© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/01 17. August 2001

 
Die Rückkehr des großen Pan
Von Feldrainen und neuen Grenzen - Ein unerwartet aktuelles Buch des Archäologen Hans Walter
Günter Zehm

Der Schrecken, der aus heißer, brütender Stille kommt - das ist das Thema von „Pans Wiederkehr“, einem Buch von Hans Walter, das soeben in zweiter, gründlich überarbeiteter Fassung bei dtv in München erschienen ist. Der Verfasser, Altphilologe und Archäologe, starb kurz vor Vollendung der Arbeit im März 2001. „Pan“ war der große Gegenstand seiner jahrzehntelangen Forschungen gewesen. Jede Tonscherbe mit Pan-Darstellungen hat er hin und her gewendet, jede Grotte des Mittelmeerraums nach Spuren von Pan-Heiligtümern durchsucht. Wenn einer dem Geheimnis jenes merkwürdigen Gottes, erscheinend halb in Ziegen-, halb in Menschengestalt, nahe gekommen ist, dann Hans Walter.

Sein Buch ist selber ein Schrecken: die vielen Fotos von Vasenbildern und Bronzestatuetten, aus denen die Visage des Pan herausgrinst, zynisch scheinbar und doch im Innersten hilflos und unsicher, fröhlich scheinbar und doch von abgründiger Einsamkeit und Unzugänglichkeit, den Betrachter tief verstörend. Nichts bleibt von jenem lustigen Hirtengott à la Theokrit oder Longos, der mit Baum- und Quellnymphen übermütige Spiele treibt oder im lustvollen Gefolge von Dionysos mittanzt. Die Syrinx, die „Panflöte“, tönt hier nicht lieblich und vertrauenweckend, sondern grell und unheimlich.

Sie ist ja auch kein Produkt der Liebe und der Vertraulichkeit, sondern ein Produkt der rohen Gewalt, worauf ihr Name untrüglich hinweist. Es war der Name der Nymphe Syrinx, die vor Pan floh, als er sie vergewaltigen wollte. Sie verirrte sich in die Sümpfe des Flusses Ladon, und als sie merkte, daß Pan sie einholte, flehte sie zu den Göttern, die sie daraufhin in ein Schilfrohr verwandelten. Pan aber riß das Rohr aus, knickte es mehrfach und machte daraus die „Panflöte“ mit den sieben ungleichen Enden. Eine böse Geschichte.

Pan, so zeigt Walter, war für die Griechen der Gott der Wildnis, und zwar einer Wildnis, die sich nicht kultivieren und nicht zivilisieren, sondern nur wegtreiben läßt. Und er war der Gott des Feldrains und der Grenze. „Hier ist das Eure“, markierte er, „und da ist das Meine, und zwischen beiden gibt es keine Gemeinsamkeit, kann es nie eine Gemeinsamkeit geben. Wo ihr seid, da bin ich nicht, und wo ich bin, da gehört keines Menschen Fuß hin. Ich bin das ganz und gar Andere, unintegrierbar und deshalb ein ewiger Schrecken für euch, nichts als ein Schrecken.“

Pan wurde nie in den Olymp aufgenommen, wo die normsetzenden Götter wohnten und den Menschen Gesetz und Moral vorschrieben. Und Pan war auch kein „Naturgott“, der für Fruchtbarkeit und Lebensfülle stand, keine Demeter und keine Persephone, keine Aphrodite und kein Dionysos. Pan „hat nichts vor“, ihn kümmert nicht einmal der Unterschied zwischen Leben und Tod. Er kann weder sich noch andere verwandeln. Sein einziger wirklicher „Freund“ ist der Hirtenjunge Daphnis, der zur Liebe unfähig ist und deshalb von Aphrodite dazu verurteilt wird, blind dem Ideal des völlig Anderen, des Unerreichbaren und Unhabbaren nachzustreben.

