© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Fortschritt ins Grauen
von Alain de Benoist

Die modernen Ideolo gien sind profane Religionen. Sie stützen sich auf verweltlich te theologische Be griffe. Diese Feststellung gilt ganz besonders für die totalitären Systeme, deren tausendjährigen Anspruch und messianische Komponente in der Vergangenheit vor allem die christlichen Häresien vermittelt haben. Wie einige andere Autoren (Waldemar Gurian, Eric Voegelin, Jean-Pierre Sironneau) beschrieb Raymond Aron die modernen Totalitarismen als „politische Religionen“ oder „weltliche Religionen“, das heißt, als „Lehren, die in den Seelen unserer Zeitgenossen die Stelle des Glaubens einnehmen und das Heil der Menschheit hier auf Erden sehen, in einer fernen Zukunft, in einer noch zu schaffenden Sozialordnung“.

Die Ideologie spielt hier natürlich eine vorrangige Rolle. Mehrere Beobachter der totalitären Systeme, wie Alain Besançon, Michel Heller oder François Furet, haben sie übrigens als „ideokratische“ Systeme beschrieben. Diese Bezeichnung paßt vor allem auf das sowjetische System. Der Totalitarismus ist jedoch nicht allein schon deswegen totalitär, weil er sich auf eine Ideologie bezieht - entgegen der Ansicht der liberalen Autoren, die sich einbilden, von einem nicht-ideologischen Ort aus zu sprechen. Alle Menschengesellschaften, sofern sie eine bestimmte Weltanschauung konkretisieren, besitzen nämlich eine ideologische Legitimationsbasis, mag diese offen ausgesprochen oder verinnerlicht sein. Eigentlich spielt auch der Inhalt der Ideologie nicht die Hauptrolle in den totalitären Systemen. Es ist vielmehr die Art, wie dieser Inhalt bewußt als Wahrheitssystem aufgestellt, offiziell vertreten und jeglicher Form von Diskussion entzogen wird. Montesquieu sagte, daß jedes politische System ein Wesen („was es als solches macht“) und ein Prinzip („was es zum Handeln bringt“) besitzt. Eines der Merkmale des Totalitarismus ist, daß sein Wesen und sein Prinzip eins sind, eben weil sie einer „totalen“ Ideologie untergeordnet sind, die „aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit (...) alles weitere deduziert“. Ähnlich wie die religiösen Lehren stellt sich diese Ideologie als eine im wesentlichen dogmatische Struktur dar, die absolute Gewißheiten trägt, den anderen Lehrmeinungen die Rolle des falschen Bewußtseins oder der Mystifizierung (Täuschung) zuweist, mit dem Ziel, die Realität dessen, was eigentlich auf dem Spiel steht, zu verschleiern. Als solche spielt sie sich als oberste Wissenschaft der Geschichte oder den Lebens auf, und ihre Grundbegriffe und -prinzipien werden zu allgemeinen Wahrheiten.

Zu den eindeutigsten ‚religiösen‘ Merkmalen der totalitären Systeme gehören die dualistische Weltanschauung, das messianische Warten und der grenzenlose Wille, eine noch nie dagewesene Gesellschaft zu errichten. „Was ist unter ‚messianischem Gefühl‘ zu verstehen?“ fragt D.C.Rapport. „Es ist das Gefühl, daß eines Tages die Geschichte und das Leben auf dieser Erde völlig und unumkehrbar verändert sein werden - vom Stadium des ständigen Kampfes, den wir alle erfahren haben, übergehend zu dem der vollkommenen, von vielen erträumten Harmonie, in dem es weder Krankheiten noch Tränen geben wird, in dem wir von jeglicher Regel völlig befreit sein werden, die Voraussetzung für eine vollkommene Freiheit.“

