© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Sehnsucht nach der Sorge
Florian Illies und Michel Houellebecq: Zwei, die auszogen, der Spaßgesellschaft den Spaß zu nehmen
Silke Lührmann

W o bleiben die Neu-Achtundsechziger, deren Stun de doch längst geschlagen hätte? Statt dessen hat die „Generation Golf“ nur Lauduscher wie ihren Designer Florian Illies (Jahrgang 1971) zu bieten, der in seiner jüngst erschienenen „Anleitung zum Unschuldigsein“ über das lästige Mülltrennen jammert und daß er kein schlechtes Gewissen mehr haben will, weil er kein schlechtes Gewissen hat. Oder dessen älteren Stiefbruder, jenen homme houellebecquien, wie ihn Le Figaro skizziert: „ein einsamer und misanthropischer Mensch, der sich nicht von der Welt abgewandt hat, um das Glück zu finden, sondern ihr mit ironischem und desillusioniertem Blick gegenübertritt.“

Den bemerkenswertesten Effekt seines „Übungsbuchs für ein schlechtes Gewissen“ hat Illies wohl gar nicht beabsichtigt: das schlechte Gewissen des Lesers, der seine 236 Seiten lange Litanei wider die politische Korrektheit mit ihrem Register von „Abfallwirtschaftsproseminar“ bis „Zigeunermutter“ mehr lächerlich als witzig findet. So tröstlich es sein mag zu erfahren, daß auch andere Leute ihre Post stapelweise ignorieren, zu viel Geld bei H&M ausgeben, die Steuerunterlagen „unter dem Bett in zwei großen Kartons“ und „wichtige Schriftstücke“ auf einem „Papierstapel neben dem Sofa“ verwahren, so schnell verliert Illies’ kokette Reumut ihren Unterhaltungswert. Daß das „Bedürfnis der Taxinutzer, mit den Taxifahrern ein Gespräch darüber zu führen, warum es dem einen so gut geht, daß er sich ein Taxi nehmen kann, und dem anderen so schlecht, daß er Taxi fahren muß ... nicht sehr groß“ ist, klingt amüsant nur aus Sicht derjenigen, die sich leisten können, nicht schon wegen des für die Taxifahrt verschwendeten Geldes Schuldgefühle zu bekommen. Ob die alberne „Problemzonengymnastik für den Kopf“, deren Übungen jedes Kapitel beschließen, geeignet ist, sich das schlechte Gewissen an- oder abzutrainieren, bleibt jedem nach Belieben selbst überlassen: „Heute gehen wir in das feinste italienische Restaurant der Stadt, ziehen uns Bundeswehrkleidung an, stellen uns mit unserer Familie vor das Buffet mit den gemischten Vorspeisen und singen die drei Strophen des Deutschlandliedes.“

Der Nerv, den der Feuilleton-Redakteur der „Berliner Seiten“ der FAZ trifft, zwingt durch die Lektüre, um auf den letzten Seiten schmerzhaft zu zwicken: In Wirklichkeit sehnen wir uns sowohl nach „Gut“ und „Böse“ wie nach echten Existenznöten anstelle der Frage, wie „anstrengend“ klingelnde Handys im Kino sind. „Wie gut, daß wir offenbar keine anderen Sorgen haben“, seufzt Illies beschämt.

In ihrer vorletzten Ausgabe entwarf die Zeitschrift Literaturen mit Hilfe älterer und jüngerer zeitgenössischer Autoren das Zerrbild einer wehleidigen und verzogenen „Generation Kind“, die den fiesen (ideologischen wie kommerziellen - als ob das am „Ende der Geschichte“ einen Unterschied machte) Propagandafeldzügen der letzten Jahrzehnte voll auf den Leim gegangen ist und jetzt glaubt, einen Anspruch auf ewige Jugend einklagen zu dürfen. Ihre Unfähigkeit, den eigenen sorglosen Lebensstil auch zu genießen, schiebt sie den Eltern in die - längst abgelegten - Plateau- oder Turnschuhe und dünkt sich dazu verdammt, ihre Kindheit bis zum Erbrechen literarisch wiederzukäuen. Wer sich zu erinnern glaubt, vom Vater mißhandelt worden zu sein, trägt das stolz zu Markte; aber notfalls lassen sich auch unterlassene Züchtigungen unter den Schlagworten „Permissivität“ und „Orientierungslosigkeit“ als Mißbrauch verkaufen.

