© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Das Gewissen Europas
Der französische Nobelpreisträger Romain Rolland während des Ersten Weltkriegs
Wolfgang Müller

Was tun mit dem Zwangsumtausch? Eine Frage, die sich dem West-Berliner bis 1989 regelmäßig stellte, wenn im „Paradies der Werktätigen“ der Tag zur Neige ging und er zurück mußte in sein kapitalistisches Gefängnis. Eine HO-Gaststätte aufsuchen und fünf Portionen Soljanka bestellen? Dann schon lieber in die nächste Ernst-Thälmann-Buchhandlung. Zwischen bulgarischen Novellen und den gesammelten Reden des Staatsratsvorsitzenden ließen sich dort manchmal Bücher finden, die ihre deutsch-demokratische Mark wert waren. „Das Gewissen Europas“ zum Beispiel, die dreibändige Ausgabe der Tagebücher Romain Rollands aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Ost-Berliner Verlag Rütten & Loening hatte die 2.000 Seiten 1983 vor allem deshalb auf den Markt gewuchtet, um Rolland im Propagandakrieg um die Nato-Nachrüstung als „bürgerlichen Humanisten“ zu vereinnahmen. Als der Verlag 1987 auf diesem Feld selbst nochmals nachrüstete und den 1.500seitigen Briefwechsel Rollands mit Stefan Zweig publizierte, hieß es in der Einleitung deshalb ganz unumwunden: Wer müsse nicht „aktualistisch an Reagan“ denken, wenn er lese, wie Rolland 1924 von den USA spreche als von „diesem Koloß an Macht, diesem Nichts an Denken, dieser moralischen Lüge: Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend, Menschlichkeit - alles Lüge“.

Eine westdeutsche Entsprechung zu Rollands politisch bedingter DDR-Rezeption hat es nie gegeben - obwohl die Deutschen, die bis in die dreißiger Jahre hinein die eifrigsten Leser seines Bildungsromans „Jean Christophe“ und seiner musikhistorischen Essays waren, Rollands internationalen Ruf überhaupt erst begründeten und so wesentlich dazu beitrugen, daß ihm 1915 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.

Da es inzwischen aber selbst in seinem Heimatland recht still um Rolland geworden ist, muß verwundern, daß ein junger Deutscher, der an Fachhochschule Wuppertal lehrende Michael Klepsch, erhebliche Mühe darauf verwendet, uns mit einem fast vergessenen französischen Autor bekannt zu machen. Allerdings nicht mit dem Romancier, Dramatiker und Biographen Rolland, dessen Werk den Problemen seiner Zeit so stark verhaftet blieb, daß sich heute nur noch die Antiquare dafür interessieren. Vom politischen Publizisten Rolland scheint dagegen, wie einst zu DDR-Zeiten, immer noch ein Reiz auszugehen.

Tatsächlich scheint auch Klepschs Interesse selbst vordergründig politisch im „aktualistischen“ Sinn. Denn er fragt nach den Auswirkungen des „extremen Nationalismus“. Rolland, der während des Ersten Weltkrieges von der Schweiz aus die Regierungen in Paris und Berlin, vor allem aber die in die Kriegspropaganda involvierten deutschen und französischen Intellektuellen attackierte, dient Klepsch nur als Exempel dafür, wie ein „Kritiker der nationalistischen Kriegspolitik“ zum Feind, primär, von den Nationalisten im eigenen Land, zum „inneren Feind“ erklärt wird. Daß ein westdeutscher Doktorand, angeregt noch dazu von einem Großordinarius wie Wolfgang J. Mommsen (Düsseldorf), der wohl zeitlebens den politischen Umfall seines Historiker-Vaters nach 1933 „bewältigte“, wieder einmal die „Nachtseiten“ des Nationalismus aufdecken will, ist nicht weiter verwunderlich. Daß ihn die Wahl des Themas dabei primär zum französischen Nationalismus führt, ist schon weniger alltäglich. Dies verdient um so mehr Beachtung, wenn man Klepschs Opus mit Kurt Flaschs gleichzeitig veröffentlichter Kompilation zum „Krieg der Geister“ ab 1914 (JF 27/00) vergleicht. Flasch kam über die „germanozentrische“ Position nie hinaus. Klepsch präsentiert hingegen endlich einen polemischen Prozeß der Wechselwirkungen von Aktion und Reaktionen. Und er beschreibt die Zentren der „geistigen Landesverteidigung“ in Paris und London, die die „nationale Raserei“ wirksamer als in Deutschland organisierten.Bis 1916 hatte das Londoner Wellington House, wo die britische Literatenelite, von Arthur Conan Doyle bis H. G. Wells, stolze sieben Millionen Exemplare einschlägiger „Anti-Hunnen“-Bücher, Broschüren usw. in 17 Sprachen über den Erdball gestreut. Die Stimmung war in Frankreich so aufgeputscht, daß „unpatriotische“ Abweichler ihres Lebens nicht sicher sein konnten. Der kurz vor Kriegsausbruch ermordete Sozialistenführer Jean Jaurès wirkte als Menetekel. Wie ein Vorläufer Salman Rushdies hielt Rolland sich darum lieber in sicherer Entfernung von seinen fanatisierten Landsleuten auf. Eine Lynchatmosphäre übrigens, die im deutschen Kaiserreich, in der Tradition des preußischen Rechtsstaates, ganz undenkbar war.

