© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   35/01 24. August 2001


Sie gehören zur Familie
Aussiedler müssen für Deutschlands Neurosen büßen
Michael Paulwitz

Dort waren sie die „Fritzen“ und die „Hitleristen“, hier sind sie die „Russen“ - Deutschlands verlorene Söhne kehren heim aus den Weiten des untergegangenen Sowjetreichs, aber willkommen sind sie nicht. Wie Siegesmeldungen verkünden die turnusmäßig veröffentlichten Statistiken der Innenminister, wenn die Zahl der jährlich oder monatlich ins Land gelassenen Aussiedler wieder einmal gesunken ist. Die Verwandten aus dem Osten sind den etablierten Berliner Parteien offenbar nur noch lästig.

Das zeigt sich schon in der Kategorisierung: Über die Aufnahme Rußlanddeutscher oder Volksdeutscher aus anderen Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas diskutiert die deutsche Politik nur noch im Rahmen der Zuwanderungsdebatte. Da gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den Zuwanderungskonzepten von Rita Süssmuth oder Otto Schily, Guido Westerwelle oder Peter Müller. Nuanciert allenfalls durch mehr oder minder aufrichtige Bekenntnisse zur unbequemen Rechtslage, steht bei all diesen Konzepten die Zuzugsbegrenzung im Mittelpunkt. Sind Aussiedler also nur ein leidiges Unterproblem der Zuwanderungsfrage?

Tatsache ist: Laut Grundgesetz sind Aussiedler keine Ausländer. Sie sind Deutsche im Sinne von Artikel 116 und haben als „Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit“ Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Das Thema hat in der Zuwanderungsdebatte also nichts verloren. Daß es dennoch dorthin verschoben wird, geschieht fraglos nicht ohne Wissen und Absicht.

Was die regierende Linke bezweckt, liegt auf der Hand: Der Angriff auf den Status der Aussiedler als Deutsche ist ein Angriff auf das abstammungsbezogene Konzept des Staatsvolks, auf dem das Grundgesetz beruht. Die politische und gesellschaftliche Marginalisierung der Aussiedler im deutschen Gemeinwesen ist in diesem Sinne die konsequente Fortsetzung des Unternehmens „Doppelpaß“: Das ius sanguinis, das Blut- oder Abstammungsrecht auf Teilhabe an der deutschen Nation, soll dem ius soli weichen, dem Bodenrecht: Wer gerade da ist, gehört dazu. Zwischen denen, die reinwollen, wird dann auch kein Unterschied mehr gemacht. Die schleichende Aushöhlung des Volksbegriffs der Verfassung durch die falsche Einordnung der volksdeutschen Aussiedler bringt uns somit dem Traum von der multikulturellen Gesellschaft ein wenig näher.

Dagegen erhebt sich kein prinzipieller Widerstand. Zwar hat man in Unionskreisen bereits bemerkt, daß es sich bei den Rußlanddeutschen inzwischen um ein millionenstarkes Wählerpotential handelt, das entsprechend umworben werden muß. Folglich tadelt man den Bundesinnenminister für die Fortführung einer Praxis, die man zu eigenen Regierungszeiten selbst eingeführt hat: das beständige Höherlegen der Hürden für einreisewillige Volksdeutsche. Schnell vergißt sich da, daß die Quotierungen für den Aussiedlerzuzug ebenso eine Erfindung der Regierung Kohl sind wie der Muttersprachlichkeitsnachweis durch Tests in den Ausreiseländern - letzteres ein ohnehin fraglicher Abstammungsbeleg angesichts der jahrzehntelangen sprachlichen Diskriminierung, mit der Deutsche in der Sowjetunion ihrer Mutterzunge beraubt wurden. Die Union übt sich, wie sonst auch, in Parteitaktik, aber sie bezieht - von Einzelstimmen abgesehen - keine grundsätzliche Gegenposition zu Rot-Grün. Das Abstammungsrecht war gerade noch gut, um für Roland Koch eine Wahl zu gewinnen; innerlich hat sich die Union davon längst verabschiedet. Das Denken ist quer durch die Etablierten dasselbe: Im Rausch des wirtschaftshörigen Nützlichkeitswahns kennen unsere Parteien keine Deutschen mehr, sondern nur noch Zuwanderer von unterschiedlich großem Segen oder Schaden. Bloß sagt es nicht jeder so unverblümt wie Oskar Lafontaine, dem bekanntlich ein verfolgter Afrikaner lieber war als ein bedrängter Rußlanddeutscher.

Dabei spricht selbst rein „ökonomistisch“ gedacht viel für die Aussiedler als „Zuwanderer“: Eine junge Bevölkerungsgruppe, zum eigenen Kulturkreis gehörig, von überdurchschnittlicher Leistungs- und Arbeitsbereitschaft - nicht nur als Angehörige des eigenen Volkes, sondern auch als dringend benötigte Verstärkung für unsere angeschlagenen sozialen Sicherungssysteme sollten sie eigentlich hochwillkommen sein. Woher also das schlechte Image, das den Normalbürger beim Stichwort „Rußlanddeutsche“ zuerst an Kriminalität, Jugendgangs und Alkoholismus denken läßt?

Einiges ist selbstverschuldet. Public Relations werden bei den Landsmannschaften und Organisationen mit ihren oft verkrusteten Funktionärsstrukturen kleingeschrieben. Man befaßt sich lieber mit sich selbst, mit den eigenen Sorgen, Nöten und Intrigen, als den ständigen Negativmeldungen in der Presse positive Botschaften entgegenzusetzen. Zutreffend ist auch, daß viele, vor allem jugendliche Aussiedler keinen Sinn darin sehen, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die ihnen konturlos und unsolidarisch erscheint.

Schwerer aber noch wiegt, daß die Rußlanddeutschen trotz ihres beträchtlichen Anteils an der deutschen Bevölkerung keine eigene politische Lobby besitzen. Mit der Zuneigung von Teilen der Unionsparteien ergeht es ihnen wie allen Heimatvertriebenen: Markige Worte und hehre Bekenntnisse in der Opposition, lauer Trost und ausbleibende Taten in der Regierung.

Als Resultat sind die volksdeutschen Aussiedler die Sündenböcke der Nation für ihre gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Erst wirft man sie, im Widerspruch zu Buchstaben und Geist der Verfassung, in einen Topf mit Zuwanderern aus aller Herren Länder, dann meint man an ihnen nachholen zu müssen, was man bei jenen versäumt hat. Weder dem Wirtschaftsflüchtling noch der nachgeholten anatolischen Großfamilie wird vor der Einreise ein Sprachtest abverlangt. Gebietet der Populismus Zuzugsbeschränkungen, verheißt die Einigung auf die Rußlanddeutschen als Betroffene den geringsten Widerstand.

Und nicht zuletzt ist es das schlechte Gewissen der Republik, das die deutsche Politik dazu veranlaßt, den rußlanddeutschen Landsleuten schrittweise die Solidarität aufzukündigen. Die Heimkehrer, die nach fast 250 Jahren und einem Kreuzweg von Verfolgung und Deportation, GULag und Verbannung als Deutsche an unsere Tür klopfen, erinnern auf unbehagliche Weise an die Verantwortung der Nation für die Opfer aus ihren eigenen Reihen. So vorhersehbar die pathetischen Bekundungen zum 60. Jahrestag des Rußlandfeldzugs am 22. Juni waren, so gewiß wird ein vergleichbares Gedenken in Politik und Medien am 28. August, dem Jahrestag des Deportationsedikts gegen die Wolgadeutschen, ausbleiben.


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