© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/01 19. Oktober 2001

 
Ich bin geboren, also lebe ich
Popliteratur: Sibylle Berg ist in ihren „Herrengeschichten“ der Zündstoff ausgegangen
Ellen Kositza

Anekdotisch geschrieben, auf exgelesen, so funktioniert Popliteratur: in dem Wort verbirgt sich Pöbel ebenso wie poppen, womit Zielgruppe wie Themenspektrum knapp angerissen wären. Als dereinst die Dadaisten mit ihrer Zelebration der Botschaft ohne Inhalt an den Pfeilern bürgerlicher Hochkultur rüttelten, war das ein Angriff aus der intellektuellen Boheme heraus und auch nur innerhalb derer rezipierbar. Später, zu Zeiten von Pop-Art und Beatniks, manifestierte sich „Popkultur“ als provokanter Gegenpol zum althergebrachten Kunstbetrieb des Wahren, Guten und Schönen und stand für ein Aufbegehren gegen den Kanon des als überlebt Empfundenen.

Mit vollzogener Jahrtausendwende und zur Unkenntlichkeit aufgelöster Grenze zwischen ernster und unterhaltender Kunst ist „Pop“ - längst mehr Inhalt ohne Botschaft - beinahe Bedingung und Garant für Erfolg und Berühmtheit. Literatur, beansprucht sie Popularität und geldwerten Ruhm in der Jetzt-Generation, muß medientauglich sein und massenkompatibel. Dazu gehört, daß der Autor qua Image gleichberechtigt und gern im Gestus des „neuen Dandy“ oder als hippes „Girly“ neben seinen Text tritt und nur beides gemeinsam das Kunstprodukt ergibt. Öffentlichkeit, mitunter penetrante, ist unverzichtbar für das trendige Genre.

Zwangsläufig damit einher gehen eine Vermarktungsmaschinerie über T-Shirts und diverse Devotionalien, wie man es aus dem Musikbetrieb schon länger kennt, und eine Fankultur, die sich mit einem zurückgezogenen Künstlerdasein am Bodensee oder in der Uckermark nicht verträgt. Gängig ist der Internet-Chat, das lässige Plaudern via Tastatur und Monitor zwischen Autor und Publikum oder Post vom Künstler an die Anhängerschaft per E-Post-Verteiler.

Das Gewicht der Selbstdarstellung moderner Literaten zeigt sich auch in der Beliebtheit des Tagebuchs als Gattung mit sehr diesseitigem Inhalt (was habe ich heute gegessen, gekauft, wem beigeschlafen), ob von Else Buschheuer und Benjamin von Stuckrad-Barre ins Netz gestellt oder, dann ohne Fan-Echo und nur semi-Pop, von Helmut Krausser seit Jahren gedruckt präsentiert.

Wenn es, wie einst Diedrich Diederichsen jubelte, zum Kennzeichen des „Pop“ gehört, Klasse, Kultur und ethnische Herkunft zu überschreiten, gelangt man rasch zu den global gültigen Merkmalen des Lebendigen. Hierzu zählt zuvörderst die Vermehrung, nihilistisch gewendet der freilich resultatslose Paarungsvorgang allein. Womit man bei Sibylle Berg wäre.

Der Verkehr der Geschlechter, das alte Thema von des Mannes Wille und des Weibes Willigkeit, bildet ein Kernthema popliterarischer Schreibe im allgemeinen und bei Berg im besonderen. Der Diskurs der Vorgeneration über Sexualität als Machtfrage und strukturelles Problem findet hier seinen lebenspraktischen Niederschlag, und siehe, nichts hat sich geändert. Das wird nicht beklagt, braucht es auch nicht. „Ich bin geboren, also lebe ich“ (Berg) oder: „Die Welt war schlimm, aber sie erlagen ihrem Charme“ (Pop-Kollege Ingo Niermann).

Präsentiert wird, in schnöden Worten, das Leben von mir und dir, eine daily soap, zwischen Buchdeckel gepreßt, und analog zum leicht überdurchschnittlichen Aussehen der TV-Soap-Stars unterscheidet allenfalls ein leichtes Mehr an Geschlechtspartnern den Pop-Protagonisten von seinem Zielpublikum.

Was wiederum die Berg-Werke, als deren Glanzstück wohl ihr Erstling „Einige Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (1997, diesjährig bereits in siebter Auflage erschienen) gelten darf, mit ihren dahintreibenden Allerwelts-Triebtätern von den „Marienhof“- und „Verbotene Liebe“-Protagonisten trennt, ist der gelinde melancholische Duktus ihrer Figuren, das bisweilen Luzide ihrer Gedanken und die Lakonie, die über allem erklingt, weil die Leere in ihrem Leben, das Sinn-Vakuum, durch sexuelle Betätigung immer nur kurz und stets unzureichend aufgefüllt wird.

Den verzweifelten körperlichen Verschmelzungsversuchen unterlegt Berg die These einer grundsätzlichen Inkompatibilität männlichen und weiblichen Wollens: „Wenn ein Mann von Liebe spricht, dann meint er begehren, Geschlechtsverkehr und Orgasmus. Wenn eine Frau von Liebe spricht, dann meint sie Seele und verschmelzen, dann meint sie alt werden und anfassen ohne Ende und Symbiose.“

Als „Mutter der Popkultur“ will Sibylle Berg, kinderlos, nicht gelten, Ikone der Gattung ist sie wohl und ein Paradebeispiel. Attraktiv, scharfzüngig, öffentlich, medienwirksam also. Langmähnig blond und in lasziven Posen schmückt die Autorin, geboren in Weimar und heute Wahl-Schweizerin, gern höchstselbst die Titel ihrer Werke.

