© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001

 
Bürgerliche Sehnsucht nach Transzendenz
Wandervogel: 1901 - 2001 hundert Jahre Deutsche Jugendbewegung
Wolfgang Saur

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schlenderten zwei junge Männer aus einem kleinen Berliner Vorort, immer wenn sie etwas gelangweilt von ihrem CVJM-Treffen kamen, an einer Buchhandlung vorbei. In deren Schaufenstern wurden die Grunewaldbilder des Sezessionisten Walter Leistikow ausgestellt, welche die beiden magisch anzogen. Der geheimnisvolle Symbolismus der in rätselhaftes Schweigen getauchten, surrealistischen Wald- und Seelandschaften rief eine unbestimmte Sehnsucht in ihnen wach. Einmal fanden sie ebendort den Aushang einer Jugendgruppe. Sie lasen: „Du, Jugend, sei gegrüßt, die du ausfährst beim ersten blitzenden Sonnenstrahl über die Berge und durch der Heimat Wälder. Die du wanderst an den rauschenden Strömen und am murmelnden Bach ... oder träumest am Feuer auf dem Berge bei Nacht, wenn tausend Sterne funkeln. Jugend, die du heimkehrst reich an Schätzen des Erlebens und des Schauens, die du getrunken am Born der Sage und Erinnerung. Die du geschaut die Wunderdinge und die Märchen draußen in Wald und Heide.“ Diesem hymnischen Gruß folgte eine Einladung: „Wenn irgend etwas in dir für unsere Art spricht, melde dich beim Obmann unserer Gruppe und laß dir hier im Buchladen die Schriften unseres Bundes geben. Vielleicht können wir dir helfen, den Sinn deines Lebens zu finden. Wage den Versuch. Du bist herzlich eingeladen, auf unserem Nestabend zu erscheinen. Heil.“

Das war ein erster Kontakt mit den Wandervögeln, denen sich beide bald begeistert anschlossen.

Nach einer unbedeutenden Vorgeschichte seit 1896 wurde der Wandervogel vor hundert Jahren, am 4. November 1901, am Steglitzer Gymnasium nahe Berlin von dem Studenten Karl Fischer als „Wandervogel - Ausschuß für Schülerfahrten“ gegründet. Steglitz wurde so „der Mutterboden einer Jugendbewegung, die sich auf einmal ziemlich plötzlich erhob und in romantischer Begeisterung in wenigen Jahren sich über ganz Deutschland ergoß, so daß zu Tausenden ... die vom Alter gekränkte Jugend durch die Wälder brauste“ (Blüher). In der Tat wurde die deutsche Jugendbewegung als Emanzipationsprojekt und alternative Lebenskultur der bürgerlichen Schichten im Laufe ihrer dreißigjährigen Entwicklung zu einer der erstaunlichsten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Zahlenmäßig beschränkt, übte sie im Verein mit anderen lebensreformerischen Strömungen aus der Mitte der wilhelminischen Gesellschaft bis zur Machtergreifung der Nazis eine beträchtliche soziale Breitenwirkung auf ideelle Werte, kulturelle Praxis und politische Gruppenbildung aus.

Der antiautoritäre Impuls der Jugend um 1900 verlangte nach Freiheit von den sie bevormundenden Institutionen der Familie und Schule und nach dem Experimentieren mit neuen Erfahrungen, die in der von Staat, Kirche, Parteien organisierten und von oben gelenkten Jugendpflege nicht zu finden waren. So entwickelten sich eine eigentümliche Erlebniswelt und Gefühlskultur, unkonventionelle Formen des sozialen Umgangs und eine charakteristische Symbolsprache des Habitus. Das wurde schon an der Kleidung erkennbar: Sitzen auf den ersten Fotografien von 1897 die jungen Leute noch steif und geschniegelt mit korrekten Anzügen und Schildmützen wie eine kindliche Studentenverbindung brav um ihren Mentor Hoffmann herum, so kamen schon bald kurze Hosen, offene Hemden mit Schillerkrägen, zünftige Jacken mit Gurt und kesse Federhüte auf, vielfach durch eine umgehängte Klampfe ergänzt.

