© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Rückkehr der Geopolitik eingeläutet
Börse I: Das Image der USA als „sicherer Hafen“ und das Ansehen des Dollars sind beschädigt
Bruno Bandulet

Wer vor kurzem noch zwischen Hudson River und Brooklyn Bridge durch das untere Ende von Manhattan spazierte, konnte die Symbole der US-Finanzhegemonie und zugleich das Herz des internationalen Finanzsystems bestaunen: die altehrwürdige New Yorker Börse, die Hochhäuser der Banken, das neue Hauptquartier der Nasdaq, die Warenterminbörse New York Mercantile Exchange und das alles überragende World Trade Center.

Merkwürdig, wie der Schlag der Terroristen ein System traf, das längst nicht mehr in voller Blüte stand. Die Kurse an der Nasdaq waren schon zusammengebrochen, riesige Vermögenswerte waren bereits vernichtet, Japan steht am Rand des Kollaps, Argentinien vor der Pleite - nur die US-Wirtschaft selbst zögerte noch vor dem endgültigen Abtauchen in die Rezession. Insofern brachte der 11. September zwar einen epochalen geopolitischen Einschnitt, aber nicht unbedingt eine haarscharfe Zäsur für die Finanzmärkte. Das internationale Finanzsystem ist ähnlich vernetzt wie das Internet, es könnte theoretisch auch ohne das Zentrum in Manhattan weiter funktionieren. New York ist nicht identisch mit der realen amerikanischen Wirtschaft - sie ist in höherem Maße dezentralisiert, als viele in Europa annehmen. Und verglichen mit der Größe der amerikanischen Volkswirtschaft (sie produziert im Jahr für zehn Billionen Dollar) nehmen sich die materiellen Schäden der Terrorangriffe ziemlich bescheiden aus. Die Kraftreserven des Landes, auch die mentalen, sind enorm.

Gleichwohl wird der Angriff auf die USA die finanzielle, politische und partiell auch die wirtschaftliche Landschaft nachhaltig verändern, nicht nur in den USA. Die Konsequenzen werden erst nach und nach deutlich werden:

Das Image Amerikas als „sicherer Hafen“ ohne jegliches Länderrisiko, aber auch das Ansehen des Dollars als beste aller Währungen sind beschädigt. Die Weltreservewährung wurde entzaubert. Gut vorstellbar ist, daß die Bereitschaft des Auslandes, in den Dollar zu gehen und das enorme Leistungsbilanzdefizit der USA durch Kapitalimporte immer wieder aufzufüllen, abnehmen wird. Den USA fehlen in der Ertragsbilanz über 100 Milliarden Dollar pro Quartal. Sie benötigen also täglich Kapitalimporte von über einer Milliarde Dollar. Bleiben diese aus, vermindern sie sich auch nur fühlbar, dann muß der Dollar absacken. Man darf auch nicht vergessen, daß sich amerikanische Wertpapiere in einem Volumen von 8.000 Milliarden Dollar in ausländischen Händen befinden - eine enorme Summe, die sich innerhalb von nur vier Jahren verdoppelt und damit den Boom an den US-Börsen angeheizt hat.

Bei den Anlegern wird die Risikoaversion eindeutig zunehmen. Sie werden keine Lust mehr auf die üblichen spekulativen Geschäfte verspüren. Sie werden ihre Mittel vorzugsweise am Geldmarkt, in Anleihen und im Gold parken. Das ist ausgesprochen schlecht für das Geschäft der Banken und der anderen Finanzdienstleister. Auf den Casinokapitalismus kommen magere Zeiten zu. Immerhin hat bis zum 11. September allein der New Yorker Finanzsektor 2,7 Prozent des US-Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet.

Zunächst kann die Katastrophe nur negative Auswirkungen auf die US-Wirtschaft und damit auch auf Europa haben. Vor allem, weil die amerikanischen Verbraucher nach dem Einbruch der Investitionen die letzte Stütze der Konjunktur abgaben und jetzt wohl mehr sparen und weniger ausgeben werden. Allein eine solche Änderung des Verbraucherverhaltens würde Amerika in der jetzigen Situation in die Rezession stürzen. Hinzu kommt die Wechselwirkung zwischen schlechter Börsenpsychologie und realer Wirtschaft.

