativen?) Besetzung des Orienthauses demonstriert hat, daß es vor einer weiteren Eskalation des Konfliktes nicht zurückschreckt, muß damit gerechnet werden, daß die Antwort islamistischer Organisationen in Zukunft noch weit radikaler als bisher ausfallen wird. Der moderne Terrorismus hat heute die Möglichkeit, global aktiv zu werden. Terroristen sind in der Lage, Operationen weit entfernt von ihren Heimatbasen ausführen zu können. Die weitere Zuspitzung der Lage im Nahen Osten könnte dazu führen, daß demnächst auch israelfreundliche Staaten durch einen nicht territorial gebundenen Terrorismus in den Konflikt hineingezogen werden. Dafür steht zum Beispiel der saudiarabische Topterrorist Osama bin Laden, der die Ereignisse in den palästinensischen Autonomiegebieten mit Interesse beobachten dürfte.

Vor diesem Hintergrund zeigt die jüngste Demütigung der Palästinenser durch die Besetzung des Orienthauses durch die Israelis nur eines: eine kaum entschuldbare strategische Kurzsichtigkeit, die für Israel eine existenziell bedrohliche Situation schaffen könnte. Scharon hat sich auf einen Pfad begeben, der die Zukunft Israels eher gefährdet als sichert. Ob und wie dieser Pfad verlassen werden kann, ist derzeit nicht ersichtlich.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen