© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Eine Nation auf der Suche nach sich selbst
Lettland: 800 Jahre Riga - Das postsowjetischen Baltikum in Augenschein genommen - Deutsche Spuren werden nicht verleugnet
Andreas Mölzer

Wer heute Riga, die eigentliche Metropole der baltischen Staaten, besucht, wird mit einer leidvollen Vergangenheit und einer schwierigen Zukunft konfrontiert. Aber auch mit einem Teil Europas, in dem sich die Seuche der political correctness noch nicht ausgebreitet hat.

Riga, die Hauptstadt der jungen Republik Lettland, feierte dieser Tage ihr 800jähriges Bestehen - und was hat diese Stadt an der Mündung des Flusses Düna in die Ostsee schon alles gesehen! Zuerst war sie Mitglied der deutschen Hanse, dann wurde sie vom deutschen Ritterorden beherrscht, schließlich war Riga sogar freie deutsche Reichsstadt, um in der Folge nacheinander von den Polen, den Schweden und den Russen besetzt zu werden. Nach dem Ende des Zarenreiches wurde die vorwiegend deutsche Stadt Hauptstadt der jungen Republik Lettland und war während des Zweiten Weltkrieges abwechselnd von den Sowjets und der deutschen Wehrmacht besetzt. Erst im Jahr 1991, als die Sowjetunion auseinanderbrach, schlug die Stunde der Letten. Seit dem 21. August des Jahres 1991 ist Riga die Hauptstadt der eigenständigen Republik Lettland. Und dieses Riga, das nunmehr zu 70 Prozent von Russen bewohnt wird - sie machen immerhin noch 40 Prozent der Bevölkerung ganz Lettlands aus -, blüht seitdem auf. Die 800.000 Seelen zählende Ostseemetropole ist heute vom pulsierenden Leben geprägt. Das wiedererrichtete Schwarzhäupterhaus, im Zweiten Weltkrieg von deutscher Artillerie zerstört und schließlich von den Sowjetkommunisten gesprengt, ist heute der Mittelpunkt der Altstadt. Ähnlich wie die Kleine Gilde zeugt dieses Schwarzhäupterhaus vom mittelalterlichen baltendeutschen Bürgerstolz. Im baulich aus der Sowjetzeit stammenden Museum der Okkupation kann man jedoch nicht nur die Hypotheken der leidvollen lettischen Geschichte, sondern die nach wie vor existenten Bedrohungen der Identität des kleinen Ostseelandes kennenlernen: Zwischen dem übermächtig drohenden russischen Bären und dem von Ferne lockenden goldenen Westen, heute repräsentiert durch die Europäische Union, müssen die rund 1,5 Millionen Menschen zählenden Letten ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Identität bewahren. Kein leichtes Unterfangen.

Der lutherische Erzbischof Janis Vanacs, seit 1993 Hirte der größten christlichen Gemeinde des Landes, schildert uns im Gespräch die Probleme dieses heutigen Lettlands: es gehe darum, den vormaligen homo sovieticus wieder zu einem mündigen Bürger, zu einem Christen und zu einem Patrioten zu machen. Der protestantische Oberhirte ist erst 43 Jahre alt. Er weiß um die schwierige Lage der Letten zwischen Ost und West und tritt für einen Beitritt seines Landes zur Nato ein. Schließlich solle Lettland aber auch Mitglied der Europäischen Union werden, wenn auch - und da ist der Erzbischof durchaus Realist - der westliche Lebensstil „eine Gefahr für die Christen“ darstelle. Mit Drogen, Abtreibung, „Homosexuellen-Ehe“ und anderen fortschrittlichen Errungenschaften vermag sich Vanacs, im Gegensatz zu seinen westlichen Amtsbrüdern, nicht abzufinden.

