© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/01 28. September 2001

 
Die zweifelhafte Identität
Wolf Jobst Siedler über das heikle Privileg, ein Deutscher zu sein
Wolf Jobst Siedler

Vor ziemlich genau zweihundert Jahren verwunderte sich Goethe, daß kein Angehöriger der kleineren Nationen Europas auf den Gedanken komme, sich im Ausland als Deutscher auszugeben. Wann immer ein Däne oder Holländer in einem römischen Salon erscheine, wolle er Franzose oder Engländer sein, nie aber Deutscher.

So ist es im Grunde immer geblieben, es ist offensichtlich kein besonderes Prestige damit verbunden, unserer Nation anzugehören, oft übrigens bei gleichzeitiger Bewunderung des deutschen Geistes. Das war lange vor den beiden Weltkriegen so, und schon Friedrich Nietzsche hat dazu einige Bemerkungen gemacht.

Das mindere Prestige der Deutschen im Ausland kommt also nicht aus den Untaten des Dritten Reiches. Immer mußten die Deutschen mit ihrer geringeren gesellschaftlichen Achtung draußen umgehen, und noch heute bringt es mehr Ansehen, ein Brite zu sein oder der Grande Nation anzugehören, obwohl wir doch nicht nur der volkreichste, sondern auch der wirtschaftlich erfolgreichste Staat Europas sind.

Ein Deutscher spielt charakteristischerweise in französischen oder russischen Romanen eine eher komische, auf keinen Fall eine besonders ansehnliche Rolle; er ist, bei Balzac wie bei Dostojewski, meist ungeschliffen und oft tölpelhaft, vor allem, wenn er als Hauslehrer auftritt. Das fällt um so mehr ins Auge, als im Gegensatz dazu ein Franzose, den es nach Deutschland verschlagen hat, eine herausgehobene Rolle einnimmt, sei er ein Hugenotte oder ein Refugié, was etwa bei Fouqué oder Fontane von vornherein eine gewisse Überlegenheit signalisiert.

Sehr oft rühmt man sich während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts, ein Flüchtling aus Frankreich zu sein. Man hat auch, in Potsdam wie in Berlin, seine eigenen französischen Kirchen oder sogar Dome und verkehrt in Gemeinden, die durch ihre mit Stolz bewahrte Herkunft und oft auch noch nach Generationen gemeinsame Sprache zusammengehalten werden. Dergleichen ist von Deutschen in England oder Rußland kaum bekannt. Erst die Emigration aus dem Land Hitlers brachte ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl der Flüchtlinge hervor, nun wurde die Bezeichnung „Emigrant“ so etwas wie ein Ehrentitel.

Nach dem letzten Krieg, als man durch die Vergangenheit belastet war, suchte der Besucher in New York mitunter einen Ausweg. Auf die Frage, was denn das Heimatland sei, antwortete man ironisch: „Prussia“. Das war eine Replik, die auf Verblüffung, Heiterkeit und schließlich Beifall stieß. Die Deutschen waren der Welt zumindest seit den beiden Weltkriegen dubios, aber das alte Preußen war der Staat gewesen, der die Vereinigten Staaten als erster diplomatisch anerkannt hatte, und das kam fast gegen das französische Geschenk der Freiheitsstatue an. Davon zehrten die Deutschen zumindest ein Jahrhundert.

Aber in der Geschichte geht ja vieles kunterbunt durcheinander. Man hatte Sympathie für das alte Preu-ßen, das in seiner Redlichkeit und Rechtlichkeit ein Gegensatz zu der Welt Hitlers gewesen war. Aber man sah in Preußen doch auch eine Quelle des Unheils, das über die Welt gekommen war, des vermeintlich typisch preußischen Kadavergehorsams, der Militarisierung auch des Zivillebens, die im schnarrenden Kasinoton der Gardeoffiziere oder im schneidigen Umgang der studentischen Korps zur Karikatur geworden war. Zwei Jahre nach dem totalen Kollaps Deutschlands schaffte man Preußen 1947 staatsrechtlich kurzerhand ab, sonderbarerweise bei gleichzeitiger Bewunderung preußischer Ordnung und auch Philosophie, die mit Kant das Denken Europas beflügelt hatte.

Nach der Wende versammelten sich in einem Dahlemer Garten früher sowjetische, jetzt russische Botschafter wie Julij Kwizinskij, Oleg Grinevskij und Valentin Koptelzew. Natürlich sprach man zumeist über das Schicksal Rußlands. Den Untergang der Sowjetunion behauptete man mit einigen Schwierigkeiten verwinden zu können, das Auseinanderbrechen des alten Großrußland aber, wie es seit Peter dem Großen bestanden hatte, war ganz offenkundig ein Gegenstand des tiefsten Schmerzes. Über den Abfall der mittelasiatischen Republiken kam man noch am leichtesten hinweg, die Welt des Kaukasus aber, wo einst Puschkin als junger Offizier Dienst getan hatte, war für ihr Gefühl seit dreihundert Jahren ein Teil Rußlands gewesen. Daß das alte Kurland und Livland als baltische Republiken selbständig geworden waren, wollte man nicht als das letzte Wort der Geschichte nehmen, und tut das im Grunde auch heute nicht.

Es konsternierte diese russischen Diplomaten, daß die Deutschen ihrerseits so schnell über den Verlust ihrer östlichen Provinzen hinweggekommen sind und Ostpreußen wie Schlesien ganz aus ihrer Erinnerung getilgt haben.