Gleichzeitig werden die Notenbanken für längere Zeit, als bisher absehbar war, bei einer Politik des leichten Geldes bleiben. Die USA werden aufrüsten, auch Deutschland wird wohl das Verteidigungsbudget erhöhen müssen. Die Haushaltsdisziplin tritt in den Hintergrund - nicht nur in den USA, auch in Europa und erst recht in Japan. Die Chance, daß der Stabilitätspakt, der zur kosmetischen Verschönerung des Maastrichter Vertrages beschlossen wurde, künftig noch honoriert wird, steht nicht besonders gut. Schließlich leben wir unter dem Regime eines Papiergeldstandards, und Papiergeld ist seinem Ursprung nach nichts anderes als Kriegsgeld. Der moderne Papiergeldstandard wurde unmittelbar nach dem 1. August 1914 eingeführt. Wären die europäischen Mächte beim Goldstandard geblieben, hätten sie den Krieg bis Weihnachten beenden müssen, weil die Kassen leer gewesen wären. So aber konnte und kann man nach Belieben finanzieren, was politisch für notwendig gehalten wird.

Der 11. September hat die Rückkehr der Geopolitik eingeläutet. Die Lieblingsidee der Globalisierungsgegner, daß die Wirtschaft die Politik dominiere, wurde ad absurdum geführt. Im Falle Amerikas hat das ohnehin nie ganz gestimmt. Jetzt werden wirtschaftliche Interessen, auch das Interesse an der Geldwertstabilität, wieder klarer als zuvor der Politik untergeordnet. Jetzt rächt es sich, daß die EU als eine saft- und kraftlose Wirtschafts- und Währungsunion konzipiert wurde. Sie kann auf der Weltbühne nicht mitspielen, allenfalls einzelne ihrer Mitglieder in der Rolle als US-Satelliten.

Die Gesamtlage ähnelt immer mehr der der siebziger Jahre. (Hoffentlich nicht der der dreißiger Jahre.) Es ist ein Szenario der Stagflation, also einer zähen Kombination von Inflation und stagnierendem Wachstum, ein Szenario fallender oder langfristig maroder Börsen, ein Szenario von Ölkrisen und kriegerischen Konflikten vor allem im Nahen und Mittleren Osten. Wie schlimm es wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die USA ihre überlegene Militärmacht weise oder willkürlich einsetzt.

Wenn wir obendrein ins Kalkül ziehen, daß in den USA Verbraucher und Unternehmen stark überschuldet sind, daß die Börsenkrise den Immobilienmarkt noch nicht einmal erfaßt hat, daß die japanische Regierung nach realistischen Berechnungen mit 250 Prozent des Bruttosozialproduktes verschuldet ist und daß die japanische Dauerkrise auf einen katastrophalen Höhepunkt zusteuert, daß der letztendliche Konkurs Argentiniens mit den üblichen Dominoeffekten nahezu unausweichlich ist, daß sich gerade Deutschland als stärkste europäische Volkswirtschaft in einem beklagenswerten Zustand befindet und daß der Euro seinen wirklichen Feuertest noch keineswegs bestanden hat - wenn wir das alles berücksichtigen, dann wird klar, daß wir mit einer hochexplosiven Gemengelage konfrontiert sind. Wie ironisch, daß ausgerechnet Rußland in hohem Maße immun und der relative Gewinner sein wird. Wir werden sehr viel Glück brauchen, um die nächsten Jahre halbwegs heil zu überstehen. Die unbeschwerten 1990er sind passé. Der 11. September war ein böses Omen für dieses Jahrzehnt.

 

Dr. Bruno Bandulet ist Herausgeber des renommierten Finanzdienstes „G&M“ und des „Deutschland-Briefes“.


 
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