© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001

 
Der Lotse geht von Bord
Estland: Die Wahl des Nachfolgers von Staatspräsident Meri offenbart die Risse in der Gesellschaft
Carl Gustaf Ströhm

Wie stabil ist der „europäische Musterknabe“ Estland, das als aussichtsreichster und meistgelobter Kandidat für die Aufnahme in die EU gilt? Das estnische Parlament, die Staatsversammlung „Riigikogu“, konnte sich dieser Tage in drei Wahlgängen nicht über den künftigen Staatspräsidenten einigen, da der bisherige Präsident Lennart Meri - seit 1992 Staatsoberhaupt - nach zwei Amtsperioden nicht mehr kandidieren darf.

Zur Wahl standen sieben Kandidaten, von denen aber nur zweien Chancen auf Erfolg zugesprochen wurden: Dem Rektor der Universität Dorpat (Tartu), Peeter Tulviste, als Kandidaten der konservativen Isamaa (Vaterlandspartei) und dem Parlamentspräsidenten Toomas Savi von der liberalen Reformpartei (die im Volksmund auch als „Partei der Wohlhabenden“ bezeichnet wird). Da beide in keinem der Wahlgänge die erforderliche Mehrheit erhielten, wird nun am 21. September ein Gremium von 366 Wahlmännern - Parlamentariern plus Vertretern der Gemeinden - über den künftigen Präsidenten entscheiden.

In dieser Situation könnte es sogar zu Überraschungen kommen. Da ist einmal Arnold Rüütel, bis 1991 Vorsitzender des Obersten Sowjets der Estnischen Sowjetrepublik, dann bis 1992 Staatsoberhaupt des unabhängigen Estland. In dieser Eigenschaft hat er in den kritischen Tagen des Jahres 1991 erheblichen Mut gezeigt: Er widersprach damals Michail Gorbatschow - und dieser hielt ihm buchstäblich drohend die Faust unter die Nase. Heute macht sich Rüütel für die von den Reformen gebeutelte und verunsicherte Landbevölkerung stark. Als Kandidat der „Nationalpartei“ gab er die Parole aus: „Wenn das Dorf lebt, lebt Estland“. Die Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit der Landbevölkerung stellt für Estland eines der schwierigsten Probleme dar.

Aber es gibt noch einen weiteren bemerkenswerten Kandidaten: Matti Päts, den inzwischen 68jährigen Enkel des legendären Staatspräsidenten der Zwischenkriegszeit, Konstantin Päts, der 1956 in Twer (Kalinin) in sowjetischer Haft gestorben ist. Mati Päts wurde in jungen Jahren in eine Art „Kinder-Gulag“ gesteckt: Er wurde zwangsweise in sowjetischen Kinderheimen festgehalten und hat nur knapp überlebt. Päts hat keine Partei hinter sich, sondern wird von einer Gruppierung konservativ und national gesinnter Esten , dem „Konservatiivide Klubi“ unterstützt.

Ob der Präsidenten-Enkel Chancen hat, selber Staatsoberhaupt zu werden, bleibt abzuwarten. Was ihm zugute kommen könnte, ist die allgemeine Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit mit dem Zwang und den ständigen Machtkämpfen der politischen Parteien. Viele Esten sind irritiert, daß möglicherweise ein ehemaliger Kommunist an die Spitze des Staates treten könnte - wobei sich natürlich die Frage stellt: Wer war überhaupt Kommunist? Der heutige Parlamentspräsident Savi war während der Sowjetzeit Sportarzt der sowjetischen Olympiamannschaft - und hatte in dieser Funktion selbstverständlich mit dem KGB zu tun. War er aber deshalb ein Anhänger der Sowjet-Ideologie? Die gleiche Frage stellt sich bei Tausenden von Esten, die als Kolchos-Vorsitzende oder sozialistische „Manager“ Rädchen des sowjetischen Machtapparates waren.

Hinzu kommt, daß es neben einer (wachsenden) zahlenstarken Wohlstandsschicht, die von der Wende und der neuen Selbständigkeit deutlich profitiert hat, viele Menschen gibt, die in Armut leben müssen: Rentner, die am Rande der Existenz ihr Dasein fristen und kaum Miete, Strom und Heizung zahlen können. Ein pensionierter Hochschullehrer sagte der JUNGEN FREIHEIT, er zittere bei dem Gedanken, daß sein Hausbesitzer ihm die Wohnung kündigen könnte - denn eine Wohnung zu kaufen, könne er sich bei seiner schmalen Rente nicht leisten.

