© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Pankraz,
N. Frischlin und das verpaßte Nationaltheater

Zu den feinsten Adressen der Frankfurter Buch messe gehört der Stuttgarter Verlag frommann-holz-boog, der diesmal eine köstliche Edition mit den Dramen von Nicodemus Frischlin ankündigt. Beim Blättern und Lesen in den Vorausbänden kommt man ins Schwärmen. Nicodemus Frischlin - hätte das nicht der deutsche Shakespeare werden können? Was für eine Sprachgewalt, was für ein dramaturgisches Genie! Wie mutig der Mann, wie politisch klarsichtig, welch unendlicher Humor!

Es war die Spätlutherzeit, in der Frischlin schrieb, die Zeit, in der sich gelehrte Renaissance und entfesselte Kraftmeierei (der sogenannte „Grobianismus“) aufs Farbigste vermischten. Da ist etwa Frischlins Stück „Julius redivivus“: Cäsar und Cicero sind aus der Unterwelt emporgestiegen und ausgerechnet in Deutschland gelandet. Nun wundern sie sich, was aus dem alten Germanien geworden ist, bestaunen die Pracht seiner Städte, begeistern sich, komisch-supermilitärisch, an der „deutschen Erfindung“ des Schießpulvers.

Oder da ist das Reformationsstück „Phasma“. Neben Luther treten Karlstadt und Thomas Münzer auf, Zwingli, die halbverrückten Täufer, der schlesische Mystiker Schwenkfeld. Aber auch das einfache Volk spielt mit, ist keineswegs nur Chor und Staffage, sondern heißester Akteur und deftigster Redekünstler. Ein geradezu aristophanischer Witz entfaltet sich - und schlägt um in blutigen Ernst und hochmoralischen Ingrimm. Genau wie bei Shakespeare wird die elaborierte Haupthandlung immer wieder schneidend kontrastiert durch derb-realistische Nebenhandlungen.

M an faßt sich an den Kopf: Wie konnte so etwas von den Theaterleitern und Dramaturgen jahrhundertelang mißachtet und ungespielt in die Ecke geworfen werden? Bis man sich dann erinnert: Ach, die ganze Herrlichkeit ist ja aus zweiter Hand! Es sind Übersetzungen aus dem Lateinischen (im Jahre 2001 getätigt von Christoph Jungk, Lothar Mundt, David Price). Nico Frischlin, der Beinahe-Shakespeare aus Erzingen im Schwäbischen (1547 bis 1590), schrieb alle seine Dramen, bis auf eines, in lateinisch.

Das eine deutsche, „Fraw Wendelgard“, ist zwar nicht schlecht, reicht jedoch lange nicht an „Phasma“ oder „Julius redivivus“ heran, es ist ein Gesellenstück, vergleichbar dem Shakespearschen „Titus Andronicus“. Wahrscheinlich war Frischlin auf dem Weg zum Deutschschreiben, aber bevor er dort ankam, zerschellte er auf den Felsen der Feste Hohenurach, wo er vom württembergischen Herzog auf Veranlassung von dessen Räten gefangengehalten wurde und von wo er auf abenteuerliche Weise zu fliehen versuchte.

Frischlin war ein Renaissancemensch durch und durch, grundgelehrt und lebensdurstig, kalt kalkulierend und dennoch ständig in Ekstase, vielseitig, gewandt, leidenschaftlich an Politik interessiert, vaterländisch entflammt und dennoch die Schwächen der Deutschen hyperscharf durchschauend und sich über sie lustig machend, eine Gestalt wie Ulrich von Hutten, nur zusätzlich mit dem Talent zum Stückeschreiben begabt. David Strauß hat ihn im neunzehnten Jahrhundert gut porträtiert.

Mit einundzwanzig war er schon Professor für Poesie, Philologie und Theologie in Tübingen, wurde zum Liebling der Höfe und Senate, ging bei Herzog Ludwig von Württemberg ein und aus. Kaiser Ferdinand krönte ihn in Prag zum poeta laureatus, so wie einst Petrarca auf dem römischen Kapitol zum Dichter gekrönt worden war. Die Lateinlehrer sagen, daß Frischlins Stil „eine wahre Wonne“ sei, biegsam und kraftvoll, an Vergil und Horaz und Seneca geschult, nicht zu vergleichen mit dem berüchtigten „Küchenlatein“ des Mittelalters, gegen das Frischlin denn auch viele hinreißende Attacken geritten hat.

W as ihm schnell zu schaffen machte, war sein überschäumendes polemisches Temperament, sein unbezähmbarer Hang zur frechen, aber präzisen, stets voll treffenden Kritik. Ihn hatte sein Zeitgenosse Heinrich Bebel im Blick, als er die berühmte Fazetie von dem fahrenden Scholaren schrieb, der überall rausfliegt, weil er es nicht lassen kann, den Leuten die Wahrheit zu sagen. Besonders die württembergischen Räte von der lutherischen Orthodoxie hat Frischlin bis zur Weißglut gereizt. Schließlich erwirkten sie einen Haftbefehl gegen ihn, die Stadt Mainz, in deren Mauern sich der Gesuchte gerade aufhielt, lieferte ihn an Württemberg aus, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Pankraz ist sich fast sicher: Wenn Frischlin nicht auf der Feste Hohenurach zu Tode gestürzt wäre, er wäre ein großer deutsch schreibender Bühnenautor geworden, und unser Nationaltheater hätte sich nicht auf den Engländer Shakespeare als seinen Urvater begründen müssen. Frischlin war mindestens so gelehrt wie der Stratforder und wahrscheinlich beinahe so erdverbunden, vollplastisch und volksnah wie dieser. Natürlich fehlte ihm die Bühnenerfahrung, aber die mußte sich Shakespeare auch erst in langen Jahren erwerben: seine großen Dramen schrieb er auch erst als reifer Dreißiger bzw. Vierziger.

Die Tragödie Frischlins und der deutschen Nationalliteratur liegt im Lateinischen. Alle großen Sprachgeister Deutschlands im entscheidenden sechzehnten Jahrhundert ( und was für prächtige, fruchtbringende Gestalten waren darunter!) schrieben lateinisch und kapselten sich dadurch - im Gegensatz zu Shakespeare - von der Volkssprache, der lingua volgare, ab. Und Luther, der größte von ihnen und der, der nun wirklich deutsch schrieb, war eben in erster Linie Theologe und blieb dadurch den eigentlichen Literaten fremd, bei aller Bedeutung, die die Religion damals hatte.

In Frischlins „Phasma“ ist die tragische Spannung gut zu erkennen. Den Autor, einen treuen Lutheraner, ließen die ewigen theologischen Kontroversen und Haarspaltereien im Grunde dennoch kalt - und so blieb er denn bis zum frühen Tod bei Vergil, statt auch in der Sprache mit fliegenden Fahnen zu Luther überzugehen.


 
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