Auch physiognomisch geht eine Veränderung vor sich: das neue Leben in der Gruppe drückt sich durch eine lässige Haltung in locker-bewegten Szenen aus, deren Figuren sich harmonisch auf die Landschaft beziehen und die alten Städte und Burgen eigentümlich zum Sprechen bringen. Natur und Heimat bilden den Gegenentwurf zu einer zivilisationskritisch gesehenen modernen Umwelt. Das gemeinsame Wandern in die Ferne, die „Fahrt“, wird zur großen Leidenschaft - erst in die nahe Umgebung, dann weiter, auch ins Ausland, bis hin zur Weltfahrt der Nerother in den Jahren 1931-33.

Vorbilder waren die mittelalterlichen Scholaren und Ritter, deshalb auch die Bezeichnungen „Vagant“ und „Bachant“. Unterwegs übernachtete man bei Bauern im Stroh, schlug Zelte auf oder baute mit großem Engagement eigene Landheime. Das konnte bis zur Instandsetzung und dem Ausbau alter Burgen gehen, so der Waldeck oder des Ludwigsteins, der zentralen Jugendburg seit 1920, die heute das Archiv der Jugendbewegung beherbergt.

Die Bewegung blieb von Spaltungen nicht verschont

Der „Großbachant“ war Karl Fischer (1881-1941), die charismatische Figur dieses „Ur-Wandervogels“, der eine außerordentliche Ausstrahlung auf die Jugendlichen gehabt haben muß. Fischer konnte indes nicht verhindern, daß sich schon bald der Spaltpilz der neuen Jugendkultur bemächtigte, um sich fortan als ihr eigentliches „Lebenselement“ zu erweisen. Schon 1904 zerfiel die erste Organisation; es bildeten sich der „Wandervogel e.V.“ und der „Altwandervogel“. Bis 1914 wuchs die Bewegung auf 25.000 junge Menschen an, die sich auf 800 Gruppen verteilten. Die Mädchen kamen 1907 dazu. Bisweilen wanderte man zusammen, wie auch die Reformpädagogik die Koedukation befürwortete; in der Regel aber bildeten die Mädchen eigene Ortsgruppen als Teil der größeren Verbände.

Ein Freund des Mädchenwanderns war Hans Breuer, der aus alten Volksliedern den „Zupfgeigenhansl“ (1908) schuf und mit dieser repräsentativen Sammlung dem Musizieren im Wandervogel mächtigen Auftrieb gab. Die letzten Seiten im Buch wiesen leere Notenblätter auf, auf die sich sein Vorwort ausdrücklich bezog: „Da schreibe hinein, was du auf sonniger Heide, in den niedrigen Hütten dem Volke abgelauscht hast, wir müssen alle, alle mithelfen, aus dem Niedergang der schaffenden Volkspoesie zu halten, was noch zu halten ist. Noch lebt das alte Volkslied, noch wandelt frisch und lebensfroh in unserer Mitte, was unsere Väter geliebt, geträumt und gelitten. Das Erbe ist groß und herrlich, aber die Erben können nichts mehr und wissen nicht, was sie besitzen. Hier gilt’s, ein edles Gut zu bewahren.“ Romantischem Geist und volkskundlichem Interesse verdankten sich viele künstlerischen Formen im Wandervogel, so der Tanz, dann das Laientheater, das die alten Mysterienspiele und die Komödien des Hans Sachs wieder ans Licht zog, oder das Puppenspiel.

