© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
Hoffnung und Verfolgung
Die Geschichte der Rußlanddeutschen zwischen Katharina der Großen und Josef Stalin
Paul Amann

Unter Rußlanddeutschen versteht man heute die Nachkommen deutschsprachiger Bauern, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts auf Einladung der Kaiserin Katharina II. und ihrer Nachfolger nach Rußland kamen. Sie sollten die dünn besiedelten Gebiete Rußlands erschließen, die im Süden durch die Türkenkrige gewonnen wurden. Dafür erhielten sie seit 1763 die Versprechungen zahlreicher Privilegien - religiöse Freiheit, Befreiung vom Militärdienst, finanzielle Unterstützung, befristete Befreiung von Abgaben, Selbstverwaltung in den „Colonien“. Es kamen anfangs etwa 23.000 bis 29.000 Siedler, zum größten Teil aus Hessen, Nordbayern, Baden, Schwaben und der Pfalz.

Grundlage dieser Politik stellte die in ganz Europa angewandte Populationstheorie dar. Ebenso wie in Preußen, Österreich-Ungarn und den britischen Kolonien Nordamerikas benötigte man demnach zusätzliche Arbeitskräfte, um einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen. Da Rußland jedoch wenig Ressourcen an Menschen ausschöpfen konnte - die Bauern waren durch Leibeigenschaft an die Grundherren gebunden -, fand Katharina diese Reserve an persönlich freien Siedlern in den süd- und mitteldeutschen Fürstentümern. Die religiöse Freiheit und die Befreiung vom Militärdienst war für viele von ihnen besonders wichtig, die sie doch in Deutschland oftmals heftigen religiösen Verfolgungen ausgesetzt und zum Dienst an der Waffe gezwungen waren, den einige religiöse Gruppen aus Glaubensgründen ablehnten. Unter den Kolonisten gab es Lutheraner, Reformierte, Katholiken, Mennoniten, diverse chiliastische und pietistische Sekten. An der Wolga, in der Ukraine am Schwarzen Meer und in Bessarabien, auf der Krim, um die Hauptstadt St. Petersburg und im Kaukasus entstanden mehrere deutsche Kolonistensiedlungen.

Die erste Überraschung wartete auf die Angeworbenen in der Steppe: die versprochenen infrastrukturellen Einrichtungen gab es nicht, die finanziellen Beihilfen fielen ebenfalls mager aus. Viele Neuankömmlinge haben den ersten Winter nicht überlebt. Da aufgrund dieser Tatsache die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinter den Erwartungen der Zaren zurückblieb, förderte man die Kolonien weiter, indem man 1803 die „Instruktion für die innere Ordnung und Verwaltung“ für die Kolonien erließ und sie damit praktisch unter Selbstverwaltung stellte. Spätestens unter dem Enkel Katharinas, Alexander I., fing das Russische Reich an, die Privilegien der Siedler zurückzunehmen. Die Wehrpflicht wurde auch für Deutsche eingeführt, die Nachkommen der Siedler wurden nun zu „russischen Untertanen“ erklärt. Die Selbstverwaltung wurde eingeschränkt. 1891 wurde Russisch als Unterrichtssprache an deutschen Schulen in Rußland eingeführt. Diese Entwicklung setzte sich fort und hatte ihren hauptsächlichen Grund in dem Argwohn, mit dem das Russische Reich das inzwischen vereinigte und immer stärker werdende Deutschland beäugte.

Ungeachtet aller Schwierigkeiten haben die Siedler aus der jungfräulichen Steppe landwirtschaftliche Spitzenproduktionsgebiete gemacht und auch durch eine ausgesprochene Natalität für immer neue Tochterkolonien gesorgt. So entwickelten sich die Schwarzmeerkolonien zur Kornkammer Rußlands - teils aufgrund ihrer moderneren Anbautechniken, teils dank ihrer ihnen von den Russen zugeschriebenen „typisch deutschen“ Eigenschaften wie Fleiß, Sauberkeit und Ordnung. Die höhere Effizienz der Kolonien verbunden mit den (zumindest anfänglich) niedrigeren Abgaben führte zu einem relativ hohen Wohlstand der deutschen Bauern. Dieser erzeugte Neid unter ihren nichtdeutschen, speziell unter den von dem erstärkenden Nationalismus erfaßten russischen Nachbarn. Noch vor 1914 kam es zu ersten antideutschen Pogromen. Mit dem Ausbruch des Weltkrieges begannen auch die ersten Verfolgungen staatlicherseits. Der Grundbesitz wurde teilweise beschlagnahmt. Rußlanddeutsche aus den Grenzgebieten wurden ins Landesinnere deportiert. Allein in Wolhynien wurden so etwa 200.000 Kolonisten in den Ruin getrieben. Deutsche Ortsnamen wurden landesweit durch russische ersetzt.

Die rußlanddeutsche Elite zog ihre Lehren aus diesen Verfolgungen. Als das Zarenreich im Frühjahr 1917 der liberal-bürgerlichen Interimsregierung wich, bildeten sich spontan Interessenvertretungen der Deutschen in ihren wichtigsten Siedlungsgebieten, wie im Wolga-Gebiet, am Schwarzen Meer oder im Kaukasus. Diese Organisationen hatten allerdings kaum Kontakt zueinander und wenig Zeit, bis das Land in den Revolutionswirren versank.

Die Bolschewiken verfolgten am Anfang den Kurs einer gewissen Minderheitenfreundlichkeit. Im Oktober 1918 wurde per Leninschen Dekretes die „Autonome Kommune der Wolgadeutschen“ geschaffen, die 1924 in eine „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ (ASSR) umgewandelt wurde. Ein Grund für diese „Sonderstellung“ der Wolgadeutschen vor anderen deutsch besiedelten Gebieten war auch die Tatsache, daß diese Region die meiste Zeit des Bürgerkrieges in der Gewalt der Roten Armee war. Die Schwarzmeer- oder Kaukasuskolonien oder die deutschen Siedlungsgebiete in der Ukraine waren dagegen die längste Zeit in der Hand der Weißen oder der ausländischen Interventionsarmeen.

Die zwanziger Jahre waren für die in der Sowjetunion Verbliebenen außerordentlich schwer, und das betraf alle mit Ausnahme der Bessarabiendeutschen, deren Gebiete zum großen Teil Rumänien angegliedert wurden. Die Zwangskollektivierung und die Verfolgung „antisowjetischer Elemente“ traf die Rußlanddeutschen hart. Gerade die typische bäuerliche Struktur in den deutschen Gebieten geriet wegen des „Kulakenunwesens“ in die Schußlinie der KP. Viele wurden ebenso wie bekennende Christen erschossen oder in Lager deportiert. Allein in der Ukraine wurden im Zeitraum von 1937 bis 1938 über 122.000 Deutsche zum Tode und 65.000 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Damit wurden die Rußlanddeutschen schon vor ihrer Vertreibung in hohem Maße geschwächt.

 

Fototext: Katharinenstadt im Wolgagebiet: Das spätere Marxstadt galt mit seinen 12.000 Einwohnern als einer der Hauptorte der Rußlanddeutschen. Wahrzeichen war die lutherische Kirche.


 
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