Die dualistische Auffassung besteht darin, die Welt in Form einer radikalen Teilung zu denken: wir und die anderen, die Kräfte des Guten und die Kräfte des Bösen. Die Welt wird nun ausschließlich in Freunde und Feinde eingeteilt, ohne daß irgendein dritter Standpunkt möglich ist. „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich“, ist bereits im Evangelium des Matthäus (12,30) zu lesen. Bei Lenin wird aus diesem Grundsatz: „Entweder die bürgerliche oder die sozialistische Ideologie. Es gibt keinen Mittelweg.“ Im Zusammenhang mit dem Stalinismus sprach Kolakowski deshalb vom „Schema der einzigen Alternative“, Alain Finkielkraut von einer „radikalen Simplifizierung, die einen unerbittlichen Determinismus mit einem entfesselten Moralismus verbindet“.

Diese Auffassung von einer zweigeteilten Welt entspricht im Kommunismus der Konfrontatioen zwischen Proletariat und Ausbeuterklassen, im Nationalsozialismus der zwischen Deutschen (bzw. den Ariern) und den Juden, wobei dieser Gegensatz offenbar dem zwischen Christen und satanischem Antichrist nachgebildet ist. In beiden Fällen stellt die Partei die Quintessenz des guten Prinzips dar, weil sie sich mit dem (sozial oder rassenmäßig) gesündesten Teil des Volkes identifiziert (dem „auserwählten“ Teil, der eine historische und metaphysische Mission zu erfüllen hat, sofern er ein höheres Rassenbewußtsein hat oder die Avantgarde des Proletariats darstellt) und weil sie als solche vorwegnimmt, wie das Volk der gesamten Zukunft sein wird. Ihm fällt es also zu, mit allen Mitteln den Kampf gegen das schlechte Prinzip zu führen. Die Politik wird auf diese Weise zu einem Religionskrieg apokalyptischen Charakters gegen die Kräfte des Bösen. In beiden Fällen stehen wir einer Theorie gegenüber, die „eine Heilslehre zugunsten einer auserwählten Gemeinschaft - der deutschen Rasse oder dem Weltproletariat“ (Philippe Burin) - formuliert.

Auch in beiden Fällen wird dieser universale Kampf von einer Weltanschauung legitimiert, die auf einer Metaphysik der Subjektivität gründet, die wiederum als objektive historische Notwendigkeit verkleidet wird. Hitler versichert, daß der Kampf, den der Arier, „dieser Prometheus der Menschheit“, führt, mit „den ewigen Naturgesetzen“ übereinstimmt, die aus der Sicht des Sozialdarwinismus als Kampf aller gegen alle gedeutet werden. Der universale Kampf führt die Auslese der Besten herbei und erfüllt somit den „Willen der Natur, die das Niveau der Lebewesen zu heben neigt“. Die Umkehr-Behauptung folgt auf dem Fuße: Wenn die Besten zwangsläufig obsiegen, dann ist die Herrschaft der Stärkeren folgerichtig, das heißt, sie erfolgt im Sinne der Geschichte. So behauptet Lenin auch, daß das Aufkommen des Kommunismus mit der historischen Notwendigkeit übereinstimme, die als ständiger Fortschritt gedeutet wird. In beiden Fällen bildet die Geschichte das oberste Gericht, das die Richtigkeit der Theorie zu überprüfen ermöglicht. Der Kampf hat den Wert eines auslesenden Prinzips, das denjenigen siegen hilft, die sich im Wahren befinden: Wer gewinnt, beweist auf diesem Weg, daß er recht hat. Hier klingt der moderne Historizismus an, eine weltliche Version des Glaubens an eine linear verlaufende, auf das Reich Gottes hin ausgerichtete Geschichte. Die Klasse ebenso wie die Rasse wird zu einem singularen Subjekt, zu einem Singularetantum substantiviert, das den Sinn der Geschichte in sich trägt und rechtlich ebensowenig geteilt werden kann, wie seine Identität Probleme hervorrufen soll. Paradoxerweise ist der Voluntarismus also verbunden mit dem Glauben an ein absolutes Gesetz, das nicht Ergebnis der Deutung der Menschen ist, sondern sich ihnen vielmehr aufzwingt - das Gesetz des Geschichte oder das des Lebens. Dieses Gesetz grenzt die Willensfreiheit einschneidend ab und unterwirft alle Fragen bezüglich der Freiheit den gleichen Aporien wie die klassischen Formen des Determinismus oder der Prädestination. Über allen und allem errichtet, hat dieses „Gesetz der Bewegung einer übermenschlichen Kraft, der Natur oder der Geschichte“ zur Folge, daß die positiven Gesetze (die nur akzeptiert werden, wenn sie mit ihm übereinstimmen) jegliche Gültigkeit verlieren und daß die Kriterien des Erlaubten und des Verbotenen gesprengt werden. Dieses Gesetz ist die wesentliche Quelle jener Wahnvorstellung von Transparenz und totaler Beherrschung, die die Totalitarismen kennzeichnet.

