© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Pankraz,
S. Hawking und das All als Handschmeichler

Dem „lieben Gott“ möchte er „auf die Spur kommen“, verrät Stephen Hawking, der vom Schicksal mit totaler körperlicher Lähmung geschlagene britische Physiker und Mathematiker, in seinem neuen Buch „Das Universum in der Nußschale“ (bei Hofmann und Campe, Hamburg). Und er hält es sogar für möglich, daß ihm das gelingen könnte, und wenn nicht ihm, so anderen Mathematikern „irgendwann am Ende des Jahrhunderts“. Eine „Theorie für alles“ stellt er in Aussicht, eine „Weltformel“, die man dann nur noch „anwenden“ müsse, um jedes Rätsel des Kosmos zu „lösen“.

Aber das Unternehmen „Weltformel“ ist ziemlich dubios, und es wird auch nicht heller, indem sich immer wieder mathematische Genies bereit finden, ihm beizutreten und ihren Beitrag dazu zu leisten. Ob es je einen Schlüssel für die Welträtsel geben wird, sei dahingestellt, doch allmählich spricht sich herum, daß die Mathematik dieser Schlüssel nicht ist.

Man darf daran zweifeln, daß „das Buch der Natur in Zahlen geschrieben“ sei, wie Kepler glaubte, und Gott ist gewiß auch kein rauschebärtiger Rechenmeister, der die Welt am Reißbrett konstruiert hat, dabei den pythagoreischen Lehrsatz und das Newtonsche Infinitesimal-Kalkül bedenkend. Dieses putzige Genrebild stammt aus der Illusionskiste des neuzeitlichen Rationalismus, nachdem es einige spektakuläre mathematisch-physikalische Entdeckungen gegeben hatte, die Logarithmen von Bürgi und Briggs etwa, die analytische Geometrie von Descartes und manches andere.

So weit ging damals die Euphorie der Gelehrten, daß manche von ihnen glaubten, Gott als einen „Ingenieur im Ruhestand“ beschreiben zu können. Er habe die Welt mit Hilfe mathematischer Formeln entworfen, und siehe, alles war so gut und präzise geraten, daß er sich bequem in seinem Ohrensessel zurücklehnen konnte. Seinen Part übernähmen künftig die Mathematiker, die den Generalentwurf nur noch hier und da ein bißchen genauer auszurechnen bräuchten, um das Paradies herbeizuführen, gedacht als kristallisierte, im Sandkasten nachgebackene „Weltformel“.

Spätestens seit Einstein, Heisenberg und Gödel hätte an sich Schluß sein müssen mit solchen Sandkastenspielen. Denn mit diesen Heroen leistete die Physik und auch die Mathematik, was den Kosmos und den Mikrokosmos betrifft, eine Art Offenbarungseid. Unser menschlicher Wahrnehmungs-Apparat, so kam heraus, ist ab einer gewissen Dimension gar nicht mehr in der Lage, makrokosmische oder mikrokosmische Fragen zu lösen, er ist ein Instrument zur Lebensbewältigung hier auf Erden und nicht mehr. Die Wirklichkeit ist für uns identisch mit unserer konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Anschauungs- und Lebenswelt, und alles, was „davor“ oder „dahinter“ ist, bleibt Rätsel, Vermutung, „Konjunktion“, wie schon der große Cusanus im Mittelalter gewußt hat.

Mathematik als Lehre von den Zahlen und den geometrischen Ordnungsbeziehungen ist im Kern praktische Hilfs- und Lebenswissenschaft. Die sogenannte „reine“ Mathematik (Zahlentheorie, Kombinatorik, Gruppentheorie, Topologie und und und) zeitigt schöne, witzige Gedankenpointen, doch wenn ihre Gleichungen oder Ungleichungen (was sehr oft der Fall ist) nicht in unser naturgegebenes Anschauungs- und Überlebens-system hineinpassen, wird sie zu einem bloßen Glasperlenspiel zur Unterhaltung exklusiver Geister, vergleichbar der japanischen Netsuke-Handschmeichelei. Zu behaupten, es würden dabei „wahre“ oder auch nur wahrscheinliche Aussagen über Gottes Schöpfung, beispielsweise über die Tiefen des Kosmos, getroffen, ist allzu verwegen.

Keine der von den lebenden mathematischen Genies inklusive Hawking „errechneten“ Theorien läßt sich veranschaulichen, geschweige denn beweisen. Und schlimmer noch: Diese unbewiesenen, unbeweisbaren Theorien sind für unsere Lebenswelt vollkommen uninteressant, sie betreffen uns nicht, sie lassen uns vollständig kalt. Während die Theorien der alten Astrologen einen unmittelbaren Bezug zum Schicksal jedes einzelnen und auch zum Schicksal ganzer Völker und Zeitalter suggerierten (wovon der moderne Horoskopbetrieb ein eher drolliges Überbleibsel ist), sagen uns die aktuellen „String“- oder „Branen“-Theorien nicht einmal etwas darüber, ob eine günstige oder eine ungünstige Zeit zum Spazierengehen ist. Ihr existentieller Ertrag ist gleich Null.

Kosmische Berechnungen der fünfziger und sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts („Einsteinzeit“) führten wenigstens noch zu so hübsch gruseligen Vorstellungen wie Zeitverschiebung, Urknall, Schwarze Löcher, Weiße Zwerge. Science- Fiction-Filme und Fernsehserien lebten davon. Die heutigen Berechnungen („Hawkingzeit“) leisten nicht einmal mehr einen Beitrag zur Belebung der Unterhaltungsindustrie.

Ob die Urmaterie aus dreizehndimensionalen, membranhaft bibbernden, makkaroniähnlichen „Strings“ von der Größe eines quadrillionstel Millimeters besteht oder nicht, lockt nicht einmal mehr den sprichwörtlichen Hund hinter dem Ofen hervor, läßt ihn nicht einmal mit dem Schwanz wedeln. Ebensogut könnte man behaupten, unser Weltall sei der abgeschnitzte Kienspan vom hölzernen Deckel einer einige Quinquillionen Quadratkilometer großen Superlatrine. Man hätte keinen Deut weniger „recht“ als die rechnenden String-Theoretiker, von denen sich jeder so sehr nach dem Nobelpreis für Physik sehnt.

Bei der Lektüre des Buches von Stephen Hawking hat man übrigens streckenweise den intensiven Eindruck, er nähme seine Berechnungen selber nicht ganz ernst, spiele ein bodenloses Spiel mit dem Leser, dem Wissenschaftsbetrieb und dem von ihm ins Visier genommenen göttlichen Zuschauer. Dies sind die besten Stellen des Buches, und man gönnt dem Autor die stille Freude, die er bei ihrem Abfassen empfunden haben mag. Wer Schweres zu ertragen hat, darf sich leichte, heitere Scharaden leisten.


 
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