Auch literarisch wurden die Jungen produktiv. Es entstand eine eigene „Wandervogelschriftstellerei“, die sich vom kindlichen Schulaufsatz wie vom Zeitungsdeutsch abgrenzte und sich hauptsächlich in einer Vielzahl unterschiedlichster Periodika artikulierte. Den Auftakt machte Fritz Meyen 1904 mit Wandervogel - Illustrierte Monatsschrift. Verehrt wurden Stefan George mit seinem Spätwerk und Hermann Hesse; von Hand zu Hand gingen Hermann Burtes „Wiltfeber“, Charles de Costers „Ulenspiegel“, Hermann Poperts „Helmut Harringa“, aber auch Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“ und Clemens Brentanos „Chronika eines fahrenden Schülers“. Als kulturkritischer Klassiker galt August Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“.

Zum Höhepunkt der Zeit vor 1914 geriet die Zusammenkunft der Bünde im Oktober 1913 zum ersten „Freideutschen Jugendtag“ auf dem Hohen Meißner, wo sich über 3.000 Menschen einfanden. Bewußt opponierte die Veranstaltung gegen den Hurra-Patriotismus der offiziellen Gedenkfeiern zur 100. Wiederkehr der Leipziger Völkerschlacht. Die Einladung hatte der Reformpädagoge Gustav Wyneken, Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf (1906), verfaßt. Dort hieß es: „Die deutsche Jugend steht an einem geschichtlichen Wendepunkt. Die Jugend, bisher aus dem öffentlichen Leben der Nation ausgeschaltet und angewiesen auf eine passive Rolle des Lernens, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen, unabhängig von den trägen Gewohnheiten der Alten und von den Geboten einer häßlichen Konvention. Sie strebt nach einer Lebensführung, die jugendlichem Wesen entspricht. Sie möchte das, was in ihr an reiner Begeisterung für höchste Menschheitsaufgaben, an ungebrochenem Glauben und Mut zu einem adligen Dasein lebt, als einen erfrischenden, verjüngenden Strom dem Geistesleben des Volkes zuführen.“

Als prominente Redner auf dem Meißner traten, neben Wyneken, Ferdinand Avenarius vom Kunstwart, der Verleger Eugen Diederichs und der junge Philosoph Ludwig Klages auf, dessen von leidenschaftlicher Zivilisationskritik getragene Ansprache den modernen Raubbau an der Natur anprangerte und so zum Gründungsmanifest der ökologischen Bewegung in Deutschland wurde. Abschließend einigten sich die anwesenden Verbände auf die „Meißner-Formel“, die das Anliegen aller auf den Punkt bringen sollte. Die deutsche Jugend, heißt es da, „will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten“.

Im Ersten Weltkrieg wurde die Freideutsche Jugend aufgerieben. Literarisch erhielt sie ein Denkmal mit dem Buch: „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ (1917). In dem Protagonisten der Erzählung, seinem Freund Ernst Wurche (gest. 1915), beschrieb Walter Flex (1887-1917) die Persönlichkeitstransformation des Kriegsteilnehmers, der in der absoluten Grenzerfahrung angesichts des Todes jene letzte innere Freiheit, Würde und Gelassenheit erwirbt, die ihn über alle Zerstörung hinaushebt und zu einem auch sittlich vorbildlichen neuen Menschentyp gestaltet: „Aus allen seinen Worten sprach ein reiner, klarer, gesammelter Wille. So wie er die Anmut des Knaben mit der Würde des Mannes paarte, war er ganz Jüngling“ - der den Geist des Wandervogels in die Worte zusammenfaßte: „Rein bleiben und reif werden - das ist die schönste und schwerste Lebenskunst.”