Pans Stunde ist der hohe Mittag im heißesten Sommer, die Stunde der kurzen Schatten, da alle Kreatur schwer atmend darniederliegt und nicht einmal die Grillen mehr zirpen wollen, da sich die Stille völliger Ermattung ausbreitet und nur noch der Brandgeruch von Piniennadeln die Sinne erreicht. Da plötzlich grinst Pan über den Hügelrand und pfeift auf der Syrinx, so daß Schafe und Ziegen in wilder „panischer Angst“ davonstieben und die dösenden Hirten im Schweiße ihres Angesichts erwachen. Der Schrecken ist total, man kann nichts gegen ihn organisieren noch aktivieren. Arnold Böcklin hat es gemalt.

Schon im römischen Altertum freilich glaubte man, mit Pan endgültig fertiggeworden zu sein, seine Wildnis bis an die äußersten Grenzen der bewohnten Erde hinausgetrieben zu haben. Es war zur Zeit des Kaisers Tiberius (14-37 n. Chr.), da ertönte auf einmal der Ruf: „Pan ist tot! Der große Pan ist tot!“ Griechische Seefahrer auf dem Weg nach Sizilien hatten ihn als erste vernommen, auf der Höhe der Inseln Paxos und Propaxos, niemand wußte, woher er kam, und die Matrosen brachten die Botschaft in die bewohnten Landschaften und in die Städte. Aber merkwürdig: Der Ruf „Der große Pan ist tot!“ fand nirgendwo erleichterten oder gar triumphierenden Widerhall, es war vielmehr wie ein Seufzen, das sich von Küste zu Küste fortpflanzte, voller Betroffenheit, tief beklommen.

Wenn Hans Walter in seinem Buch von der „Wiederkehr Pans“ spricht, so meint er das bitter-sarkastisch. Die Moderne produziert Wildnis, auf der nur Pan gedeihen kann, Müllhalden, Wüsten, Karste und Abgründe. Zunächst wird der Ackerrain ausgedehnt, das Land wird „urbar“ gemacht und zu aller möglichen Verwertung freigegeben. Was aber nach der Verwertung bleibt, ist oftmals nicht mehr „recyclebar“, das heißt die Fruchtbarkeits- und Schönheitsgötter, Demeter, Aphrodite, können dort nicht mehr wohnen, nicht einmal mehr der orgiastische Dionysos mit seiner ewigen Love Parade. Die Grenze zur Wildnis ist gleichsam von innen her dramatisch verschoben und zurückgenommen, der große Pan gewinnt wieder Raum.

Es gibt sogar ein hochaktuelles, hochironisches Beispiel dafür, nämlich die Ebene von Marathon, wo einst, im Jahre 490 v. Chr., die Griechen die Perser besiegten. Sie besiegten sie damals - mit Hilfe Pans! Einmal, ein einziges Mal, hat sich der Gott auf echte Kommunikation mit den Menschen, genauer: mit den Athenern, eingelassen, bot ihnen seine spezifische Hilfe gegen die mehr als doppelt so starken Feinde an. Die Athener gingen darauf ein, und Pan zeigte den Persern sein Ziegenantlitz, ließ die Syrinx kreischen, so daß die Asiaten in totalen Schrecken, in „Panik“, versetzt wurden und wie aufgescheuchte Ziegenherden davonstoben.

Die Athener zeigten sich dankbar, errichteten dem Pan auf der Akropolis ein Heiligtum - und ließen die Ebene von Marathon peu à peu verkommen, verwandelten sie im Laufe der Zeiten, wie jeder heutige Tourist sehen kann, in eine trostlose, schrotthaltige Industriebrache, eine panische Wildnis.

Zur nächsten Olympiade sollen dort irgendwelche Wettbewerbe stattfinden, das Gelände soll „rekultiviert“ werden, was bereits zahlreiche Naturschützer auf die Palme gebracht hat. Brave Naturschützer! Sie schützen in Marathon zwar nichts weiter als eine Müllhalde, aber das ist genau das, was Pan in unserer Zeit braucht, um zurückkehren zu können.


 
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