Was passiert, wenn so einer die Hinterlassenschaft des Vaters antritt, dieses „alten Saukerls“, der sich „gut durchgejubelt hat“, wie der Sohn ihm noch am Sarg bescheinigt, erzählt „Plateforme“, der Skandal der aktuellen Pariser Literatursaison. Michel Houellebecq weitet seine Kampfzone immer mehr aus. Bislang ärgerte der französische Schriftsteller mit seiner moralintriefenden Feder hauptsächlich den „befriedeten Sozialismus“, die unvermeidlichen - wenn nicht unverwüstlichen - Alt-Achtundsechziger. Seine neueste Tirade zielt mitten ins Mark der Gesellschaft: auf die treuen Staats- und Wirtschaftsdiener, die zur Belohnung einmal im Jahr auf der anderen Seite der Erdkugel nach Herzens und anderer Organe Lust die Sau rauslassen möchten - jenen inneren Schweinehund, der danach geifert, exotische Weiblein und Männlein und Männweiblein (die berüchtigten thailändischen ladyboys) zu vernaschen. Denn dem Westen ist es gelungen, die Liebe aus dem Alltag zweck- und wegzurationalisieren, und den mickrigen Überrest an zwischenmenschlichem Vertrauen hat der Feminismus zunichte gemacht.

Ähnlich ergreifend weiß Illies „die verheerenden psychischen Schäden bei der ersten Generation von Männern, die mit dem streberhaften Lesen von Frauenzeitschriften groß geworden sind“ zu veranschaulichen: „Wer sich so lange gefragt hat, ob er Kerzen anzünden und sich vor dem Schlafengehen duschen darf, ohne daß dies als sexuelle Nötigung gewertet wird, der wird sich auch dann, wenn man gemeinsam unter der Decke liegt, bemühen, möglichst nicht zielorientiert, sondern ergebnisoffen zu streicheln.“ (Und welche Leserin wäre so abgeklärt, an dieser Stelle nicht in sich zu gehen und sofortige Besserung in der eigenen Partnerschaft zu geloben!)

Daß Sextourismus ein Übel ist, darüber sind sich nur diejenigen nicht einig, die - finanziell oder eben sexuell - von ihm profitieren. Solch breitem Konsens zum Trotz gelang es Houellebecq und seinem Verleger Raphael Sorin auch diesmal wieder, eine publizistische Lawine loszutreten. Nachdem sie Ende August einen Vorabdruck veröffentlicht hatte, mußte die renommierte Tageszeitung Le Monde Autor und Roman vor der Anschuldigung in Schutz nehmen, einen schlechten Status quo verharmlosen zu wollen. Tatsächlich könne es dem Schriftsteller doch nur darum gehen, der Welt einen kritischen - oder, wie Houellebecq selber sagt, einen „bestenfalls mitfühlenden“ - Spiegel vorzuhalten.

Der leidige Disput, ob Kunst Wirklichkeiten imitiere oder installiere, erübrigt sich bei Houellebecq genauso wie bei Illies. Wer so sehr mit dem Holzhammer schreibt, ist zu mehr als Mimesis - zur Reproduktion der Verhältnisse, statt sich von ihnen freizuschreiben - gar nicht fähig. Wieder - wie in seinem Debütroman „Die Elementarteilchen“ - heißt sein Antiheld Michel, ist Anfang vierzig und klagt sein Leid ohne jede Selbstironie. Die Räume, die diese traurigen Gestalten mehr bewohnen, als daß sie je zu Hause wären, lesen sich unangenehm vertraut: eine verwaltete Welt, gleichermaßen Warenhaus und Schrotthalde, deren Träume irgendwo auf der langen Strecke durch die Institutionen geblieben sind.

