© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Der Staat besorgt den Stoff
Modellprojekt: Heroinsüchtige sollen demnächst mit Heroin versorgt werden / Bundesregierung finanziert Studie ab Februar 2002
Helena Schäfer

Noch nie war der Lebensstandard in der westlichen Welt so hoch wie in den letzten zwanzig, dreißig Jahren. Niemals zuvor vermochte das Leben dem Durchschnittsbürger so viel Wohlstand - ja sogar Überfluß - zu bieten. Jetzt - so sollte man meinen - müßte eigentlich die glücklichste, zufriedenste Generation aller Zeiten leben. Dem ist aber nicht so. Konsumdiktat, Berufsstreß und Zeitmangel haben zu einer Entfremdung der menschlichen Beziehungen geführt. Ängste, Depressionen, Gefühle der Sinnlosigkeit, Einsamkeit und Isolation sind ebenso im Steigen begriffen wie der Alkohol-, Drogen-, und Psychopharmakakonsum. Ist die rapide Zunahme der Süchte in unserer Zeit das Spiegelbild einer immer sterileren, immer gefühlskälteren Gesellschaft?

Wo alles im Überfluß vorhanden ist, wo der Wunschentstehung die unmittelbare Wunscherfüllung folgt, besteht für das menschliche Wesen keine Veranlassung zur Entfaltung von Phantasien, Denkleistungen oder Aktivitäten. Im Gegenteil fördern solche Bedingungen die Passivität, hemmen die Kreativität und erzeugen eine bleibende Abhängigkeit von der wunscherfüllenden Umwelt. So müssen die Reize immer intensiver, die Tabugrenzen immer weiter überschritten werden: Extremsport, Extremsex, Extremunterhaltung und natürlich auch Drogen werden - als Folge der Überbersättigung - immer beliebter. Durch den Erfindungsgeist des Menschen, gepaart mit der unserer Kultur zugrunde liegenden Wirtschaftswachs-tumsideologie, mangelt es nicht an immer neueren Angeboten.

Auf der Suche nach Abenteuern und neuen Extremen entdeckte die Jugend in den späten sechziger Jahren die bewußtseinsverändernden Qualitäten verschiedener, bis dahin nicht sehr verbreiteter Rauschmittel wie Marihuana, LSD, Kokain und die bei weitem gefährlichsten Opiate. Ausgehend von den Vereinigten Staaten wurde die westliche Welt von der ersten großen Drogenwelle überrollt. Viele, die damals mit Hilfe von Drogen den Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft suchten, traten diese Reise ohne Rückfahrkarte an und wurden süchtig. Jetzt, wo die Blumenkinder längst verblüht sind und es nicht mehr um „ideologische Bewußtseinserweiterung“, sondern nur noch um die Flucht aus der Realität in die Betäubung geht, haben sich auch die Drogen verändert. Halbsynthetische Stoffe wie Heroin statt Opium und synthetischer Koks statt Kokain avancierten, der intensiveren Wirkung wegen, zu absoluten „Bestsellern“ in der Szene und sprengten alle bisherigen Umsatzrekorde. So wurde in der Phase des gesellschaftlichen Umbruchs auch der Grundstein für eine Problematik gelegt, die weltweit bis zum heutigen Tag nicht bewältigt werden konnte. Denn bisher ist es in keinem einzigen Land der Welt gelungen, die Zahl der Drogensüchtigen zu senken. Weder eine rigorose Verbotspolitik noch der Ausbau entsprechender Therapieeinrichtungen brachten im Kampf gegen Alkohol und Drogen den gewünschten Erfolg. Trotz intensivster Kampfmaßnahmen, Behandlung, Aufklärung und Antipropaganda wurden die Einsteiger immer jünger, die Drogen immer härter und die Beschaffungsdelikte immer brutaler.

Ein weiterer Versuch die Drogenproblematik in Deutschland in den Griff zu bekommen, ist das von der Bundesregierung geplante Modellprojekt „Heroingestützte Behandlung Opiatabhängiger“, das im Februar 2002 starten soll. Da Heroin kein arzneimittelrechtlich anerkanntes Medikament ist, wird das umstrittene Projekt als Arzneimittelstudie laufen. Schwerstabhängige in Hamburg, Hannover, Köln, Frankfurt, Karlsruhe, München und Bonn, sollen erstmals kontrolliert Heroin erhalten und dabei ärztlich betreut werden. Auf diese Weise hofft man die Beschaffungskriminalität und die Zahl der Toten zu verringern.

Ab Herbst 2001 werden die Teilnehmer ausgewählt, die mindestens 23 Jahre alt und seit fünf Jahren abhängig sein müssen. Federführend bei der Planung ist das Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung an der Universität Hamburg (ZIS).

Eine Hälfte der voraussichtlich 1.120 Patienten wird dabei versuchsweise mit injizierbarem Heroin behandelt, die andere Hälfte bekommt das Heroin-Ersatzmittel Methadon. Darüber hinaus werden die Teilnehmer unterteilt in solche, die individuell und intensiv betreut werden, und solche, die selber örtliche Drogenberatungen und gruppentherapeutische Sitzungen besuchen sollen.

Der Modellversuch ist für drei Jahre geplant. Die Kosten in Millionenhöhe werden vom Bundesministerium für Gesundheit, den Ländern Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen sowie den beteiligten Kommunen getragen. Die Bundesärztekammer und ein internationaler wissenschaftlicher Beirat werden das Projekt begleiten.

Sollte sich zeigen, daß Heroin für bestimmte Patienten eine wirkungsvolle Behandlungsoption auf dem Weg zur Heilung und damit zur Abstinenz ist, würde dafür nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums voraussichtlich eine Zulassung als Fertigarzneimittel beantragt werden. Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen müßte dann gegebenenfalls entscheiden, ob das Medikament in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden kann.

Kritiker des Modellversuchs meinen, die Heroinabgabe an Süchtige begünstige das „Verharren in der Sucht“. So begründete auch die Stadt Düsseldorf ihre Ablehnung des Projekts.

In der Schweiz wird die kontrollierte Heroinabgabe schon seit einigen Jahren geprobt - nach Ansicht eidgenössischer Suchtforscher mit Erfolg. Untersuchungen des Züricher Instituts für Suchtforschung zeigen, daß etwa 10 Prozent der Patienten, die Heroin als Medikament erhielten, sich für die Abstinenz entschieden, 16 Prozent stiegen auf die Methadonsubstitution um. Die Abhängigen litten auch weniger an Unterernährung und Vergiftungen und steckten sich erheblich weniger mit dem Aidserreger HIV an. Allerdings geht aus den Untersuchungen nicht hervor, ob die positiven Effekte tatsächlich auf das Heroin oder doch eher auf die sehr aufwendige Betreuung der Süchtigen zurückzuführen sind.


 
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