© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001


Lebenspraktische Behinderungen
Kino I: „Die Klavierspielerin“ von Michael Haneke basiert auf einem Roman von Elfriede Jelinek
Ellen Kositza

Erika Kohut ist Klavierlehrerin am Konservatorium in Wien. Der Ernst ihrer Aufgabe und ihre Autorität sind ihr in jeder Sekunde bewußt. Ihre Schüler mögen begabt sein, Künstler sind sie nicht. Deshalb ist Erika sehr streng mit ihnen. Ihre Stunden, bei ehrgeizigen Eltern hochbegehrt, gleichen Dressurakten, Demütigungen sind ihr didaktisches Mittel.

Nach dem Unterricht hat Erika nach Hause zu kommen, ihre Mutter erwartet das. Die beiden teilen ein Bett, und die Tochter ist der ganze Stolz und Lebensinhalt der älteren Kohut. Obwohl sich Erika der rigiden Kontrolle gelegentlich widersetzt und dann schlimme Auseinandersetzungen folgen, liebt sie ihre Mutter. Es ist eine schmerzhafte Symbiose, welche die wohl knapp Vierzigjährige, eigentlich aber alterslose Erika zu einer lebenspraktisch Behinderten macht. Nach außen hin kühl, gar eisig, führt ihr über Jahre gestauchtes und beschnittenes Innenleben sie auf geheime Abwege, läßt sie Pornokinos besuchen, an besamten Taschentüchern riechen.

Als der junge, lebenslustige Walter Klemmer (Benoit Magimel, der 1988 in „Das Leben ist ein langer ruhiger Fluß“ debütierte), angehender Ingenieur und hochbegabter Pianist, sich um Unterrichtsstunden bei Erika bewirbt, droht das starre Korsett aus überlegener Selbstbeherrschung und hochmütiger Unberührbarkeit zu platzen. Walter begehrt Erika. Das wird sie nicht zulassen können: Demütigung und Unterwerfung sind ein Weg, sich vor ungekannten Gefühlen zu retten. Ein Drama bahnt sich an im Drama des Lebens der Erika Kohut.

Literarische Vorlage der französisch-österreichischen Koproduktion ist Elfriede Jelineks autobiographisch gefärbter Roman von 1983. Eine Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Autorin fand nicht statt. Das gereicht dem Stück zweifellos zum Vorteil. Jelinek - die 1974 der Kommunistischen Partei Österreichs beitrat und in ihrer Schreibe beständig einen sich häufig in altbackenen Gemeinplätzen ausdrückenden Dauerklageton über Frauen- und Fremdenfeindlichkeit anstimmt und in den letzten zwei Jahren empört geifernd gegen die „rassistische“ Regierungskoalition agitiert - liefert in ihrem bekanntesten Buch Auslegung und Wertung gleich mit, verfährt moralisch. Haneke hält nach Selbstaussage „die Psychoanalyse für den Tod der Kunst“, dennoch bedient er sich freilich analytischer Modelle, da diese der Geschichte eben zugrunde liegen. Was bei Jelinek aber als Sozialtragödie kleinbürgerlich-repressives Milieu bloßlegen will, läßt Haneke als ideologiefreie Tragikomödie auferstehen, die statt mit moralischen durch künstlerische Mittel das Lachen gefrieren läßt.

Der brutale Geniestreich „Funny Games“ des Wahl-Österreichers Haneke hatte 1997 für Aufsehen gesorgt, wohingegen das letztjährige „Code unbekannt“ ein mittelmäßiges Intermezzo darstellte. Sein neuer Film wiederum erscheint als zur Vollendung abgerundetes Kunstwerk, professionell, genau gewogen in jeder Geste, hervorragend besetzt, kongenial vor allem Isabelle Huppert als Erika, brillant zwischen distanzierter Contenance und fast mädchenhaftem Trotz changierend.

Daß die Heimatregierung Hanekes die Meriten des Films nun ihrer Kulturpolitik zuschreiben will, stört den Regisseur gleichwohl - natürlich ist es unangenehm, sich von „Xenophoben, regierungsfähig geworden“ (Haneke), vereinnahmen zu lassen ...

Bei ihrer Präsentation im Rahmen der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes schlug „Die Klavierspielerin“ gewaltig ein. Neben der Auszeichnung mit dem Großen Preis der Jury erhielten sowohl Huppert als auch Magimel die „Goldene Palme“ für ihre phänomenale Darstellung. Zu Recht, man sah dieses Jahr keinen besseren Film.


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