© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/01 05. Oktober 2001

 
Nicht gleich losmäkeln
Tradition auf jugendlichem Prüfstand: Mit drei Klassikern eröffnete Berlins Deutsches Theater die Ära Wilms
Hans-Jörg von Jena

Das Deutsche Theater in Berlin geht in seine 119. Spielzeit, es ist mit Recht stolz auf seine Kontinuität. Der Saisonbeginn bedeutet diesmal jedoch eine Zäsur. Thomas Langhoff, der verdienstliche Nach-Wende-Intendant, ist verabschiedet, mit ihm die Hälfte des bisherigen festgefügten Ensembles. Nachfolger Bernd Wilms, zuvor Intendant des Maxim-Gorki-Theaters, hat sein Amt angetreten, neue Namen suchen das Interesse auf sich zu ziehen.

Ob aus der Amtszeit von Bernd Wilms im tieferen Sinne des Wortes eine „Ära“ wird, kann sich erst im Laufe der Zeit entscheiden. Zunächst verdient der neue Theaterleiter eine Chance, die unbelastet bleibt von mäkligem Vorabwissen, daß ihm ohnehin nichts zuzutrauen sei. Dabei ist zweierlei zu bedenken.

Erstens: Das Deutsche Theater ist heute notgedrungen, was es in seiner langen Geschichte nur einmal, zu DDR-Zeiten, gewesen ist, nämlich das repräsentative hauptstädtische Schauspielhaus. In der ruhmreichen Epoche Otto Brahms und Max Reinhardts, während der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und auch noch während des Dritten Reiches unter dem die geistigen Maßstäbe hochhaltenden Heinz Hilpert hatte es im Preußischen Staatstheater einen Gegenspieler, der ihm die Funktion des oppositionellen Neuerers erlaubte. Indirekt waren ja sogar noch in den Jahrzehnten der Teilung das Schiller-Theater oder die Schaubühne im Westen der Stadt eine Konkurrenz. Tempi passati, die Zeiten sind vorbei. Heute muß das Deutsche Theater für die Wahrung der klassischen Überlieferung mehr oder weniger allein einstehen.

Und zweitens: Bernd Wilms inszeniert, anders als sein Vorgänger, nicht selber. Deshalb zieht er eine Crew von Hausregisseuren heran. Fast alle sind deutlich jünger als er, der Mittfünfziger, und es mag sein, daß er seine künftige Rolle nicht zuletzt als ein „Theatervater“ sieht, nicht ganz unähnlich der Kurt Hübners seinerzeit in Bremen und an der Berliner Freien Volksbühne. Ob und wie sich seine regieführenden Schützlinge bewähren, darüber gaben die ersten Premieren erste Auskünfte.

Der Reigen begann mit „Bluthochzeit“ von Federico Garcia Lorca, einer „lyrischen Tragödie“ (Untertitel) aus dem Jahr 1932. Zwei, die sich füreinander bestimmt fühlen, kommen nicht zusammen. Starke Mütter sorgen dafür, daß es nach Herkommen und Besitz geht, nicht nach bloßer Liebe. Er ist schon anderweitig verheiratet worden, sie wird es gerade. Da entführt er sie. Das endet tragisch. Im archaisch ländlichen Andalusien fordert die Famillienehre unerbittlich Blutrache.

Ein Bauerndrama, vom Stoff her Anzengruber, in seinen Mitteln jedoch visionärer Surrealismus, in seiner monumentalen Dichte so etwas wie südlicher Barlach. Konstanze Lauterbach hat das Stück inszeniert. Niemand wird von der Mittdreißigerin, die zuvor in Leipzig tätig war und mehrfach, auch bei Theatertreffen, vorteilhaft auffiel, die lastende Intensität eines Jürgen Fehling verlangen. Aber reicht es, wenn es szenisch überhaupt nicht gewittert? Wenn ausschließlich analysiert und arrangiert wird?