Anders sieht Alfreds Rubiks, der einstige Sowjetbürgermeister von Riga und heutige Führer der sozialdemokratischen Partei, die Zukunft Lettlands. Insgeheim hofft er wohl, auf eine Renaissance des Sowjetkommunismus, wobei er - leider zutreffend - darauf verweist, daß zur Sowjetzeit die ausreichende Versorgung für alle Menschen gegeben war, während heute ein Teil der Bevölkerung verarmt. Rubiks, der nach der Revolution von 1991 sechs Jahre wegen „antilettischer Bestrebungen“ im Gefängnis saß, dem allerdings auch seine Gegner zugestehen, daß er einer der wenigen nicht korrupten Politiker des Landes sei, sieht in der Entwicklung der letzten zehn Jahre wenig Positives. Der Westen habe die Industrieproduktion des Landes, aber auch die landwirtschaftliche Produktion ruiniert. Billige, für die Letten jedoch kaum erschwingliche Konsumgüter überschwemmten das Land, und der russische Markt, für den Lettland in der Sowjetzeit produziert hat, sei heute in weite Ferne gerückt.

Rubiks lebt heute von einer Pension in Höhe von 49 Lat, was ungefähr 170 Mark entspricht. Er, der gemeinsam mit Michail Gorbatschow Karriere in der KPdSU gemacht hat, weiß sehr wohl, daß kommunistische Bestrebungen genauso wie die kommunistische Partei selbst heute in Lettland verboten sind. Seine Partei nennt sich heute sozialistisch und hat sechzehn von 100 Parlamentssitzen. Auf die Frage, ob er denn die heutige Freiheit und Unabhängigkeit Lettlands nicht auch begrüße, meinte er lakonisch: Jene verarmten Leute, die absolut nichts hätten, seien weder frei noch unabhängig.

Ganz anders sieht Odisejs Kostanda die Dinge. Der studierte Historiker und Autor einer vielgelesenen lettischen Geschichte betätigt sich heute nach neunjähriger Mitgliedschaft im Parlament als christlicher Gewerkschaftler. Er fürchtet eine Renaissance des Kommunismus in seiner Heimat keineswegs. Skeptisch ist der 38jährige Kostanda, selber halb griechischer und halb lettischer Abstammung, allerdings gegenüber der Europäischen Union und ihren Segnungen. Er sieht die Interessen kleinerer Staaten innerhalb der EU keineswegs als gesichert und meint, daß die lettische Identität im Falle eines EU-Beitritts gefährdet sein könnte.

Neben der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage ist die Existenz der vierzigprozentigen russischen Minderheit im Lande das Hauptproblem Lettlands. Kostanda sieht für die meisten lettischen Patrioten keinerlei Veranlassung, den erst unter Stalin zugewanderten Russen die Staatsbürgerschaft aufzudrängen. Diese seien eben nicht in der Lage, wirkliche Loyalität gegenüber dem neuen Staat zu entwickeln und hofften weitgehend auf eine Rückkehr nach Rußland. Gerade weil in der Sowjetzeit eine systematische Russifizierung des Landes stattfand, sehen sich die Letten heute im Recht, wenn sie ihre Kultur und ihre Sprache mit aller Härte verteidigen.

Ein besonderes Verhältnis haben die Letten auch zu den Deutschen. Diese, die mit der Hanse und dem Ritterorden im Mittelalter ja kolonisiert und christianisiert haben, waren nicht immer beliebt. Heute hofft man indessen vorrangig auf deutsches Kapital und deutsche Wirtschaftshilfe. Überdies ist man von lettischer Seite nicht bereit, die im Westen gängige political correctness in Sachen Geschichtsbetrachtung mitzumachen. Jene lettischen Legionäre etwa, die am Ende des Zweiten Weltkrieges auf deutscher Seite gegen die Rote Armee kämpften, werden in der jungen Republik hochgeehrt. Eine Verurteilung dieser Veteranen, wie sie etwa in Deutschland stattfand, wäre in Lettland undenkbar. Diesbezüglich haben von der populären Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga, einer aus Toronto stammenden Exil-Lettin, bis hin zum protestantischen Erzbischof Janis Vanacs alle wesentlichen Stimmen des Landes die gleiche Meinung geäußert: Unter der rot-weiß-roten Flagge befindet sich die kleine Ostseenation somit auf ihrem schwierigen Weg von einer leidvollen Vergangenheit in eine nicht minder komplizierte Zukunft. Daß diese Zukunft eine europäische sein wird, steht außer Frage.


 
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