© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/01 17. August 2001

 
Wenn die Lage aussichtslos wird
Selbstmord ist keine Sache der Theologie, sondern der Medizin
Angelika Willig

Was fällt einem zu dem Wort Selbstmord ein? „Die Leiden des jungen Werther“ fällt dem Gebildeten ein, dem Bild-Zeitungs-Gebildeten fällt die Putzfrau ein, die ihre Kinder vergiftet und sich selbst aus dem Fenster stürzt, weil sie die Raten für die Einbauküche nicht mehr zahlen kann. Warum hat sich eigentlich Werther umgebracht? Geld hatte er auch keins und den für junge Leute typischen Liebeskummer. Aus Liebeskummer haben sich auch schon Sechzehnjährige umgebracht. Man denke an Romeo und Julia. Und dann fällt einem der eigenartige Standpunkt der Kirche ein, daß Selbstmord eine furchtbare Sünde sein soll. Wird zwar heute wie andere Ausschweifungen geduldet und buchstäblich mit dem Sünder begraben, aber irgendwie ein schlechtes Gewissen haftet dem von Atheisten sogenannten Freitod immer noch an. Wer darüber redet oder gar Ankündigungen macht, zwingt die Mitmenschen zu Gegenmaßnahmen und macht sich schon dadurch zum Störenfried.

Was kaum einem einfällt, ist der Arzt. Was soll der machen? Höchstens die Spritze geben, weil Selbstmörder zum Sterben meist viel zu gesund sind und aus allen möglichen Selbstbehandlungen quicklebendig wieder hervorgehen.

Bücher, in denen Selbstmord vorkommt, sind Legion. Albert Camus behauptet, der Selbstmord sei das zentrale philosophische Problem. Viele finden auch, daß Sokrates sich durch den Schierlingsbecher erst richtig qualifizierte. Und unverzichtbar ist diese Option für den russischen Helden, der sich am liebsten mit irgend etwas in die Luft sprengt. Es gibt aber auch Bücher, die ausdrücklich und ausschließlich vom Selbstmord handeln. Und diese Bücher sind ausgerechnet von Ärzten geschrieben. Normalerweise kommt man an deren Fachliteratur gar nicht heran, doch Kay Jamison von der Johns Hopkins University in Baltimore legt ein 400-seitiges Werk vor, das durchaus für interessierte Laien gedacht und entsprechend verständlich geschrieben ist. Hier erfährt man einmal, was die Psychiater (Seelenärzte) vom Selbstmord für Auffassungen haben und mit welchen Auffassungen man es zu tun bekommt, wenn etwa ein Selbstmordversuch nicht klappt und man statt wie erhofft in der Hölle in einer psychiatrischen Klinik aufwacht.

Sie stehen also auf, machen Ihr Bett, kämmen sich die Haare und sind bereit, den ganzen russischen Roman zu erzählen: Sie sind ein Versager, haben durch exzessives Bonbonlutschen ihre Zähne ruiniert, Sie trauen sich nicht mehr zu Aldi, weil Sie da mal einen Handtuchhalter geklaut haben, und seit kurzem zweifeln Sie auch am Grundgesetz. Die Ärzte sehen sich vielsagend an. Das ist alles, was Sie zu Ihren Problemen je zu hören bekommen. Statt dessen regnet es Fragen: Welchen Tag haben wir heute? In welcher Stadt leben Sie? Wo geht die Sonne unter? Wieder nicken die Ärzte: der Patient ist „orientiert“. Haben Sie Herzklopfen? Haben Sie Durchfall? Wie viele Stunden haben Sie in den letzten Tagen geschlafen? Seit wann beschäftigt Sie dieser Diebstahl? Nicht wahr, Sie halten Ihre Lage für aussichtslos? - Sie müssen bejahen und merken doch, daß Sie die Antwort noch mehr hineinreißt. Eins fix drei haben die Damen und Herren Psychiater aus Ihren existentiellen Nöten das gemacht, was sich ärztlich behandeln läßt, nämlich eine Krankheit mit bestimmten Symptomen. Und mit einem tödlichen Ausgang, wenn die Behandlung unterbleibt. Der beste Beweis ist Ihr Selbstmordversuch. Es ist also besser, wenn Sie die nächsten sechs, acht Wochen drinnen bleiben und brav Ihre Tabletten schlucken. Psychiater sind gnadenlose Naturwissenschaftler und ignorieren jede philosophische Bedeutung von Melancholie. Nix Dürer, nix Dostojewski, nur Depression. Und es ist ja wirklich komisch, wie tieftragische Gestalten früher oder später doch wieder ihren Spaß an Harald Schmidt haben, Eis kaufen und das sogar bei Aldi.