Sofern sie einen quasi-ontologischen Einschnitt in der Geschichte der Menschheit anstreben, treiben die Totalitarismen auch die Leidenschaft für das Neue auf die Spitze. Sie behaupten, noch nie dagewesene Gesellschaften entstehen zu lassen: „neues Reich“, „neuer Mensch“, „neue Ära“ sind solche Formeln, die eine absolute Grenze zwischen dem Vorher und dem Nachher ziehen; das Novum liegt in dem Vorhaben, ein oberstes Kollektivziel zweckgerichtet zu planen. Nach Giovanni Gentile, der bereits 1898 das „westlich-metaphysische“ Wesen des Marxismus beleuchtet hatte, hat auch Ernst Bloch die Rolle des Strebens nach dem „ganz Anderen“ im Kommunismus als profaner Form des Paradieses auf Erden aufgezeigt: Der Wille, mit der Vergangenheit tabula rasa zu machen, zeugt von einem Willen zum totalen Bruch, der allein eine ganz neue, von einem neuen Menschen regierte Welt hervorzubringen vermag. „Im Nationalsozialismus und im Kommunismus“, unterstreicht Alain Besançon, „geht es darum, durch Ausrottung des Bösen eine vollkommene Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen.“ Es herrscht eine zweifache Versessenheit: auf das Abschließen eines endgültig abgelaufenen Zeitalters und gleichzeitig auf das Eröffnen einer völlig neuen Ära.

Hierin ist der Totalitarismus der unmittelbare Erbe der Moderne, die von Anfang an als tabula rasa auftrat, das heißt als grundsätzliche Ablehnung und Wegwerfen all dessen, was zuvor als erhaltens- und vermittelnswert angesehen wurde. Die implizite Parole der Moderne lautet, daß man die „Grenzen des Möglichen“ (Arendt) unaufhörlich erforschen müsse, in der Meinung, daß alles, was möglich ist, auch wünschenswert sei. Dieser Parole entspricht jener „unbegrenzten Expansion“, die Hannah Arendt eben zum Telos der Moderne erhebt, oder der profanen Anwendung dessen, was Heidegger den „Begriff der Unendlichkeit“ nennt. Sie bedingt eine Infragestellung des Begriffs „Grenze“ selbst, die unendlich zu verschieben der menschliche Wille oder der „Fortschritt“ aufgerufen ist. Definitionsmäßig ist der Totalitarismus das System, das keine Grenzen kennt und nach der totalen Mobilisierung der Menschen und der Welt trachtet; das System, das die Ausforschung und Zur-Vernunft-Bringung der gesamten Welt anstrebt; diese Totalität der Welt entfaltet er als solche in einer „massiven Macht der Requisition“ (Jean-Luc Nancy und Jean-Christophe Bailly). Er ist das System, das nicht nur glaubt, daß alles möglich ist (weil sein Wille grenzenlos ist), sondern auch, daß alles erlaubt ist (weil es die absolute Wahrheit verkörpert).