Die simplen Kulissen (Franz Kopperndorfer) sind zwar alle in Blutfarbe getaucht, aber die Personen scheinen in der fremden Welt ehrversessener Messerstecherei nicht heimisch. Das kann die tänzerische, bisweilen akrobatische Beweglichkeit der Braut (Anika Mauer) und des Entführers (Robert Gallinowski) nicht wettmachen. Der naive Tonfall und berlinerisch gefärbte Zungenschlag Margit Bendokats oder die kapriziöse Süffisanz Christine Schorns sind zudem in den Rollen der herrschsüchtigen Mütter fehl am Platz. Ein oft quälend langsames Tempo täuscht Bedeutsamkeit eher vor, als daß es sie zur Wirkung brächte.

Wesentlich besser gelang in den Kammerspielen die „Antigone“ des Sophokles. Dieses Mal hätte sie fast einen anderen Titel verdient. Mehr denn je nämlich wurde in der Inszenierung Peter Wittenbergs die 2.500 Jahre alte Tragödie zum Drama des Königs Kreon. Dieter Mann, ein Herrscher im Straßenanzug und eben erst unversehens an die Macht gekommen, dient glaubhaft dem Staat (nicht anders als schon im „König Ödipus“) und will keinen Fehler machen. Deshalb verbietet er die Bestattung des Antigone-Bruders, der als Verräter gegen die Heimatstadt Theben gekämpft hatte.

Da tritt ihm nun die unbequeme, unangepaßte Antigone entgegen. Glück des Abends, daß Inka Friedrich mit so viel großäugiger Ungebärdigkeit und gefühlsbetontem Stolz Kreon Paroli bietet! Das aus den modernen Adaptionen, wie wir sie von Jean Anouilhs oder Brecht kennen, geläufige Gegensatzpaar von „Widerstand“ und „Staatsräson“ trifft die Sophokleische Tragödie ja bestenfalls halb. Die antike Antigone ist Widerstandskämpferin nur insofern, als sie eine religiöse Pflicht erfüllt, die heute nicht unbedingt mehr nachzuvollziehen ist. Daß sie dafür den grausamen Tod der Aida und des Radames auf sich nimmt, bedeutet vielleicht keine geringere Hybris als die des Kreon.

Bravourös ist das heikle Problem des antiken Chors gelöst. Die großen sophokleischen Hymnen auf die Sonne, den Menschen oder die Macht des Eros werden verständlich artikuliert. Und vor allem: Es ist das Corps der Darsteller, das sich jeweils zum Chor zusammenfindet. So wie einst der einzelne Schauspieler aus dem Chor hervorging, so tritt er nun von Zeit zu Zeit wieder in ihn zurück, dabei zugleich seine Rolle verfremdend.

Des Hörsaal-Podiums im Hintergrund mit scheußlichen weißen Plastikstühlen hätte es dafür nicht bedurft, und schon gar nicht des funktionslosen Toiletten-Waschraums an der Bühnenseite (Bühne: Sascha Gross). Ein wenig Tanztheater hätte den chorischen Passagen weit besser angestanden und hätte Dieter Mann helfen können, den plötzlichen Umschlag in die Verzweiflung zu motivieren, der trotz lauten „Oimoi“-Geschreis bei dieser beherrschten, durchs Diskursive faszinierenden Persönlichkeit nicht ganz überzeugend wirkt.

An Einwirkungen des Tanztheaters mangelt es hingegen nicht bei Lessings „Emilia Galotti“, der dritten Premiere der Auftaktwoche. Mehr noch: Bewegungstheater tritt weitgehend an die Stelle des Lessingschen Textes. Damit desavouiert die Aufführung sich selbst. Regisseur Michael Thalheimer wußte im Vorfeld seiner Inszenierung über das Stück nur zu sagen, es sei „eiskalt“. Aber das stimmt ja nicht! Gewiß handelt es sich bei diesem bürgerlichen Trauerspiel um ein klassizistisch genau konstruiertes Drama. Aber aus der präzisen Mechanik des Vorgangs entspringen leidenschaftliche Menschen, erschaut von einem Dichter.