Es gibt gar nicht so wenige Psychiater, die das pharmazeutische Wunder sogar an sich selbst erlebt haben. Auch unsere Autorin gesteht einen Selbstmordversuch in jungen Jahren ein. Sie ist manisch-depressiv, ein Leiden, bei dem die Niedergedrücktheit mit extremen Hochgefühlen abwechselt. Das „manisch-depressive Irresein“ läßt sich (bisher) nicht heilen, sondern nur durch Medikamente unterdrücken. Kein Wunder, wenn Professor Jamison auf die Psychopharmaka schwört: Wenn es die nicht gäbe, dann säße sie nicht auf ihrem Lehrstuhl, sondern in einem Heim, wo bestenfalls Körbe geflochten werden.

Was sie aber noch mehr fürchtet als die Krankheit, ist die soziale Stigmatisierung. Die psychologische Deutung, wonach der Wunsch nach dem Sterben einen bestimmten persönlichen Grund hat, ist für den Betroffenen nicht unbedingt von Vorteil. Es bürdet ihm die ganze Verantwortung für das gescheiterte Leben auf. Der edle Weltschmerz ist für die meisten schlicht mangelnde Vitalität. Die zartfühlende Seele heißt hier Schwächling und Versager, und wer sich umbringt, für den war es dann wohl „das Beste“. Dagegen hat die psychiatrische Variante von der Krankheit, die jeder bekommen kann und die mit dem Leben und Denken des Patienten so wenig zu tun hat wie ein fauler Zahn, einen großen gesellschaftlichen Vorteil. Keiner braucht an seiner eigenen Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit zu zweifeln. Keiner braucht sich Gedanken zu machen, ob vielleicht der eingeschlagene Lebensweg falsch war. Allen mißtrauischen Nachfragen kann man mit der neu erworbenen Gewißheit begegnen, daß alles „organisch“ und daher „behandelbar“ sei.

Und es stimmt, daß der überwiegende Teil der Selbstmorde und Selbstmordversuche auf Depressionen zurückzuführen ist. Es stimmt, daß die Selbstmordziffer seit etwa zwanzig Jahren - trotz Atheismus und Anonymität - deutlich sinkt. Ohne Zweifel eine Folge der Medikamente. Es stimmt auch, daß die Medikamente den größten Teil der Todtraurigen wieder in ein normales Leben zurückholen. Man glaubt sogar zu wissen, daß es sich um nichts anderes als eine Verringerung des Serotoninspiegels handelt, wobei Serotonin ein Neurotransmitter-Stoff ist, der die Impulse von einer Nervenzelle zur anderen leitet. Doch wieso es zu dieser Verringerung kommt, weiß bisher keiner. Man nimmt an, daß auch sie der Erbinformation unterliegt, und in der Tat gibt es ganze „Selbstmörder-Familien“. Doch ausgelöst wird die Störung mit Sicherheit durch äußere Erfahrungen. Man kann sie zu vermeiden suchen - sicherer bleibt allemal die Prophylaxe mit Lithium.

Diese Auffassung zu verbreiten, ist das große Anliegen von Jamison. Von ihren Kollegen unterscheidet sie sich dadurch, daß nicht Spiegelmessungen und Differentialdiagnosen im Vordergrund stehen, sondern menschliche Dramen. Psychologisierende Darstellungen und literarische Bezüge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die „biologische“ Perspektive stets erhalten bleibt. Ein Fall hat es der Autorin besonders angetan. Drew Sopirak besteht seine Abschlußprüfung an der Air Force Academy und landet noch am selben Abend in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses. Viele qualvolle Monate später erschießt sich der 23jährige nahe beim Haus seiner Eltern. Um Drew zu charakterisieren, benutzt Jamison Formulierungen wie „einer der besten der Flugschule“, „meistgeachteter Abschlußschüler“, „Anführer“, „gute Freunde und eine liebevolle Familie“, „beliebt“, „Siegertyp“. Also kein Melancholiker, kein Schwächling, kein Außenseiter, kein Selbstmörder. Wenn er sich trotzdem umbringt, dann hat ihm sozusagen die Krankheit die Hand geführt. „Selbstmord ist kein Schandfleck auf irgend jemandes Namen“, heißt es. Nicht auf dem Namen des hoffnungsvollen Fliegers und nicht auf dem Namen der erfolgreichen Wissenschaftlerin. Auch Angehörige und Freunde sollen sich entlastet fühlen und sich nicht mit der Suche nach Gründen quälen. Es gibt hier kein ungelöstes Problem und kein persönliches Versagen. Es ist einfach dunkel geworden - wie wenn einer den Schalter ausknipst.

 

Kay Redfield Jamison: Wenn es dunkel wird. Zum Verständnis des Selbstmordes. Siedler Verlag, Berlin 2000, 414 Seiten, geb., 49,90 Mark


 
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