© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Seelische Verwüstung
Nationale Identität I: Als Bürgerreligion sichert der Begriff das Gemeinwesen
Karlheinz Weißmann

Als der hessische Ministerpräsident Roland Koch in der letzten Woche am Rande eines Interviews äußerte, die Union solle die „nationale Identität“ im nächsten Wahlkampf zum Thema machen, löste das ebenso aufschlußreiche wie absehbare Reaktionen aus. In den Medien war der Aufschrei vernehmbar, daß diese Absicht dem Rechtsradikalismus in die Hände spiele. In den Reihen von CDU und CSU äußert man sich verzagt, verständlich nach den Diskussionen zur „Leitkultur“ und zum „Patriotismus“, die in den beiden vergangenen Jahren von der Union wohl angeregt, dann aber nicht geführt und schon gar nicht unter Kontrolle gehalten worden waren.

Debatten über die „nationale Identität“ der Deutschen hat es in der Nachkriegszeit immer wieder gegeben. In einer ersten Phase, von den späten Vierzigern bis zum Beginn der fünfziger Jahre, ging es vor allem um die Frage kollektiver Verantwortung und den verbliebenen Bestand, in einer zweiten Phase, die Mitte der sechziger Jahre einsetzte, und mit dem Abschluß der Ostverträge endete, diskutierte man das Problem, ob, und wenn ja, in welcher Gestalt, die Einheit der Nation bewahrt werden könne, in der dritten, die parallel zur Entwicklung der Friedensbewegung verlief, wurde vorzugsweise der Komplex Blockbindung - Kriegsgefahr - deutsche Teilung thematisiert.

Was bei allen diesen Debatten um die Identität der Deutschen vorausgesetzt werden durfte, war die Annahme, daß es so etwas wie die „nationale Identität“ überhaupt gebe, dass ihr Vorhandensein wünschenswert sei und ihr Verlust einen gravierenden Schaden bedeute. Insofern unterschieden sich die drei ersten Phasen von den beiden letzten, die mit der Wiedervereinigung und dann in der jüngsten Vergangenheit eingesetzt werden müssen. Bei diesen Kontroversen standen sich nicht mehr Parteien gegenüber, die die jeweils richtige Interpretation von „nationaler Identität“ in Anspruch nahmen, hier traten die erklärten Feinde „nationaler Identität“ gegen ein Häuflein von Verteidigern auf.

Wenn man die gegenwärtige mit der geistigen Lage der Nation in den Nachkriegsjahren vergleicht, wird ein hohes Maß seelischer Verwüstung erkennbar. Als Ricarda Huch, gerade aus dem Exil zurückgekehrt, im Oktober 1947 auf dem ersten - und letzten - gesamtdeutschen Schriftstellerkongreß sprach, durfte sie annehmen, dass die Nation nach Meinung aller Beteiligten zu den Fundamenten von Kultur und Politik gehörte, und mehr als das: „In der Bibel ist uns gesagt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es gilt auch von den Nationen; daß jede sich selbst liebt, ist selbstverständliche Voraussetzung. Über die Selbstliebe sollte sich dann die Liebe zu den anderen entfalten.“ Ricarda Huch meinte, daß die deutsche Intelligenz Weltoffenheit zeigen müsse, aber man bleibe doch „... in erster Linie Deutscher“.

Im Kern geht es immer um die Frage „Was ist deutsch?“

Ganz offensichtlich hegte die Generation, die sowohl die Diktatur, den Krieg als auch den Zusammenbruch von 1945 miterlebt hatte, weniger Zweifel an der Existenzberechtigung Deutschlands und dem bleibenden Wert seiner Traditionen, als die heutige. Man konnte damals erwarten, daß die negativen Seiten der deutschen Vergangenheit gegenüber den positiven allmählich an Gewicht verlieren würden. Behauptungen wie die vom „Zivilisationsbruch“ oder einer „Unvergleichbarkeit“ der NS-Verbrechen hätten kaum Verständnis gefunden, geschweige denn, daß auf Grund solcher oder ähnlicher Thesen die ganze Geschichte der Nation verworfen worden wäre.

Gegen alle Wahrscheinlichkeit ist aber die braune als „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (Ernst Nolte) zum Fokus für das historische Selbstverständnis der Deutschen geworden, und daraus zieht jede Polemik gegen „nationale Identität“ ihre Rechtfertigung: Die Deutschen sind es nicht wert, ein Selbstverständnis zu haben, das ihren Stolz und Patriotismus begründen könnte, eben weil sie als Nation nichts wert sind.

