© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/01 05. Oktober 2001

 
Pankraz,
H. von Hentig und die Pause vor der Vergeltung

Übers Rachenehmen wird in diesen Wochen viel gesprochen, über Rache und „Vergeltung“. Nicht nur christlichen Theologen ist dabei unwohl, auch vielen biederen Zeitgenossen, die sich in ihrem Leben vorgenommen haben, möglichst gegen das Böse zu sein, sich immer auf der Seite des Guten zu halten.

Denn fast alle Vokabeln, die in der Diskussion vorkommen, gehören ins Wortfeld des Bösen: die Schmerzen und Beschädigungen, die beim Vergelten ausgestreut werden sollen, die privaten oder kollektiven Katastrophen. Es erhebt sich die Frage: Kann jemand, der derlei Greuel androht, wirklich ungerührt von sich behaupten, er repräsentiere das Gute, verkörpere es geradezu, er sei das Gute, Gottes Stellvertreter auf Erden? Was ist denn das für ein Gutes, das sich aus lauter Übeln zusammensetzt, das sein Gutsein gerade dadurch belegen will, daß es Übel produziert?

Solche Fragen sind selbst dann berechtigt, wenn es sich bei denen, die die Vergeltung treffen soll, unbezweifelbar um schlimme Sünder handelt, kaltblütige Mörder und grausame Terroristen. Wenn sich das Gute einzig durch die Verhängung von Übeln vor dem Übel schützen läßt, so erkennt es das Übel, das Böse, ja nicht nur als quasi gleichberechtigte Weltmacht an, sondern eigentlich sogar als überlegene Macht. Es selbst, das Gute, verfügt nicht über ein eigenes, den Regeln der Güte folgendes Abwehr- und Pazifizierungs-Instrumentarium. Es muß Gleiches mit Gleichem, also Übel mit Übel, Böses mit Bösem vergelten.

Ist Strafen identisch mit Vergelten? Nun, zumindest die Rhetorik der strafenden Instanzen hat sich kaum je von der Rhetorik erklärter Vergelter unterschieden. Durch alle Zeiten, bis direkt an unsere jüngste Gegenwart heran, haben Strafen immer nur ein einziges Ziel gehabt: eben Vergeltung. Die Waage der Gerechtigkeit war aus dem Gleichgewicht, und die Strafe brachte sie wieder ins Lot, eine andere Funktion hatte sie nicht, keine Erziehungs-, keine Besserungs-, nicht einmal eine Abschreckungsfunktion.

Einzig Vergeltung und Rache waren angesagt, wobei diese, wie ja auch der deutsche Wortstamm nahelegt, in ursprünglichen Gesellschaften durchaus in Richtung Vergeltung und strafende Gerechtigkeit geregelt war - als Blutrache. Die Sippe, aus deren Reihen einer getötet worden war, zog nicht aus zu blindwütigem Exzeß, sondern versuchte, ihrerseits einen aus der Gegensippe zu töten, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Hans von Hentig vertritt in seinem berühmten Buch „Die Strafe. Ursprung, Zweck, Psychologie“ (Stuttgart 1932) die These, daß selbst die bei den Naturvölkern bevorzugte Strafe der Friedlosmachung, der Entfriedung, einzig und allein auf der Vorstellung der Wiederherstellung eines Gleichgewichts beruhte, das der Sünder aus dem Lot gebracht hatte. Er hatte den Frieden der Gesamtgemeinschaft bedroht - also wurde ihm durch die Ausstoßung aus dem Stammesverband, durch die Hinausstoßung in die Wildnis, exakt jenes Maß an Friedlosigkeit zurückgegeben, das er über die Gemeinschaft gebracht hatte.

In Wirklichkeit wurde natürlich gerade in diesem Falle ein horrendes Ungleichgewicht hergestellt. Denn der friedlos schweifende Verurteilte war in jenen Zeiten außerhalb der Gemeinschaft unweigerlich dem Tode preisgegeben. Kaum anders verhielt es sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit mit den vielen Stadt- oder Dorfverweisen. Der aus der Stadt bzw. dem Dorf Ausgestoßene fand kaum lebenserhaltende Aufnahme in anderen Gemeinden, besonders wenn er - was meist der Fall war - gezeichnet war durch Brandmale, durchstochene Backen, abgeschnittene Ohren usw.

Diesen Leuten blieb faktisch gar nichts anderes übrig, als sich zu Räuberbanden zusammenzuschließen und die Wege und Wälder unsicher zu machen. Wenn sie dann als Räuber noch einmal geschnappt wurden, drohte ihnen das grausamste Todesurteil: Ihnen wurden zunächst sämtliche Knochen im Leib zerbrochen, und dann wurden sie lebendig aufs Rad geflochten, den Raben zum Fraß.

Rächen, vergelten, strafen - das war immer ein asymmetrisches Geschäft und wird es bleiben. Aber man kann zumindest Ursachenerforschung betreiben, und genau darauf beruht die Würde dessen, was man „Gericht“ nennt (im Gegensatz zum urteilslos zuschlagenden Rächer). Jede böse Tat, auch die böseste, hat eine Ursache, und die muß in jede seriöse Gerechtigkeitsabwägung eingehen, anders ist Zivilisation nicht möglich.

Es gibt in zivilisierten Breiten keine Automatik des Schlagens und Gegenschlagens. „Rache ist mein, spricht der Herr“ - dieser Bibelspruch meint keineswegs, daß man überhaupt keine Gerechtigkeit üben, daß man ergeben darauf warten soll, daß den Sünder irgendwann mal eine Vergeltung „von oben herunter“ ereilt. Sondern er meint, daß zwischen Tat und Gegentat unbedingt eine Pause, gleichsam ein Atemholen der Gerechtigkeit, eingelegt werden muß. Das ist das Wesen des Gerichts und des Rechtsstaats: das Pausemachen zwischen Geschlagenwerden und Zurückschlagen.

Das Gericht legt Tat und Vergeltung auf die Waage der Gerechtigkeit, und das will Weile haben, Gelegenheit geben zum Ausstieg aus der Zufälligkeit und Wildheit der jeweils aktuellen Zusammenhänge, zum Einstieg in „ewige, heilige“ Gesetzeszusammenhänge. Jeder normale Gerichtsprozeß ist eine feierliche Handlung die sorgfältig vorbereitet wird. Die Rechtsfindung läuft nach sorgfältig festgelegten und genau exekutierten Ritualen ab, deren Sinn nicht zuletzt das Sichzeitlassen ist.

Summa summarum: Amerika hat sich nach den Anschlägen mit den „Gegenmaßnahmen“ Zeit gelassen, und es hat sich damit würdig von der dubiosen Figur des Rächers entfernt. Bleibt zu hoffen, daß auch die Maßnahmen selbst kein bloßes Draufschlagen, kein bloßes Friedlosmachen verzweifelter Desperados bleiben werden.


 
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