Die erste geschichtliche Darstellung des Wandervogels erschien 1912. Der Chronist, Hans Blüher (1888-1955), sollte nachmals einer der originellsten und umstrittensten Weltanschauungsautoren in der Weimarer Republik werden. Er vereinte die existentielle Erfahrung und Anschauung der Bewegung mit einer bedeutenden darstellerischen Kraft, welche die Lektüre seiner Wandervogel-Geschichte auch heute noch zu einem Vergnügen macht. Schon im zweiten Band des Werks hatte Blüher auf den homoerotischen Aspekt der Jugendbewegung hingewiesen. Umfassend wurde dieses Thema im Supplementband „Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen“ (1912) entfaltet. Von Freud ausgehend, leistet er die Enttabuisierung eines heiklen Themas, vollzieht jedoch eine charakteristische Umdeutung. Er erkannte das Moment der Vatersuche in der Jugendbewegung und synchronisierte den erotischen Impuls mit dem politischen Wandel. („Die Republikanisierung eines Komplexes bedeutet immer dessen Entvaterung“.) Dahinter erscheint also - im Sinne der Archetypenlehre - etwas wie das mythische Urbild des Königs, der individualpsychologisch als Vatersymbol, kosmische Energie, maskulines Strukturprinzip erscheint. Neuere Forschung warnt uns davor, die manifeste Homosexualität im Wandervogel zu überschätzen, mißt aber den emotionalen und verbalen Äußerungsformen große Bedeutung bei. Von da aus wird Homoerotik deutbar als Sorge und Reflexionsbemühung um die männliche Identität in einer krisenhaften Wendezeit.

Diese Gedanken gingen ein in Blühers politische Theorie, sein Hauptwerk „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“ (1917-19) und seine Idee des „Männerbundes“. Dort ordnete er die Familie als Konstituens der Gesellschaft der weiblichen Sphäre zu, die politische Staatsbildung aber dem Manne. Beide Sozialisierungsparadigmen sieht er letztlich erotisch begründet. Die Morphologie des Staats rekonstruiert er - im Zeitalter des revolutionären Umbruchs - antidemokratisch als „Bund“. Als dessen innerstes Wesen erweist sich ein okkulter homosexueller Kern - der nach außen freilich unerkennbar - magnetisch die Adepten in konzentrischen Kreisen an sich zieht. Das Zentrum, der oberste Männerbund, wird als „Geheimbund“, „Ecclesia invisibilis“, ja als „Sakrament“ bezeichnet. Damit erweist sich Blühers bizarre Phantasie als ein konservativ-antifeministischer Erlösungsmythos, der Männlichkeit und Politik auf „mystische“ Weise miteinander verknüpft. Das neue Paradigma war jedenfalls das des „Bundes“.

Recht besehen, entspricht die „soziologische Kategorie des Bundes“ (Herman Schmalenbach) dem Max Weberschen Typ der „charismatischen Herrschaft“, jenseits von „traditionaler“ und „rationaler“ Herrschaft, bzw. von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Die bündische Struktur und die charismatische Führerpersönlichkeit an der Spitze stellen tatsächlich zwei charakteristische Momente der sich 1920 (vor allem im „Kronacher Bund“ und „Jungdeutschen Bund“) neu konstituierenden und vielfach ordensähnlichen, nunmehr „bündischen Jugend“ dar. Generell zeichnet sie sich gegenüber dem Vorkriegs-Wandervogel durch eine stärkere Disziplinierung, Hierarchisierung, Politisierung und symbolische Uniformierung aus. Das frühere „lockere Bild ist gewichen. Tracht, Auftreten, Ordnung sind soldatischer geworden“ (Werner Helwig). Wimpel, Fahnen, Trommeln und Aufmärsche gewinnen an Bedeutung. Dieser Gestaltwandel hat seine Wurzeln im Einwirken des englischen Pfadfindertums und in der prägenden Kraft der Fronterfahrung. Der alte Wandervogel war ein anarchischer Aufstand der jungen Generation gegen die autoritären und bourgeoisen Formen der etablierten wilhelminischen Gesellschaft gewesen. Diese „Welt der Sicherheit“ (Stefan Zweig) war im Orkus des Krieges verschwunden. „Seit aber das Deutsche Reich“, so Helwig, „seine Form verloren hatte und das deutsche Volk versuchte, sich eine neue staatliche Ordnung zu geben, stand die Jugendbewegung vor einer neuen Situation. Die Antwort darauf hieß ’Bund‘.“ Signifikant ist hier zum Beispiel die Gründung des Nerother Bundes, den Karl Oelbermann mit den Worten forderte: „Alles lange Reden ist zwecklos, wir müssen handeln. Wir wollen einen Geheimbund gründen! Heute in der Nacht soll eine Wende herbeigeführt werden“. Am 28. März 1921 entstand der „Nerother Wandervogel, deutscher Ritterbund“. In ihm wurde eine Verbindung bürgerlicher und proletarischer Jugendlicher angestrebt. Ideengeschichtlich läßt sich zwar vielfach eine Nähe der Bünde zu jungkonservativem Gedankengut feststellen, doch greifen simple Zuordnungen zu kurz. Vielmehr stellt sich die Situation komplex und widersprüchlich dar; rechte und linke Motive durchdringen sich.