Allerdings führt diese Argumentation immer wieder zu einem Punkt, an dem ihre Haltlosigkeit klar erkennbar wird: Auch wer die Nichtswürdigkeit einer Nation behaupten will, muß ihr Vorhandensein annehmen und glauben, daß sie durch erkennbare Merkmale konstituiert wird. Auch der „negative Nationalismus“ ist ein Nationalismus. Schon, daß Erinnerung als politisch erwünscht betrachtet wird, mehr noch, daß der Staat sie propagiert und im Zentrum einer Bürgerreligion installiert, zeigt, daß die Gegner des Prinzips „nationale Identität“ an ihren eigenen Voraussetzungen scheitern. Man hat eben nicht das kollektive Selbstverständnis beseitigt und durch einen konsequenten Atomismus ersetzt, der nur noch Einzelne kennt, sondern die Vorzeichen umgedreht. Im Kern geht es auch den Verächtern der nationalen Identität um die Frage „Was ist deutsch?“

Zur Illustration mag ein Hinweis auf die Rede Fischers vor der Rassismus-Konferenz dienen. Die groteske Entschuldigung des Außenministers für die Verbrechen des Kolonialismus (an denen Deutschland, wenn überhaupt, dann einen sehr geringen Anteil hatte) ist ein aussagekräftiges Beispiel für die neuere Art deutscher Identität. Ohne Widerspruch erwarten zu müssen, konnte Fischer vortragen, daß die Deutschen durch ihre Geschichte auch jetzt verpflichtet seien, Verantwortung zu übernehmen, schon weil die Einmaligkeit deutscher Schuld in anderem Zusammenhang außer Zweifel stehe und die Nachgeborenen exemplarisch gezeigt hätten, wie man für die Untaten der Vorfahren büße.

Geht man den gedanklichen Voraussetzungen dieser Thesen nach, kommt man zu dem Schluß, dass Fischer die Nation als corpus mysticum vorstellt, als überzeitliche Einheit der Verstorbenen, der Lebenden und derjenigen, die noch geboren werden. Durch Abstammung hat man Teil an der Geschichte des eigenen Volkes, kein Willensakt kann daran etwas ändern. Die Nation ist eine Schicksalsgemeinschaft. Das heißt, man hat es hier mit allen klassischen Topoi „nationaler Identität“ zu tun, allerdings in einer düsteren Variante. Immerhin wird auf eine Verheißung nicht ganz verzichtet: Mit den multikulturellen Gesellschaften - prophezeite Fischer - entstehe eine neue Form des Zusammenlebens, in der die Deutschen (mitsamt ihrer Schuld?) verlöschen werden.

Das neue deutsche Selbstverständnis wurde schon oft analysiert, man hat auf seine versteckte Hybris und seine pathologischen Züge hingewiesen. Der Zusammenhang mit dem Trauma der Kriegsniederlage, mit den Umerziehungsversuchen der Alliierten, mit legitimen und illegitimen Bemühungen um „Vergangenheitsbewältigung” und mit den „Ideen von ’68“ wurde wieder und wieder thematisiert. Aber keine Entlarvung konnte den Einfluß dieser Form „nationaler Identität“ beseitigen.

An den Ausgangspunkt der Nationalbewegung zurück

Die Ursache liegt darin, daß die Wirkung von Aufklärung bei geistigen Beständen, die im Vorvernünftigen wurzeln, immer begrenzt ist. Kritik bleibt fast immer unfruchtbar. Darum hat jeder Versuch, die „nationale Identität“ der Deutschen wirklich zu erneuern, davon auszugehen, daß das vorherrschende Selbstbild durch ein anderes ersetzt werden muß. Das hieße an den Ausgangspunkt der Nationalbewegung zurückkehren, die sich gezwungen sah, überhaupt erst zu entwerfen, was deutsch sein sollte, und davon eine faszinierende und anziehende Vision zu geben: „An der Fahne allein soll niemand unser künftig Volk erkennen; es muß sich alles verjüngen, es muß von Grund aus anders sein; voll Ernst die Luft und heiter alle Arbeit! Nichts, auch das Kleinste, das Alltäglichste nicht ohne den Geist und die Götter!“ (Friedrich Hölderlin)

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen.


 
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