Ist man stolz, ein Deutscher zu sein? Das ist in der Tat eine schwierige Frage, nicht leicht zu beantworten. Für den Franzosen oder Briten ist die Antwort auf eine solche Frage ganz selbstverständlich, bei allen Schwierigkeiten mit den Korsen und Bretonen und den Unabhängigkeitsbestrebungen der Iren und Schotten, die ja seit jeher darauf pochen, eine eigene Nation mit einem eigenen Land zu sein. Aber begriff sich der Bayer von vornherein als Deutscher, und sahen - und sehen - die Rheinländer wirklich in Berlin ihre Hauptstadt? Das macht ja die Crux zum Beispiel eines Wiederaufbaus des Berliner Stadtschlosses aus, daß sich an den grandiosen Bau Andreas Schlüters niemals ein deutsches Nationalgefühl geheftet hat.

Man hatte ja seine eigenen Schlösser in München wie in Stuttgart, in Weimar wie in Darmstadt, und es war nicht nur eine Marotte Ludwig II., daß er der Berliner Reichsseligkeit mit Fremdheit gegenüberstand, weshalb ihm erst die Zusicherung geheimer Subsidien aus der Kriegsbeute des 66er Krieges (des berühmten Welfenschatzes) dazu brachte, seinem preußischen Vetter die Kaiserkrone anzutragen. Das erst sehr langsame, allmählich immer schnellere, dann völlige Aufgeben des föderalen Lokalstolzes in ein übergreifendes reichsdeutsches Selbstgefühl wird in den Tagebüchern der Baronin Spitzemberg greifbar.

Jahrhundertelang heftete sich das Gefühl der Deutschen an die überschaubare kleine Welt im Nächsten. Die thüringischen oder hessischen Herzogtümer waren das Konkrete, während das Deutsche immer ein wenig wolkig blieb, der Welt der „Kulturnation“ angehörte. Beim Anblick des Straßburger Münsters kamen noch Friedrich Meinecke die Tränen, und die Marienburg in Westpreußen wurde im 19. Jahrhundert so etwas wie eine geheime Inkarnation vom mittelalterlichen Glanz des Ordensstaates. Aber das hatte mehr mit der „Reichsidee“ zu tun als mit konkretem Nationalgefühl; das Gefühl lebte im Nächsten oder im Fernsten.

Der Föderalismus, den die Siegermächte 1945 den Deutschen verordneten und den diese sich inzwischen zutiefst zu eigen gemacht haben, entspricht der älteren Tradition der Deutschen. Mit dem Nationalstaat wußte man nie viel anzufangen. Wir alle waren „fritzisch“ gesinnt, heißt es bei Goethe in seinen Erinnerungen - „fritzisch“, aber nicht preußisch. Im politischen Raum gehörte man weiter der freien Reichs-stadt Frankfurt an und wollte mit dem so erfolgreichen Großstaat im Osten des Reiches nie viel zu tun haben.

Es ist also sehr zweifelhaft mit dem deutschen Nationalgefühl bestellt, zumindest ganz anders als mit dem Frankreichs oder Englands oder auch Polens. Sobald sich aber der Deutsche im Ausland bewegt, empfindet er sich sehr stark als Deutscher. Nie würde er auf den Gedanken kommen, sich auf jene Frage in New York als Badener oder Sachse oder Mecklenburger zu erklären. Dann ist er auf einmal Deutscher, und er will es sein.

In diesem Sinne gibt es eben doch eine „Leitkultur“, die sich zuerst auf die deutsche Sprache bezieht. Der Italiener ist auch nach einem dreiviertel Jahrtausend stolz, die Sprache Dantes zu sprechen, auch wenn er nie eine Zeile der „Divina Commedia“ gelesen hat, und der Engländer beschlagnahmt nach fünfhundert Jahren noch Shakespeare ohne Skrupel als den Seinen. Soll da der Deutsche zögern, sich im Geist der Weimarer Klassik wiederzuerkennen? Goethe ist tatsächlich ein Nationaldichter, welchen Beitrag Luther auch immer für die Ausbildung der deutschen Sprache getan hat, die von so vielen, Nietzsche voran, dann im Laufe der zwei Jahrhunderte seitdem bereichert worden ist.

Natürlich gibt es eine deutsche Leitkultur, und die Ängstlichkeit, damit umzugehen, spricht nur von der Brüchigkeit der deutschen Substanz. Vielleicht hat Friedrich Merz daran gar nicht gedacht, als er die Formel gebrauchte, die so viel Aufregung hervorgerufen hat, aber Angela Merkel sollte sich nicht in die Enge treiben lassen. Sie tut recht daran, mit weiblicher Hartnäckigkeit ihm an die Seite zu springen.

Es könnte ja sein, daß der verquere Zustand des deutschen Selbstgefühls gerade das eigentlich Zukunftsweisende und Moderne ist. Vielleicht gehört der Nationalstaat überall dem gerade abgelaufenen Jahrtausend an?

 

Wolf Jobst Siedler, 75, ist Verleger und Publizist. Er war Feuilleton-Chef des Berliner „Tagesspiegel“ (1955-1963), danach Leiter des Propyläen-Verlages und von 1967 bis 1979 Vorsitzender des Direktoriums der Verlagsgruppe Ullstein. 1983 gründete er den Wolf Jobst Siedler Verlag, der inzwischen im alleinigen Besitz der Bertelsmann-Gruppe ist.


 
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