Rechte und linke Motive durchdrangen sich

Ein radikales Beispiel für die Endphase der Bünde um 1930 gibt Tusk (Eberhard Koebel) und sein „d.j.1.11“. Aus seinen Texten erkennt man ein „existenzialistisches“ Hindrängen auf die große Entscheidung, die bei ihm schließlich als politische fiel. Nicht der NSDAP trat er bei, wie seine militante Sprachmetaphorik womöglich suggerieren konnte, sondern der KPD (April 1932). Er emigrierte und kehrte nach Kriegsende in die DDR zurück. „Soldatisches, Härte, Leistung, Führung und Gefolgschaft“ zeigte auch das elitäre „Graue Corps“, doch war hier der esoterische Aspekt vorherrschend. Über den Führer Teut (Karl Müller), eine Gegenfigur Tusks, bemerkt Helwig: „Es ging ihm nicht um den Aktivismus, sondern um das Ergriffensein durch das Transzendente, das Sichaufschließen für die Ursprünglichkeit des Göttlichen ... darum, daß einmal das Wahre sich neu lebendig zeige.“

Gut hat Paul Tillich 1924 das religiöse Moment der Jugendbewegung festgehalten: „In ihren besten Kräften reicht die Jugendbewegung in die Tiefe, die wir religiös, heilig, göttlich nennen. Die heilige Glut des Inneren wird angeschaut in dem heidnischen Sonnenwendfeuer. Das ist das naturreligiöse Motiv der Bewegung. Mit der naturmystischen Grundlage aber verbindet sich ein zweites Element: die Mystik der Gemeinschaft und von diesem schöpferischen Eros der Gemeinschaft aus gehen jetzt schon wärmende und bewegende Ströme in die Starrheit der rationalen Gesellschaft und ihrer verhärteten Parteiformen.“

Das Ende ist schnell erzählt: die Nazis waren nicht bereit, eine selbstbestimmte und frei organisierte Jugend zu tolerieren, wollten diese vielmehr selbst politisch erfassen. So wurden die Bünde, um 1930 auf 50.000 bis 60.000 Mitglieder angewachsen, am 24. Juni 1933 aufgelöst und in die Hitlerjugend überführt. Manche paßten sich an, andere gingen als Dissidenten in den Untergrund wie die Geschwister Scholl oder Harro Schulze-Boysen, der Organisator der Roten Kapelle.

Nach 1945 gab es zwar ein Wiederaufleben. Wer die Gedenkausstellung 2001 im Museum Berlin-Lichterfelde besucht hat, konnte sich von der Vitalität und dem Formenreichtum der Gruppen bis heute überzeugen. Anders freilich liegt die Frage nach der stilbildenden Kraft, kulturellen Potenz und repräsentativen Bedeutung der heutigen Wandervögel. Sie erscheinen marginalisiert. Selbst viele Überlebende hatten in der Nachkriegszeit einen Neuanfang als Anachronismus abgetan, und tatsächlich erscheint die Bedeutung der „Jugendbewegung“ heute historisch. Fremd geworden, hat sie als „typisch deutsches“ Phänomen jedoch eine vielstimmige und zugleich individuell unverwechselbare Kulturgestalt des Jahrhunderts geschaffen, deren Lebendigkeit und Phantasie uns auch heute noch aus ihren fernen Zeugnissen seltsam anrührt.


 
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