Diese totale Mobilisierung ist von einem Streben nach Vereinheitlichung nicht zu trennen. Der Totalitarismus versucht vor allen Dingen, die menschliche Vielfalt zugunsten eines Einheitsmodells zu verringern. Er bringt damit eine Pervertierung des Einheitsprinzips zum Ausdrucks, die in der Beseitigung seines Gegenparts, der Vielfalt, auf der Grundlage eines politischen Bezugs auf die Universalität besteht. In diesem Sinne offenbart er wohl eine Ablehnung „der Ambivalenz der Welt“, einen ungeheuren Versuch, alle menschlichen Bedeutungen zu vereinheitlichen, die Distanz zwischen der Mannigfaltigkeit des Wirklichen und der Einheit des Begriffs abzuschaffen, diese Einheit um jeden Preis hier und jetzt zu errichten. Deshalb muß in den totalitären Regimen alles, was die Menschen voneinander unterscheidet, alles, was zwischen den Menschen und der Macht im Wege steht, beseitigt werden - und das ist um so leichter möglich, als „bei vorhandener Homogenität die Einheit als solche ganz und gar vernachlässigbar ist: Die Subtrahierung einer Einheit oder irgendeiner Zahl von Einheiten von der Gesamtheit beeinträchtigt in keiner Weise die Gesamtheit als solche.“ (Claude Polin, L’esprit totalitaire).

Diese Sicht geht natürlich mit der Vorstellung von einem Ende der Geschichte einher, das heißt von einem Endstadium der Geschichte der Menschheit, das eventuell - zu rhetorischen Zwecken - mit einer „neuen Geschichte“ gleichgesetzt wird, der aber sämtliche Merkmale der historischen Existenz entzogen sind. Doch diese Vorstellung wird aus einer zugleich voluntaristischen und dialektischen Sicht betrachtet. Zum einen wird dieser Prozeß nicht als selbsterfolgend angesehen: Der Mensch muß sich vielmehr aktiv an ihm beteiligen, um dessen Abschluß zu beschleunigen. Zum anderen kann man den durch das Ausbleiben von Spannungen und Kriegen gekennzeichneten Endzustand nur durch die Verstärkung der Spannungen und der Entfachung eines absoluten Krieges erreichen. Die Phase der Antagonismen und Gegensätze zu überwinden setzt also zunächst deren Aufreizung voraus. Das ist das Thema des „Endkampfs“, geführt von einer geschlossenen Minderheit innerhalb der Einheitspartei, die über die Beseitigung des Hauptwiderspruchs darauf hinzielt, die Geschichte zu ihrem Abschluß zu bringen. Die totalitären Regime sind Regime, die durch eine radikale Beschleunigung der Geschichte der historischen Existenz ein Ende setzen wollen.

Die totalitären Systeme können in diesem Sinne nie „rechts“ sein, daß jede Politik von „rechts“ vor allem durch Vorsicht gekennzeichnet ist: Sie setzt die Verfolgung von Zielen voraus, die nur begrenzt sein können. Sie kann sich wohl auf eine Ideologie oder Lehre stützen, die Ergebnisse werden aber nie als von vornherein erzielt angesehen. Sie berücksichtigt die menschliche Natur, und dies verbietet zu denken, alles sei möglich. Bei ihr wird die Zukunft niemals so angesehen, als bedingte sie einen absoluten Bruch mit der Vergangenheit. Die Achtung vor der menschlichen Verschiedenheit bildet dort - zusammen mit dem, was sie unter „Relativität“, unter Bezogenheit auf den jeweiligen Kontext versteht - eine allgemeine Regel. Dagegen definieren sich die autoritären Systeme von vornherein im Absoluten. Sie lehnen die Politik als Vorsicht ab und fassen sie sowohl als Wissenschaft wie auch als Glaubensersatz auf, der bei sämtlichen menschlichen Angelegenheiten im Besitz der allerletzten Wahrheit sei.

 

Alain de Benoist ist Journalist und Theoretiker der Nouvelle Droite in Paris. Der hier abgedruckte Text stammt aus dem im Oktober in der Edition JUNGE FREIHEIT erscheinenden Buch „Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus - die andere Moderne. 1917-1989“


 
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