© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
756 Kulturen auf einen Blick
Werner Olles

Zum 60.Geburtstag von Eckhard Henscheid am 14. September ist eine Sammlung des Autors mit „Kleinodien des schlechten Sprachgeschmacks“ (FAZ) erschienen. Als Indizienbeweise eines Medien-, Psycho-, Betroffenheits- und Bürokratendeutschs künden diese von Henscheid seit über zehn Jahren „aus sozialer Verantwortung“ akribisch dokumentierten Fundstellen von der nur bedingten Zurechnungsfähigkeit unserer Feuilletonisten, Politiker und Professoren, aber auch von einer sich aus kulturfernen Kreisen unserer „vorandumpfenden“ (Henscheid) Gesellschaft speisenden amöbenhaft verbreitenden Kulturepidemie.

„Alle 756 Kulturen. Eine Bilanz“ nennt der Autor sein Büchlein und beginnt recht bodenständig mit der „Abendländischen Kultur“, um dem amüsierten Leser dann sage und schreibe sämtliche 756 Spezial- und Partialkulturen geduldig und engagiert zur Lektüre anzuempfehlen. Waren es in der „Dummddeutsch“-Ausgabe von 1992 gerade einmal neun Kulturen von der „Angstkultur“ über die „Lachkultur“ bis hin zur unvermeidlichen „Schamkultur“, konnte er in seinem „Obszönitäts“-Buch vom Frühjahr 2000 immerhin schon 276 vorweisen. Aber jetzt sind - offenbar eingedenk der dezisionistischen Aufforderung unserer bis an die Schneidezähne mit geschwollener Intellektualität bewaffneten Kulturarbeiter: „Mehr Kultur!“ (Befehlskultur?! d.V.) - tatsächlich noch einmal dreihundert Kulturen hinzugekommen.

Und Henscheid läßt sie alle Revue passieren, um sie dann wettkämpferisch gegeneinander antreten zu lassen. Einen ehrenvollen zwölften Platz bei diesem Kultur-Grand-Prix erreicht die von Ex-Kulturstaatsminister Naumann „im Auschwitzmonumentzusammenhang in Veranschlagung gebrachte ’Erinnerungskultur‘“. Platz sieben belegt die von der ehemaligen Grünen-Chefin Gunda Röstel inaugurierte „Kultur des Sich-Vermittelns“, während Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mit seiner „Entfeindungskultur“ nach dem Ignatz-Bubis-Preis auch unangefochten den Kultur-Grand-Prix einstreichen konnte und damit einmal mehr bewies, daß er es auch als Autor sterbenslangweiliger Streitzeitschriften garantiert zu einigen Meriten gebracht hätte.

Daneben gibt es - wer hätte das gedacht? - noch eine „Schwitzkultur“, eine „Zuhörenskultur“ und sogar eine „Zynismuskultur“. Letztere aber nur als (illegitimen?) Teil der „Spaßkultur“. Und lesen muß man dieses neue Henscheidsche allein schon wegen der „Lese-“ und „Sprachkultur“. Werner Olles

 

Eckhard Henscheid: Alle 756 Kulturen. Eine Bilanz. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2001, 121 Seiten, 17 Mark


 
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