© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001


Neulich im Internet
Der kälteste Tag
Erol Stern

Dienstag, 11.09.2001, später Nachmittag. Ein Kunde berichtet abscheuliche Dinge, die ich nicht glauben will. Um 18 Uhr Ladenschluß, ich mache das Radio an - bin wie gelähmt, die Kolleginnen auch. Am Telefon erfahre ich, daß ein Mitglied der Familie noch in Alaska festsitzt, eigentlich wollte er heute zurückfliegen. Ich kann es noch immer nicht fassen, muß Bilder sehen, um es zu glauben. Doch hier ist kein Fernseher, kein Internet. Ich steige in mein Auto ein und eile heimwärts, doch der Verkehr ist zäh, ich höre Nachrichten. Unterwegs passiere ich den Fernsehturm Alexanderplatz, die 365 Meter lassen mich erschaudern. Stau „Unter den Linden“ vor der US-Botschaft - Bombenalarm. Ich weiche aus, Minuten werden zu Stunden. Mein PDA ist noch nicht für Internet per Handy konfiguriert, ich wünsche mir einen Fernseher ins Auto. Telefonat mit der Redaktion: Ich ziehe meinen Beitrag über den „Red Bull-Flugtag“ zurück. Ich brauche nicht viel länger als sonst, dennoch erscheint die Fahrt endlos. Nach langer Parkplatzsuche endlich zu Hause, TV an; die Bilder lassen erstarren, es gibt keinen Zweifel mehr. Das Internet ist überlastet, die Homepage der Lufthansa zeigt kaum noch Reaktionen, ähnlich ist es bei MSNBC.com sowie CNN.com. Vermutlich laden sich Perverse die Videos herunter. Um zwei Uhr schlafe ich ein. Der nächste Morgen. Die Straßen sind leer. Die Gesichter auch. Feuerwehren mit schwarzen Bändchen an den Antennen. Das Radio läuft den ganzen Tag - manchmal das zuverlässigste Medium. Erol Stern


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