Dieser Michel beweist eine Eigeninitiative, die dem der „Elementarteilchen“ abging, und beschließt, das väterliche Erbe in fernen Ländern zu verprassen. Dort kennt die Frau nicht nur akrobatische Stellungen, sondern noch ihre Position in der natürlichen Ordnung der Dinge und schätzt sich glücklich, ihre Versorger (geduscht oder ungeduscht, Kerzen oder keine Kerzen) mit Zärtlichkeiten entlohnen zu dürfen - ein perfekter Tauschhandel, wie er im marktwirtschaftlichen Lehrbuch steht. Und weil die Nachfrage so immens, das Angebot so unterentwickelt, die Ressourcen so wenig ausgeschöpft sind, wittert Michel eine Geschäftsidee und macht sich mit einem einschlägigen Pauschalurlaubsprogramm namens „Aphrodite“ selbständig. Seine Partnerin ist die Französin Valérie, in der er wider Erwarten doch die Gefährtin seiner armen Seele und die Frau seines Lebens findet.

Statt sich über kostenloses product placement zu freuen, bezichtigt Philippe Gloaguen, Herausgeber der „Guide Routard“-Reihe, Houellebecq der Diffamierung. In der Tat kommen die Redakteure des Guide Routard, einst als alternativer Reiseführer zum etablierten Guide Bleu angepriesen, bei Houellebecq nicht gut weg - obwohl „humanitäre protestantische Vollidioten“ noch eine vergleichsweise harmlose Beschimpfung ist.

Wofür weder die Achtundsechziger noch die Feministinnen etwas können, daran ist der andere Buhmann des kulturpessimistischen Koordinatensystems schuld: der islamische Fundamentalismus. Äußerungen wie „Jedesmal, wenn ich höre, daß ein palästinensischer Terrorist oder ein palästinensisches Kind oder eine schwangere Frau im Gaza-Streifen erschossen worden ist, stoße ich einen Freudenschrei aus“ haben seit dem 11. September einen pikanteren und zugleich schaleren Beigeschmack gewonnen: Mancher mag sich sogar bei dem Gewissensbiß ertappen, ähnliches selbst schon einmal gedacht zu haben. Nur Houellebecq, der tut was und zeigt die Zivilcourage, es auch auszusprechen!

Auf den zweiten Blick erweist sich der Titel „Plateforme“ als überraschend resonant. Nicht nur daß Houellebecq als Stilist recht plattfüßig daherkommt, er benutzt die Literatur tatsächlich als Plattform, als Podium, ja als Kanzel, von der herab er die schlimme neue Welt ausruft - mag er das noch so sehr bestreiten. Denn Houellebecq selbst hält sich durchaus für einen begnadeten Erzähler. „Der Zeitgeist ist es, der mich zur Polemik hinzureißen sucht. Ich aber glaube, daß ich gut schreibe, und darauf kommt es mir in Wirklichkeit an.“ „Ideenromane“ zu schreiben, die lieber politische - oder zumindest philosophische - Manifeste wären, ist eine Unart, die in Frankreich spätestens seit der Aufklärung zum guten Ton gehört.

Der spektakuläre Erfolg der „Elementarteilchen“ machte es möglich: Aus der Welt, die er so häßlichschreibt, konnte Houellebecq sich mit Frau und Hund auf die Insel Bere vor der irischen Küste zurückziehen. Anders als im schicken Paris sind kauzige Gesellschaftsmuffel in Irland keine Spielverderber, sondern nationales Kulturerbe. Seinem Alter michel möchte er ein ähnliches Glück auch diesmal nicht gönnen. Der steht am Ende mit leeren Händen da und um die Erkenntnis elender, daß es die Liebe auch als wahre und nicht nur als Ware gibt.

Ärgerlich, daß sich solches Selbstmitleid besser verkauft als Bücher, die etwas zu sagen - vor allem: zu erzählen - haben. Aber deswegen brauchen die Autoren, die davon leben, sich als allerletzte zu schämen.

Florian Illies: Anleitung zum Unschuldigsein. Das Übungsbuch für ein schlechtes Gewissen. Argon-Verlag, Berlin 2001. 253 Seiten, 34 Mark

Michel Houellebecq: Plateforme. Flammarion, Paris 2001. 369 Seiten, 20 Euro


 
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