Auch gegenüber der EU, der Estland seit 1995 assoziiert ist, und der Nato (seit 1994 im Nato-Programm „Partnerschaft für den Frieden“) ist bei vielen Esten eine Ernüchterung eingetreten. „Wir gehen von einer Union in die andere“, ängstigt man sich im mit 1,44 Millionen Einwohnern kleinsten baltischen Staat. Die EU jedenfalls wird - im Gegensatz zur Euphorie der ersten Unabhängigkeits-Jahre nach 1991 - nur noch als (allerdings unvermeidliches) „kleineres Übel“ betrachtet. Niemand wisse, was die Esten nach einem EU-Beitritt erwarte. „Unser Volk ist sehr naturverbunden. Wenn unsere Landwirtschaft durch die EU-Konkurrenz ruiniert wird, würden wir den Ast absägen, auf dem wir sitzen“, warnte ein EU-Skeptiker. Dabei ist Estland die einzige frühere Sowjetrepublik, mit der die EU seit März 1998 mit konkrete Verhandlungen über einen Beitritt begonnen hat. Estland rangiert auf der EU-Kandidaten-Liste ganz oben: Noch vor Polen und der Slowakei. Die geographische, vor allem aber sprachliche und kulturelle Nähe zum EU-Mitglied Finnland halfen nicht unwesentlich dabei. Erst im Februar 2000 erfolgten EU-Verhandlungen mit Litauen und Lettland, an einen Beitritt der Ukraine oder gar Weißrußlands wagt in Brüssel niemand zu denken.

Wie ein Damoklesschwert hängt aber das „russische Problem“ über dem kleinen Ostseeland: Nur etwa 65 Prozent der Bevölkerung sind Esten. Rund 28 Prozent sind Russen, die Mehrheit davon ist nach der zweiten sowjetischen Besetzung (1944-1991) angesiedelt worden. Viele Esten haben den Eindruck, die russische Minderheit im Lande (die in manchen Gegenden, etwa in der Stadt Narwa und in Sillamäse, dank sowjetischer Zuwanderungspolitik die Mehrheit stellt) hänge direkt am Moskauer Draht und werde durch diesen weiterhin ferngesteuert. In Moskau, so berichteten Esten, die sich geschäftlich gelegentlich in Rußland aufhalten, werde offen darüber gesprochen, daß man auf das Baltikum nicht verzichten könne und daß es darum gehe, Estland „langsam auf wirtschaftlichem Gebiet für Rußland zurückzuerobern“. Bis 1990 war die „Estnische Sowjetrepublik“ der „reiche kleine Westen“ der UdSSR und begehrter Alterssitz für pensionierte Offiziere und Generäle der Sowjetarmee.

Der neue Präsident - wer immer es nach dem 21. September sein wird - wird kaum an seinen Vorgänger heranreichen, was Eloquenz, Weltläufigkeit und Auftreten betrifft. Lennart Meri, als Sohn des estnischen Gesandten in Berlin zur Schule gegangen, wurde die Politik quasi in die Wiege gelegt.Der 72jährige Meri verläßt die politische Bühne unangefochten - selbst seine menschlichen Schwächen (Meri ist berüchtigt wegen seiner Unpünktlichkeit und seiner Neigung, das Protokoll durcheinanderzubringen) sieht man dem bisherigen Staatsoberhaupt nach, weil er es verstand, für Estland eine glänzende Figur auf dem internationalen Parkett zu machen.

Sein Nachfolger wird sich mit den Schwierigkeiten der Ebene herumschlagen müssen. Der neue Präsident muß den grenzenlosen Individualismus seines Volkes ordnen und kanalisieren, um zu verhindern, daß das kleine Land in Eigenbrötelei und inneren Machtkämpfen versinkt. Was ursprünglich als Rettung vor dem nationalen Untergang verstanden wurde - der Wiederanschluß an den Westen und an Europa -, könnte sich als problematisch erweisen.


 
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