Hier freilich nicht. Hier sind wirklich alle eiskalt, beziehungslos, uninteressant. Denn das Medium des Menschlichen ist die Sprache, und die nimmt ihnen der Regisseur. Wie Models auf dem Laufsteg treten die Personen in steifer Haltung auf, bewegen sich zwischen hohen glatten Holzwänden (Bühne: Olaf Altmann) wie in einer hohlen Gasse an die Rampe, um dort mit seitwärts geneigtem Kopf Zuneigung, mit dem stupsenden Zeigefinger Kumpelhaftigkeit anzudeuten.

Lessings geformte Sprache scheint dem Regisseur geradezu peinlich, deshalb kommen seine Laufsteg-Marionetten weitgehend ohne sie aus. Wenn sie sich nicht ganz vermeiden läßt, wird sie durch rasenden Schnellsprech denunziert. Daß die Kunst nach Brot geht und Verführung die wahre Gewalt sei, solche Kerngedanken sind dem Rotstift zum Opfer gefallen. Aber auch im Ge-stischen gibt es verblüffend Unsinniges, etwa wenn Gräfin Orsina den Fiesling Marinelli betont abküßt.

Machtintrigen? Anklage einer unmoralischen Hofgesellschaft? Tragik und Tapferkeit verfolgter Unschuld? Von alledem nichts. Statt dessen zeigen sich alle Personen, die guten wie die bösen, lediglich als platt triebgesteuert. Emilia wird am Ende nicht einmal von ihrem Vater umgebracht, die Pistole (hier anstelle eines Messers) achtlos zur Seite geschoben. Emilia verschwindet einfach im Gewühl der Tanzenden, die aus den sich öffnenden Seitentüren zu der schmalzigen Dreivierteltaktmusik, die von Beginn an die Ohren zudröhnt, auf die leere Szene brechen. Offenbar fügt sie sich in das ihr vom Prinzen zugedachte Mätressenschicksal. Womit dem Stück endgültig der Hals umgedreht ist.

Es ist ein törichtes und anmaßendes Spektakel, das man mit Beklommenheit sieht. Hätte Wilms da nicht eingreifen müssen? Aber höher als der Wille des Autors steht ja heute - wie man spätestens seit dem Skandal um Peter Konwitschnys „Csardásfürstin“-Inszenierung in Dresden weiß - das „Urheberrecht“ der Willkür. Mit dem Ruin deutscher Klassik wird Wilms andererseits keinen Theatervater-Ruhm gewinnen. Auch wenn das Premierenpublikum alle Beteiligten, die filmprominente Nina Hoss (Orsina) hervorhebend, teilweise juchzend beklatschte. Feierte es da auch den Satz der Gräfin „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren“? Wohl nicht, denn vorsichtshalber war der auch gestrichen.

Lehrer seiner jungen Leute will und kann Wilms nicht sein. Da müßte er Noten geben. Versuchen wir es für ihn. Der moderne Klassiker hätte sich dann allenfalls ein „befriedigend“, der antike ein„ gut“ verdient. Unter Thalheimers freiwillig-unfreiwillige „Emilia Galotti“-Parodie aber gehörte nicht etwa ein „ungenügend“ oder ein bloßes „Thema verfehlt“, sondern das seltene „s.t.c.“, sub toto canone. Das heißt „unter aller Richtschnur“. Deutlicher noch und unverblümt: „unter aller Sau“.

 

Kartenbestellungen: Deutsches Theater , Schumannstr. 13 A, 10117 Berlin. Tel: 030 / 2 84 43 42 (Mo.-Fr. 11 bis 18 Uhr)


 
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