Für die Einblicke in diese militarisierte Gesellschaft, die auf Rollands moderate Töne mit Haß- und Verleumdungsorgien reagierte, muß man Klepsch dankbar sein. Auch dafür, daß er aus seinem Helden keinen pazifistischen Heiligen macht. Rolland hat sich zwar gegen den von der kulturellen Elite Frankreichs propagierten „Vernichtungskrieg gegen das kaiserliche Deutschland“ gewandt, „bei dem nichts und niemand verschont“ werden sollte. Die Beseitigung des „preußischen Militarismus“ hielt er jedoch für ein legitimes Kriegsziel. Ebenso sei er - wenigstens partiell - auf die alliierten Greuelmärchen über die kaiserliche Armee in Belgien („abgehackte Kinderhände“) hereingefallen, was sein negatives Deutschlandbild beeinflußte. Klepsch selbst neigt jedoch dazu, den belgischen Franktireurkrieg als Auslöser deutscher Reaktionen zu verharmlosen. Rollands publizistisches Engagement, das den Weg zum Verständigungsfrieden offen halten wollte, entsprang keineswegs jenem „Bruder Mensch“-Kosmopolitismus, für den Rolland unlängst von Klaus Thiele-Dohrmann vereinnahmt wurde (Die Zeit vom 30. August). Vielmehr leitete ihn ein geopolitisches Kalkül: die Furcht, daß die europäichen Vernichtungsstrategen den alten Kontinent zum Vorteil der von ihm verachteten US-Amerikaner unumkehrbar schwächen könnten. Klepsch zögert nicht, die seiner Ansicht nach „rassistischen“ Seiten dieses Europäismus zu beleuchten: Den Einsatz von Kolonialtruppen („les nègres d’Afrique et les Sikhs de l’Inde“) gegen das Land Goethes habe der feinnervige Abkömmling burgundischer Notabeln nur durch die Logik des Krieges („La guerre est la guerre“) gerechtfertigt gesehen.

Endlich ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte, der sich von der Nabelschau des bundesdeutschen Anti-Nationalismus emanzipiert. Darin liegt der große, wenn auch den Erkenntnisinteressen und politischen Intentionen des Verfassers vielleicht nicht entsprechende, im besten Sinne des Wortes aufklärerische Wert dieser Studie. Den mitunter penetranten sozialpädagogischen Wuppertaler Unterton von Klepsch und die vielen sprachlichen Ausrutscher verzeiht man deshalb gern. Ärgerlich ist nur das konfuse Literaturverzeichnis, das die zitierten Aufsätze nicht nennt, sowie zahlreiche Monographien einfach unterschlägt, aus denen sich der Verfasser ausweislich seiner Anmerkungen fleißig bedient hat. Nicht einmal der so unentbehrliche, häufig zitierte Briefwechsel mit Stefan Zweig findet unter den Schriften Rollands Erwähnung.

 

Michael Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2000, 312 Seiten, 57,30 Mark


 
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