In ihrem neuen Buch „Das Unerfreuliche zuerst“ läßt Sibylle Berg, bekannt durch Reportagen (Egon-Erwin-Kisch-Preis-nominiert) und Popstar durch ihre Glossen in Zeit, Allegra, Stern, Focus usw. Männer sprechen: den Mann an sich, über sich, Gefühlslagen und Erektionen. Und dessen Trieb ist außerordentlich: „Er beherrscht mich seit Beginn meiner Geschlechtsreife. Ein Meister, dem ich mit Jawoll diene. Mein erster Intimkontakt war Fleisch geworden aus einer messerscharf am Down-Syndrom vorbeigeschlitterten Mitschülerin. Die leichte Krankheit machte sie für mich zum Prototyp der idealen Frau. Für Gespräche nicht relevant, weil die Gedanken zu sehr durchwoben von wirrem Gefühlszeug, das die Frauen nicht unter intellektueller Kontrolle haben. Nur warme Körper, die geschaffen sind, um einem Mann zu unterliegen. (...) Nun wird der eine oder andere denken: was für ein dummer Mann. Der leicht prähistorische Geruch meiner Äußerungen mag diesen Gedanken beim bloßen Darübersegeln nahelegen. Aber seien wir bitte ehrlich: Was hat sich am System Mensch geändert, seit - was weiß ich denn, seit wann es den Mensch gibt? Können Sie das beschwören?“

Wieder knirscht und eiert das Getriebe des Geschlechterkarussells, und am Ende bleibt die Frage, „ob es irgendwann nur noch Schwule gibt, weil sich keiner mehr dem Ärger zwischen Männern und Frauen für ein bißchen Geficke aussetzen mag.“

Das Buch ist schlecht, leider, und es ist sehr schlecht im Vergleich zu seinen Vorgängern „Einige Leute ...“ und „Amerika“. Dabei ist das Vorurteil allenthalben Bergs Jagdgrund. In den Urgründen von Klischees zu wühlen, um sie in unnachahmlicher Einsilbigkeit zu verifizieren, das ist Bergsches Metier. Genau dies aber gelingt in den „Herrengeschichten“ nur arg verwässert, nach Hunderten Kolumnen und mehreren Büchern im Kolumnen-Stil zum zwischenmenschlichen Aspekt der Rein-Raus-Thematik vermag der Zündstoff schlicht kein Feuer mehr zu fangen.

Daß nicht mal mehr die Liebe ein Geheimnis ist, daß es sich um Hormone dreht, einen biochemischen Vorgang, daß Leidenschaften austauschbar sind und Erlösung nicht stattfindet, all diese Erkenntnisse in tragikomische Biographieausschnitte eingebettet zu lesen, war zwei, drei Bücher lang passable Unterhaltung, die in der wiederholten Aufbereitung jedoch schal und abgedroschen wird. In ihren spermagesättigten „Herrengeschichten“ versucht sich Berg ins allzu Vulgär-Skurrile zu retten, es mißlingt.

Gar übertroffen wird die Autorin hierbei durch einen Gastbeitrag, den Rammstein-Sänger Till Lindemann liefern darf. Lindemann also als „Herr über Herren“, das geht fraglos martialisch-rammsteinesk zu, verletztes Fleisch, verletzliche Frauen, über allem der Pathos des Kaputten: „Sie war gut alleine / und dankbar / also alt / Im Sturm ist jeder Hafen gut knurrte mein Tierchen und / rasselte mit der Kette /ja/ doch / (...)“.

Einmal mehr das Tier im Manne also, das Bett in Flammen, danach: „Ekel weckte sagte guten Abend“, dem neuerlichen Erwerb einer Geschlechtskrankheit folgt ein Besuch der flennenden Freundin („ihren Arsch konnte man rahmen lassen“), die beim Fernsehen stört und den Geschlechtsverkehr verwehrt.

Der Mann, der „sein Problem unterm Gürtel trägt“; solches wirkt als ein Aufbäumen gegen das vielleicht als zermürbend empfundene biologische Sagt-man-so, demgemäß ein männlicher Hormonhaushalt nach bald vierzigjährigem Tohuwabohu zu einer zivilisationstauglichen Norm gefunden haben soll.

Popliteratur ist Dienstleistung auf dem Unterhaltungssektor, hat die Marktgesetze strikt zu befolgen, Pop ist jung, und Sibylle Berg wird vierzig nächstes Jahr, auch wenn sie das verschweigt und mittels halbanorektischer Selbstdarstellung, in Mädchenpose und Cargo-Hosen (Buchrückseite) zu vertuschen sucht. Das notwendig rasche Verfallsdatum poppiger Texte korrespondiert mit dem ihrer Autoren.

Mit 38 lebte Karla, eine von Bergs früheren Protagonistinnen, an der Grenze zur „Gruftgeneration“, und „alt gehört sich nicht“, alt riecht und ist peinlich, wenn nicht eklig. Pop ist an die Welt der Oberflächenreize gebunden, ein Fazit zu ziehen nicht erlaubt. Die derzeitige Vorleserunde durchs Land unternimmt Berg diesmal nicht mit Jungspund Stuckrad-Barre wie zuletzt, sie tourt mit Wiglaf Droste. Der ist beinahe ihr Generationskollege.

Sibylle Berg: Das Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten. Kiepenheuer&Witsch, Köln 2001, 17,90 Mark


 
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