© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/01 26. Oktober 2001

 
Auge um Auge
Die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten geht weiter
Michael Wiesberg

Die Ermordung des israelischen Ministers und erklärten Palästinenserfeindes Rehawam Zeevi hat im Nahen Osten eine neue Welle der Gewalt ausgelöst. Die israelische Armee rückte erneut in palästinensisches Autonomiegebiet ein. Israels Premier Scharon forderte die palästinensische Autonomieregierung auf, die Verantwortlichen für Zeevis Ermordung auszuliefern. Gleichzeitig drohte er den Palästinensern offen mit Krieg. In einer Erklärung des israelischen Sicherheitskabinetts hieß es, wenn Arafat den israelischen Forderungen, darunter auch ein Verbot militanter Organisationen, nicht nachkomme, werde Israel dessen Regierung als „den Terrorismus unterstützende Einrichtung“ einstufen und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Die Zeitung Maariv zitierte Scharon mit den Worten, wenn Arafat den Forderungen nicht binnen einer Woche nachgekommen sei, „werden wir gegen ihn in den Krieg ziehen“. Die Palästinenser reagierten kühl: „Wir nehmen keine Befehle von Scharon oder seiner Regierung entgegen“, entgegnete der palästinensische Informationsminister Yassir Abed Rabbo.

Israels Außenminister Peres hat die Äußerungen Scharons inzwischen zu relativieren versucht. Er erklärte, seine Regierung habe nicht vor, die Palästinenser-Regierung zu zerstören. Israel ziehe es vor, einen Gesprächspartner zu haben. Dennoch steht die Kriegsdrohung Scharons im Raum. Seiner Auffassung nach trägt Arafat die Alleinschuld an der Eskalation. Israel nehme nur sein Recht auf Selbstverteidigung gegen immer neuen Terror seitens der Palästinenser wahr. Doch die vom israelischen Militär umzingelten Palästinenserreservate produzieren nur eines: Haß auf Israel, der sich in terroristischen Anschlägen Luft verschafft. Israels Antwort ist alttestamentarischer Natur: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Die „westliche Wertegemeinschaft“ bietet dabei ein trauriges Bild. Denn geltendes Völkerrecht und UN-Beschlüsse reden eine eindeutige Sprache: Weder hat Israel das Recht, Siedlungen in den palästinensischen Autonomiegebieten zu errichten, noch hat es das Recht, diese willkürlich zu besetzen. Nur ein Beispiel: Drei Tage nach Beginn des Sechs-Tage-Krieges (1967) wurde das US-Spionageschiff „USS Liberty“ Zeuge eines israelischen Massakers: Israel hatte viele ägyptische Kriegsgefangene gemacht, aber keine Möglichkeit, diese unterzubringen oder zu bewachen. Deshalb ließen israelische Soldaten die Gefangenen antreten, eine Grube ausheben und erschossen diese. Etwa 1.000 wehrlose ägyptische Kriegsgefangene wurden niedergemetzelt. Diese Massaker geschahen im Verantwortungsbereich von Ariel Scharon. Dieser erklärte 1995 zur Frage der Aufarbeitung israelischer Kriegsverbrechen: „Israel braucht das nicht, und niemand kann uns deswegen Moral predigen - niemand.“

All das passierte in Reichweite amerikanischer Spionageohren. Israel reagierte auf die Abhöraktion auf eigene Art: Es erteilte den Befehl zum Angriff. Düsenjäger beschossen die „USS Liberty“ zunächst mit konventioneller Munition, dann auch mit Napalm. Fünfzehn israelische Flugzeuge beteiligten sich an dieser Aktion. Um zu verhindern, daß von dem schwer getroffenen amerikanischen Schiff auch nur ein Verwundeter entkam, zerstörten sie auch die Rettungsflöße. Der US-Journalist James Bamford hat über dieses in der Öffentlichkeit kaum bekannte Kapitel amerikanisch-israelischer Geschichte in seinem Buch „NSA“ berichtet. Ziel dieser Aktion sei es gewesen, die Beweise für die israelischen Massaker, die die „USS Liberty“ mutmaßlich aufgezeichnet hatte, zu vernichten: „Damit hätten Hunderten von hohen israelischen Offizieren schwere Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können. In der Tat hatte die ’Liberty‘ viele israelische Funksprüche aufgefangen.“

Bamford behauptet vor dem Hintergrund seiner Recherchen, daß die Aussage Israels, die „USS Liberty“ mit einem ägyptischen Schiff verwechselt zu haben, nicht wahr sein könne. Nach seinen Angaben hält die NSA belastendes Material gegen noch lebende israelische Politiker in Händen. Israelische Historiker wie Dan Diner oder Moshe Zimmermann, die sich gerne mit den angeblichen Verbrechen der deutschen Wehrmacht beschäftigen, hätten allen Grund, sich kritisch mit Israels Militärgeschichte zu beschäftigen. Dabei würde zutage treten, daß Israel im Sechs-Tage-Krieg einen Weltkrieg vom Zaun zu brechen versuchte. Den USA wurde im Frühjahr 1967 die Mär aufgetischt, Ägypten werde in Kürze gegen Israel losschlagen.

Der ehemalige israelische Ministerpräsident Menachem Begin hat 1982 zugegeben, daß es sich hierbei um eine Lüge gehandelt habe - eine Lüge, die furchtbare Konsequenzen hätte haben können. Denn wäre es Israel gelungen, die USA in einen Krieg mit Ägypten hineinzuziehen, wäre eine sowjetische Intervention nicht mehr zu vermeiden gewesen. Ein Atomkrieg wäre im Bereich des Möglichen gewesen.

Scharon steht zweifelsohne in der Tradition einer israelischen Politik, die die Eskalation als Mittel der Politik kalt in Kauf nimmt, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Er war es, der am 28. September 2000 den blutigen Konflikt mit den Palästinensern ausgelöst hat. Sein Besuch auf dem Platz, den die Moslems Haram-al-Sharif und die Juden Tempelberg nennen, war eine für die Palästinenser nicht hinnehmbare Provokation: eine Provokation, die Scharon ganz offensichtlich gesucht und gewollt hat, um das Palästinenserproblem auf seine Weise bereinigen zu können.


 
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