© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Pankraz,
R.M. Rilke und die Schönheit des Teufels

Selten ist Pankraz die stets mögliche Differenz zwischen moralischer und ästhetischer Bewertung einer Sache so deutlich geworden wie bei dem Anschlag auf das World Trade Center in New York. Es war eine ruchlose Tat, die zum Himmel schreit, aber für den gebannten Fernsehzuschauer hatte das Geschehen dennoch ästhetische Qualitäten, und zwar ganz außerordentliche. Selbst wer sich mit Händen und Füßen gegen solche Einsicht wehrte, mußte ihr am Ende Tribut zollen.

Schon die immer wieder ikonenhaft vorgeführte Sequenz mit dem Flugzeug, das in den Südturm des WTC hineinrast, um auf der anderen Seite als riesiger Feuerball wieder herauszukommen, entfaltete eine unheimliche Faszination. Der Himmel war blau, der Turm erstrahlte in makellosem Weiß, die Kurve, die das Flugzeug unmittelbar vor dem Aufprall beschrieb, war elegant und von spielerischer Grazie. Kein noch so raffinierter Kunstfilm hätte es besser machen können.

Aber auch die Logistik des Anschlags, wie sie im Laufe der Übertragungen offenbar wurde, war - ästhetisch-mathematisch betrachtet - ein Meisterwerk. Hier war mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielt worden, nicht zuletzt an symbolischer. Die Endformel der Operation war von äußerster Knappheit, genau wie es die mathematische Ästhetik vorschreibt. „Williams Rasiermesser“, benannt nach dem Nominalisten William von Occam: Der einfachste und kürzeste Weg zum Ziel ist immer der schönste.

Wie gesagt, kein moralisches Entsetzen, kein mitleidender Gedanke an die Qualen der Opfer konnte den widerwillig anerkennenden ästhetischen Subtext aus der Welt schaffen. Sind das Gute und das Schöne vielleicht doch zwei völlig verschiedene Welten, Platon und der klassischen Theorie zum Trotz, denen zufolge die beiden aufs engste zusammengehören, zwei Seiten ein und derselben Medaille?

Es gibt ja tatsächlich die „romantische“ Gegentheorie. „Das Schöne ist alles Schrecklichen Anfang“, dichtete Rilke in den Duineser Elegien, eine Gleichung, die man umdrehen kann: Der Anfang des Schreckens ist die Schönheit. Der Anfang allerdings nur! Was danach kommt, ist in der Regel weniger schön, der gleißende Blitz verwandelt sich in beißenden Qualm, unterm Blitz schimmernde Fassaden in rauchende Trümmer, die wunderbar glatte Strategieformel in Menschenopfer unerhört.

Das Fernsehen hat vorige Woche auch dies gezeigt, dazu freilich einen eruptiv einsetzenden, unendlich dröhnenden und nicht enden wollenden Kommentier- und Stellungnahme-Betrieb, der einen nun wiederum auf den Gedanken bringen konnte, das Gute sei möglicherweise alles Häßlichen Anfang. Wären die Bilder vom Anschlag selbst nicht so überwältigend eindrucksvoll und bleibend gewesen, das tausendkanälige Dauergeschwätz der Kommentatoren hätte sie in kürzester Zeit überspült und zum Verschwinden gebracht.

Während die Attentäter im Dunkeln blieben und dadurch die ästhetische Wirkung ihres moralisch unqualifizierbaren Tuns noch verstärkten (indem sie ihm den Reiz des Geheimnisses und des Rätsels gaben), tobte sich auf der anderen Seite der sich moralisch im Recht Befindlichen ein derartiger Karneval des Gesehen- und Gehörtwerdenwollens um jeden Preis, der Wichtigtuerei und der entfesselten Inkompetenz aus, daß darüber auch noch der allerletzte ästhetische Aspekt den Bach hinunterging.

Zuständigkeit und mediale Präsenz schlossen sich gegenseitig aus. Diejenigen auf der Seite des Guten, die an den Schalthebeln sitzen und reagieren müssen, machten sich verständlicherweise rar, sie hatten Wichtigeres zu tun; die Schirme bevölkerte statt ihrer eine Schar aus selbsternannten Experten, auf die in normalen Zeiten niemand hört, und ehemaligen, längst pensionierten Funktionsträgern jeglicher Couleur, die die Gelegenheit, sich wieder einmal in Erinnerung zu bringen und damit ihr Rentnerdasein zu erheitern, mit geradezu geiler Begeisterung aufgriffen.

Da sie aber nichts oder verschwindend wenig zu sagen hatten und die Realnachrichten, die die Runden wenigstens momentweise belebten, immer spärlicher flossen, saß man bald einfach nur da und stellte sich selber aus. Der Ernstfall verwandelte sich in ein Veteranentreffen mit Kaffee und Kuchen, das den Anhängern der romantischen Schönheits-Ästhetik wieder einmal zur Bestätigung ihrer Theorie diente. Hatte doch schon Lautréamont gespottet: „Das Gute trägt Zipfelmütze und Wadenschoner, es lohnt sich nicht für die Kunst.“

Ganz so einfach, findet Pankraz, sollte man es sich aber nicht machen. Es stimmt zwar, die Kunst lebt von der Darstellung des Bösen. Jedoch - und das stimmt eben auch - in den meisten Werken wird der Sieg des Guten zumindest angepeilt, das Böse gewinnt seine ästhetische Faszination immer vor der Folie des Guten, auch wenn dieses nur als Potenz und Hoffnung anwesend ist und seine spezifische Schönheit deshalb verborgen bleibt.

Das Schöne ist die Aura, der „Hof“ des Guten, sagt Platon. So wie der Mond in manchen Nächten einen „Hof“ mit sich führt, eine schimmernde Aura, die oft auch zu sehen ist, wenn der Mond selbst sich hinter Wolken verbirgt, und die sich im Dunkel der Nacht verliert, so verliert sich auch das Schöne im Dunkel des Bösen und bezieht von daher - scheinbar - einen zusätzlichen, zweideutigen Glanz.

Es entsteht die berühmte beauté du diable, die Schönheit des Teufels, keine Einbildung, sondern eine unbestreitbare Tatsache. Man kann sie aber nur dann mit dem Schönen selbst verwechseln, wenn die Mondgesichter des Guten sich allzu lange hinter Wolken verstecken, rentnerhaften Wortwolken, unpräzisen Ideologemen, anmaßungsvollen Einbildungen. Das ist dann die Stunde der Attentate und des wahren Schreckens.


 
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